Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 41-42 / 04.10.2004
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Thorsten Wöhlert

Die Würfel fallen nicht in Nahost, sondern in Europa!

Gilles Kepels großes Buch über "Die neuen Kreuzzüge"

Nichts wird mehr so sein, wie es war. Der Satz fiel noch unter dem Eindruck der brennenden Twin Towers in New York und ist seitdem unzählige Male wiederholt worden. Er hat sich bewahrheitet und ist doch nicht die ganze Wahrheit, weil schon lange vor den Anschlägen nichts mehr so war, wie es schien. Deren Geschichte und Vorgeschichte sind seitdem oft und ausführlich dargestellt worden. Gilles Kepel, einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet des islamischen Fundamentalismus, fügt den zahlreichen Deutungen eine weitere hinzu, die so komplex, detailliert und faszinierend ist, dass es einiger Konzentration und zeitgeschichtlicher Kenntnisse bedarf, um nicht die Übersicht zu verlieren.

Kepel zeichnet nicht das Bild eines neuen, gefährlicheren Ost-West-Konfliktes, in dem sich "der Islam" und "der Westen" gegenüberstehen wie einst die Blöcke im Kalten Krieg. Er benennt und beschreibt jedoch Akteure auf beiden Seiten, deren politische Strategien auf genau dieser verhängnisvollen Weltsicht basieren und so verantwortlich sind für die Katastrophe des 11. Septembers und seine Folgen.

Dabei nimmt Kepel sich Zeit, die einzelnen Entwicklungslinien im Nahen Osten, in den USA und in Europa genau und differenziert darzustellen. Er beschreibt nicht nur politische Prozesse der vergangenen 20 Jahre in den drei Regionen. Mindestens ebenso wichtig sind dem Professor für politische Studien am Institut d?Etudes Politiques in Paris die jeweiligen Akteure, ihre oft widersprüchlichen politischen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und daraus resultierende taktische wie strategische Motive und Handlungsoptionen. Auch wirtschaftliche Interessen spielen eine Rolle. Das kann in der ölreichen Nahostregion gar nicht anders sein.

Um so markanter dagegen die historisch-analytischen Ausflüge in die religiöse und Geistesgeschichte der Protagonisten. Die fallen zum Teil so dezidiert aus und (ver?)führen den Leser zu ebenso überraschenden wie zwingend logischen Einsichten, dass selbst skeptische Geister nach anfänglicher Rebellion mangels faktengestützter Kritikfähigkeit schnell kapitulieren dürften. Dies gilt vor allem für ausführliche Passagen, die den religiösen und politischen Auseinandersetzung in der arabisch-islamischen Welt gewidmet sind und die die widersprüchliche Genesis jener Kräfte beschreiben, die nicht nur hierzulande allzu pauschal unter dem Label islamischer Fundamentalismus oder Islamismus firmieren. Allein deshalb sei dieses Buch allen kopftuchstreitenden Innenpolitikern empfohlen.

Botschaft und Kernthesen des Buches finden sich bereits im Vorwort. Gehalt und Plausibilität gewinnen sie jedoch erst, wenn man dem Autor durch das Vorwort zum Scheitern des Osloer Friedensprozess und die sich anschließenden sechs Kapitel folgt, die der neokonservativen Revolution in den USA, der Evolution des islamischen Dschihad und der besonderen Rolle Saudi-Arabiens vor und nach dem 11. September sowie dem ernüchternden Resümee des Anti-Terrorkrieges folgt.

Erst dann erschließt sich der Sinngehalt des Titels: Die neuen Kreuzzüge. Es sind, so Kepel, ihrer zwei mit Schauplatz in Nahost und Europa. Den einen führen amerikanische Neokonservative als unilateralen Kampf einer selbsterklärt wohlwollenden Hegemonialmacht um Sicherheit, Demokratie und Menschenrechte im Nahen Osten. Der andere geht von militanten Islamisten aus - als Kampf um die Herrschaft über Herzen und Hirne in der islamischen Welt, bei dem der Terror gegen den "äußeren Feind" nur einen "notwendigen" Nebenkriegsschauplatz bildet.

Faszinierend an der Darstellung ist, dass Kepel die jeweiligen Motive nicht nur scharf analysiert und gut beschreibt. Er nimmt sie ernst, denunziert nicht und zeigt zudem erstaunliche Parallelen auf, die nicht zuletzt in der moralisch diskreditierenden und (selbst-) zerstörerischen Wirkung beider Kreuzzüge liegen.

Gilles Kepel ist als Historiker, Politologe und Orientalist davor gefeit, auf exogene oder missionarische Konfliktlösung zu setzen. Um so erstaunlicher - und bedenkenswerter - seine soziologisch begründete Schlussthese. Für ihn findet die kulturelle Auseinandersetzung um die Zukunft des Islams in den muslimisch geprägten Vorstädten und Enklaven Europas statt. Hier - und nicht im Nahen Osten - entscheidet sich die Kontroverse um eine islamische Moderne, um die Trennung von Staat und Moschee. Das ist für den Alten Kontinent nicht nur eine religiöse, sondern auch eine soziale Herausforderung. Ex Okzidente Lux? Gilles Kepel ist nicht nur Orientalist, er ist auch Franzose. Ein spannendes Buch!

Gilles Kepel

Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des Westens.

Piper Verlag, München/Zürich 2004; 389 S., 22,90 Euro

Der Autor arbeitet als Journalist und Islamwissenschaftler in Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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