Die politischen Aktionen von Afghanistans Präsident Hamid Karsai beunruhigen seine früheren Verbündeten. Im Vorfeld der Präsidentenwahl am 9. Oktober tauscht Karsai Mitglieder der politischen Klasse immer schneller aus. Vor allem mit Vertretern der Tadschiken, des zweitgrößten Bevölkerungsteils im Lande, macht der Präsident kurzen Prozess und stellt sie kalt. Weshalb Junus Kanuni, einer der engsten Mitarbeiter des am 9. September 2001 ermordeten Generals Achmedschah Massud, seine Kandidatur für das Präsidentenamt anmeldete. 1995 war er von der Nordallianz zum Innenminister ernannt worden, ein Amt, das er bis Juni 2001 innehatte.
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Warum kandidieren Sie?
Junus Kanuni Ein Grund ist, dass die Erwartungen unseres Volkes an den Staat nicht erfüllt worden sind. Außerdem gibt es eine Dauerkrise und Gefahren, die unser Land bedrohen.
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Welche Ziele verfolgen Sie in Ihrem Wahlprogramm?
Junus Kanuni Ich habe das Konzept eines neuen, modernen Afghanistan entwickelt. Es umfasst sieben Pfeiler: Afghanistan soll sich als islamisches Land, unabhängig und frei, sicher, wohlhabend, fortschrittlich, rechtsstaatlich und solidarisch im Rahmen der Weltgemeinschaft entwickeln. Kurz, mein Ziel ist die Gründung eines demokratischen Staatswesens. Das bedeutet, dass die Sicherheit und die innenpolitische Entwicklung Afghanistans gewährleistet sein müssen. Dies setzt voraus, dass Waffen und Munition eingesammelt werden, und wir endlich einen kompromisslosen Kampf gegen den Terrorismus sowie den Anbau und den Handel mit Drogen beginnen. Auf der internationalen Ebene möchte ich, dass Afghanistan als ein gesundes Mitglied in der internationalen Gemeinschaft funktioniert.
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Die Taliban wollten ein islamisches Afghanistan…
Junus Kanuni Wir haben die Taliban bekämpft und besiegt. Wir sind gegen jede Art von religiösem Fundamentalismus und Radikalismus. Wir sind für einen moderaten islamischen Staat.
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Was verstehen Sie unter einem unabhängigen Afghanistan?
Junus Kanuni Es geht um die politische und militärische Unabhängigkeit als Voraussetzung für unsere nationale Souveränität und Einheit. Gleichzeitig wollen wir ein guter Freund im Rahmen der Weltgemeinschaft sein. Schließlich kann Afghanistan nicht als isolierte Insel in der Welt existieren. Die Sicherheit Afghanistans setzt gute, freundschaftliche Beziehungen mit der Weltgemeinschaft voraus.
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Wie wollen Sie Afghanistan stabilisieren?
Junus Kanuni Für die politische Stabilität des Landes haben wir eine neue Strategie formuliert. Dabei geht es zuerst um die Stärkung der Rolle des Parlaments. Außerdem wollen wir darauf hinwirken, dass die Feindschaften unter den einzelnen politischen Strömungen beseitigt werden und ein sicheres politisches Fundament geschaffen wird, das aus einflussreichen und bekannten Persönlichkeiten des Landes besteht. Dazu gehört auch, dass alle Volksgruppen auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit an der politischen Willensbildung mitwirken können. Außerdem brauchen wir eine starke Armee und Polizeikräfte, um unser Land nach außen und innen verteidigen zu können. Zusammen mit den internationalen Kräften sind wir bereits dabei, die Grundlagen für innere Sicherheit, Stabilität und den wirtschaftlichen Aufbau Afghanistans zu schaffen.
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Welche Kräfte stehen hinter Ihnen? Die frühere Nordallianz?
Junus Kanuni Für uns geht es nicht allein um die Macht und deren Ausübung. Auf dem Petersberg bei Bonn hatten wir die Macht inne. Wenn es allein um die Macht ginge, hätten wir den anderen Kräften keinen Anteil daran gegeben. Uns geht es vor allem um politische Partizipation. Die Nordallianz war an die Befreiung des Landes maßgeblich beteiligt, und wir hatten die meisten Opfer im jahrelangen Krieg gegen die Taliban zu beklagen. Einige haben vergessen, dass wir die Voraussetzungen für den Sieg über die Taliban und die Befreiung Afghanistans geschaffen haben. Wir wollen genauso an der Macht beteiligt werden wie alle anderen Schichten und ethnischen Kräfte. Nicht wir streben nach totalitärer Herrschaft über Afghanistan, das tun andere. Deswegen hat sich die Situation im Land nicht stabilisiert.
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Die Regierung hat keine Kontrolle über ganz Afghanistan. Wie gelingt es unter diesen Umständen, binnen weniger Monate fast zehn Millionen Wahlberechtigte zu registrieren?
Junus Kanuni Obwohl die Zentralregierung soviel Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft erfährt, ist es ihr innerhalb von drei Jahren nicht gelungen, ihre Macht im ganzen Land zu festigen. Ich habe tiefe Zweifel, dass tatsächlich 9,5 Millionen Wahlberechtigte registriert worden sind. Die tatsächliche Zahl ist meines Erachtens viel geringer. Die offizielle Zahl wurde zu Gunsten des favorisierten Kandidaten in die Welt gesetzt. Wir haben es also hier mit ersten Wahlfälschungen noch vor dem eigentlichen Wahltermin zu tun.
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Die Taliban und Al Qaida greifen die Wahllokale an. Wie stark sind sie noch in Afghanistan?
Junus Kanuni Ein Grund für das Scheitern der Zentralregierung in Kabul ist ihre Unfähigkeit, die Strukturen der Taliban und Al Qaidas zu zerstören. Sowohl das afghanische Volk als auch die Weltgemeinschaft haben erwartet, dass die Regierung die terroristischen Zentren im Land vernichtet. Das ist aber nicht passiert. Im Gegenteil: In diesem Jahr wurden sie nur noch stärker. Vor allem in der Zeit vor den Wahlen werden die Taliban und Al Qaida aktiv. Sie sind hervorragend organisiert. Das alles sind die Folgen der unseriösen Politik und der Untätigkeit der Regierung, die der Symbiose aus Taliban und Al Qaida hilflos gegenüber steht. Der Präsident ermutigt sie durch seine Politik geradezu.
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Wie bewerten Sie die Rolle der ISAF und des Bundeswehr-Einsatzes in Kundus und Faisabad?
Junus Kanuni Sehr positiv. Wir haben auf dem Petersberg diesem Einsatz zugestimmt. Leider werden diese Kräfte nicht zweckdienlich eingesetzt, so dass die Regierung davon nicht profitieren konnte. Wir sorgen dafür, dass die Bundeswehr im Norden, also in Kundus und in Faisabad, keine ernsthaften Schwierigkeiten hat. Dort gibt es zum Glück Al Qaida und die Taliban nicht. Es gibt dort andere kleine Gruppen, die Unruhe stiften. Die ernstzunehmenden und gut organisierten terroristischen Aktivitäten sind im Süden und Osten sowie in den Grenzgebieten Afghanistans zu beobachten.
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Sollten die internationalen Truppen vor der Wahl aufgestockt werden?
Junus Kanuni Die Rolle die ISAF ist insgesamt sehr fruchtbar, insbesondere wenn es gelingen würde, zwischen den Einheimischen und den ausländischen Truppen ein positives Verhältnis herzustellen. Dann könnten wir auch sichere Wahlen durchführen. Ohne eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nutzt die Truppenpräsenz wenig, selbst wenn mehr Soldaten ins Land kämen. Verschärft wir die Lage dadurch, dass die Regierung Schwächen gegenüber den Taliban zeigt, so dass die unsichere Lage im Lande bestehten bleibt.
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Wird die Wahl fair verlaufen?
Junus Kanuni Bei dieser Wahl handelt es sich um die erste demokratische Erfahrung in Afghanistan. Mit Sicherheit wird es zu großen Mängeln kommen. Die 17 Gegenkandidaten gegen den amtierenden und favorisierten Kandidaten haben bereits ernsthafte Zweifel an der korrekten Durchführung der Wahl geäußert. Soweit wir es beobachten können, verläuft die aktuell durchgeführte Registrierung weder transparent noch gerecht oder frei. Der Amtsinhaber missbraucht alle staatlichen Mittel zu seinen Gunsten. Die von der Regierung ernannte Zentrale Wahlkommission ist nicht unabhängig. Sie arbeitet allein für den favorisierten Kandidaten. Wir stellen die Rechtmäßigkeit dieser Wahl ernsthaft in Frage.
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Haben Sie Beweise?
Junus Kanuni Leider findet keine internationale Langzeitbeobachtung des Wahlprozesses statt. Schließlich ist es nicht ungefährlich, sich in weiten Teilen Afghanistans zu bewegen. Die Fälschungen sind vor allem bei den in Pakistan und Iran lebenden Flüchtlingen zu beobachten. In einem Fall wurden 800 Leute registriert, ohne dass sie sich ausweisen mussten. Das beunruhigt die anderen Präsidentschaftskandidaten wie auch die Bevölkerung. Wir wollen eine gerechte, freie und transparente Wahl. Das erwartet im Übrigen auch die Weltgemeinschaft von uns.
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Präsident Karsai sagte, die Warlords seien schlimmer als die Taliban. Was halten Sie davon?
Junus Kanuni Wenn der Präsident Afghanistans sagt, die Taliban stellten keine Gefahr dar, sondern die Warlords, dann bedeutet das faktisch eine Ermutigung für die Taliban. Der Begriff Warlord wird in Afghanistan ganz anders verwendet als im Ausland. Leider wird dieser Begriff von der Regierung für die politischen Rivalen des Präsidenten verwendet, um sie einzuschüchtern und im Ausland zu diskreditieren. Wir sind gegen Warlords, haben sie bekämpft, und wir hatten die meisten Opfer zu beklagen.
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Wie stehen Ihre Chancen bei der Wahl?
Junus Kanuni Wenn es keine Fälschungen geben würde, hätte ich große Chancen, die Wahl zu gewinnen. Ich bin sicher, ich könnte sie gewinnen.
Das Gespräch führte Aschot Manutscharjan