Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 46 / 08.11.2004
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Ute Grundmann

Die fremde und doch nahe Stadt

Rückkehr nach Görlitz

Lange Zeit war Görlitz für Michael Guggenheimer "nur eine Fantasie" - der Name einer Stadt, in der seine Mutter geboren wurde. Die jüdische Familie musste 1933 vor den Nationalsozialisten fliehen; die Wanderung im Riesengebirge, die man den Kindern ankündigte, war der Weg ins Exil. 60 Jahre später steht das Mädchen von damals, nun mit Mann und Sohn, wieder auf dem Görlitzer Obermarkt. Einen Stadtplan braucht sie nicht; sie will aber nach zwei Stunden lieber nach Dresden zurück. Der Sohn jedoch kommt immer wieder, er will die fremd-nahe Stadt kennenlernen und schreibt ein besonderes Buch darüber.

Das Buch beginnt an den Orten der Familie, der Schule der Mutter, der Praxis des Großvaters. Doch auch wenn er die Synagoge ("ein Tempel ohne Gläubige") und die ehemalige Aufbahrungshalle, heute ein Werkhof, besucht - es ist kein Buch ausschließlich auf den Spuren der Familie oder der Juden, die einst in Görlitz lebten. Guggenheimer, bis vor kurzem Informationschef der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, macht sich auf die Suche nach "Spuren einer Zukunft", so der Untertitel des Buches.

Es ist der teilnehmend-neugierige Blick eines Menschen, dem die Stadt und ihre besondere Geschichte näherrückt. Was er schreibt, kann man auch als Reiseführer lesen, aber es ist viel mehr. 200 Jahre Stadtgeschichte findet er auf dem barocken Friedhof oberhalb der Nikolaikirche. Er versucht, sich die Stille vorzustellen, die nach der Sprengung der Brücke zum östlichen Stadtteil geherrscht haben muss. Die Deutschen hatten diese Verbindung gegen Kriegsende gesprengt - Polen bauten sie wieder auf.

Doppelstadt in Europa

Heute verbindet Görlitz und Zgorzelec wieder mehr als eine Brücke. Dass die beiden einst zusammengehörenden Stadtteile nun einen Weg als "Doppelstadt in Europa" suchen, fasziniert Guggenheimer, aber er bleibt kritisch dabei. Es gebe gemeinsame Stadtratssitzungen, merkt er an, aber noch immer werde bei diesen Treffen ein Dolmetscher gebraucht. In zweisprachigen Klassen lernten viel mehr polnische Schüler Deutsch als umgekehrt. In den Kaufhäusern der Stadt aber sollte man polnisch sprechen können - schließlich kommen 30 bis 40 Prozent der Kunden von jenseits der Neiße.

Guggenheimer hat immer wieder Fragen an Görlitz, das ihm als "Freilichtmuseum aus Altstadt und Gründerzeitquartieren" erscheint. Die Randlage könne mit der EU-Erweiterung zur Chance werden, doch die Görlitzer seien zu viel mit sich selbst beschäftigt. Immer wieder fährt er durch die Stadt: Da ist die östlichste Gaststätte Deutschlands, die "Vierradenmühle", wo früher Kuchen und Blinis per Seilbahn die Seiten wechselten. In der Straße "Handwerk" findet er Textilkunst über die Grenze hinweg. Gegen fehlende Arbeitsplätze und geringe Kaufkraft vermisst er "Visionen", findet höchstens Ansätze dazu. Die Häuser und Straßen aber bleiben nie abstrakt. Guggenheimer erzählt ihre Geschichte anhand der Menschen, die dort leben, die teils von weit her kamen - wie er.

Michael Guggenheimer

Görlitz. Schicht um Schicht.

Spuren einer Zukunft.

Lusatia Verlag, Bautzen 2004; 288 Seiten, 12,90 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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