Selbstbestimmung ist heutzutage in medizinischen Zusammenhängen ein Zauberwort geworden. Die Ikone des mündigen Patienten, der als "Kunde" auf gleicher Augenhöhe mit dem Arzt "verhandelt", unterstellt, dass medizinische Leistung eine Ware wie jede andere ist - obwohl jeder vernünftig denkende Mensch weiß, dass Gesundheit im Warenhaus der Medizin nicht einfach ein käufliches Gut ist. Besonders in den sensiblen Phasen des Lebens, am Beginn und seinem Ende, ist der Mensch dieser Tatsache besonders ausgeliefert: Die Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper einerseits und das gesellschaftlich verbürgte Recht eines gezeugten Fötus auf Leben auf der anderen Seite kennzeichnete den langen Streit um den Schwangerschaftsabbruch; die Hoffnung kranker Menschen auf das Organ eines "hirntoten" Patienten und die Unantastbarkeit des sterbenden Menschen standen im Mittelpunkt der Debatte um die Organspende. Selbstverständlich scheint auch das Recht, über Art und Dauer einer medizinischen Behandlung zu bestimmen. Wie jedoch steht es um jene Patienten, die durch Krankheit oder Alter so schwer beeinträchtigt sind, dass sie ihren Willen nicht mehr kundtun können?
Patientenverfügungen scheinen einen Ausweg zu weisen: Im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte kann man bestimmen, was in Situationen, in denen man nicht mehr entscheidungsfähig ist, geschehen soll. Doch das uneingeschränkte Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist problematisch, weil es Dritte dazu nötigen kann, in einer Weise in den Krankheitsverlauf einzugreifen, der einen Patienten zu Tode bringt.
Was also soll, was kann, was darf getan werden, um das Leid kranker, todgeweihter Menschen zu lindern und ihren - mutmaßlichen oder expliziten Willen zu erfüllen? Was soll, was kann, was muss gleichzeitig getan werden, um zu verhindern, dass Menschen, dass dieser vorletzte Wille missbraucht und kranke Patienten aktiv getötet werden? Ist der ärztliche Behandlungsauftrag, der aufgibt, Menschenleben zu retten, überhaupt zu vereinbaren mit einem irgendwann im Leben geäußerten Wunsch, in einer bestimmten Situation nicht mehr weiter behandelt werden zu wollen? Die Spannweite der Entscheidung ist bei Experten und in der gesellschaftlichen Diskussion höchst umstritten, denn aktive Sterbehilfe, das heißt Maßnahmen, die den Tod eines Patienten beschleunigen, ist nach heutigem deutschen Recht untersagt; erlaubt sind nur Unterlassungshandlungen, die verhindern, ein Leben - beispielsweise durch intensivmedizinische Behandlung - künstlich zu verlängern.
Doch mittlerweile gibt es - auch mit Blick auf einige europäische Nachbarländer, die die aktive Sterbehilfe erlauben - eine Lobby, die das Selbstbestimmungsrecht über den ärztlichen Behandlungsauftrag stellt und Paragraf 216 des Betreuungsrechts entsprechend verändert sehen will. Stellvertretend macht sich der FDP-Abgeordnete Michael Kauch für Patiententestamente, in denen die Begrenzung von Behandlungen verfügt werden kann, stark. Seine Argumentation: Ein entscheidungsfähiger Patient sei jederzeit berechtigt, auf eigenes Risiko eine Behandlung abzulehnen; handle ein Arzt dem zuwider, mache er sich strafbar. Es sei nicht einzusehen, dass diese Möglichkeiten nicht einwilligungsfähigen Menschen vorenthalten werde und sie der willkürlichen ärztlichen Fürsorge ausgeliefert würden. Brisant ist diese Position, weil sie darauf abzielt, die Reichweite von Patientenverfügungen auszuweiten. Kauch plädiert nämlich dafür - wie übrigens auch eine von Justizministerin Zypries eingesetzte Arbeitsgruppe, die im Sommer Richtlinien für die Abfassung von Patiententestamenten vorstellte -, dass Patienten über Situationen verfügen können, die nicht zwingend zum Tode führen. Das für eine solche Situation immer wieder genannte Beispiel ist das Wachkoma: Einem Patientenwillen folgend, hätte der Arzt die Behandlung des Patienten einzustellen und ihn von den Apparaten zu nehmen, obwohl der Zustand des Patienten nicht zwingend tödlich ist.
Innnerhalb der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin", die kürzlich ihren Zwischenbericht zum Thema Patientenverfügungen an den Bundestag übergeben hat, repräsentiert Kauch allerdings eine Minderheitenposition. Die große Mehrheit will Patientenverfügungen auf Fälle beschränkt sehen, "in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung zum Tode führen wird". Damit soll ein Klima verhindert werden, "in dem Druck auf ältere und/oder schwerkranke Menschen ausgeübt werden kann, ihr Leben mittels einer Patientenverfügung willentlich beenden zu lassen". Patientenverfügungen, heißt es weiter, dürften nicht zum Mittel der "Kostenminimierung" "instrumentalisiert" werden.
Damit spricht der Bericht sehr offen eine Befürchtung aus, die Sterbehilfe-Gegner schon seit längerem ins Feld führen: Wenn erst einmal die Kostenfrage im Raum steht, müssen sich Kranke und Alte nur noch als Last empfinden: für die Angehörigen, die Pflegenden, die Sozialversicherungsträger, die Gesellschaft. Wie dramatisch die Situation heute schon ist, zeigt eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung aus Berlin, die die schreckliche Tatsache ans Licht brachte, dass alte Menschen zunehmend lieber Hand an sich legen, als ins Pflegeheim zu gehen. Die dort herrschenden Zustände, (die, das sei angemerkt, am wenigsten von den dort Beschäftigten zu verantworten sind), empfinden viele so abschreckend, dass manchem Betroffenen der Tod als die bessere Alternative erscheint. Sie wollen sterben, weil sie ihre Lebensqualität als schlecht erleben.
Der Kommissionsbericht macht umgekehrt auch darauf aufmerksam, dass Patientenverfügungen zu einer "Pflichtenkollision" des medizinischen Personals führen können. Das ärztliche Ethos gerät in Konflikt mit dem vom Patienten gewünschten Behandlungsabbruch. In der unmittelbaren Sterbephase sei die Unterlassung von Maßnahmen im Sinne des Patientenwohls vertretbar; nicht jedoch in Fällen wie Wachkoma oder Demenz. Von Ärzten und Pflegern, so meint auch die Sterbehilfe-Kritikerin Erika Feyerabend, würde dann nämlich eine Art "Dienstleistung" gefordert, die kein Staat von sich aus je verordnen könnte: das "aktive Zu-Tode-Bringen von Schwerkranken, Bewusstlosen oder Verwirrten."
Mehr noch, so die Ethikkommission, könnte diese unter Umständen zu einer von Dritten einklagbaren "Unterlassungsverpflichtung" werden und der Rechtsprechung unter der Maßgabe knapper Mittel eine "zweideutige Richtung" geben. Der Bundesgerichtshof hatte sich mit dieser Frage schon mehrmals zu beschäftigen, zuletzt im April 2003. Damals ging es um den Abbruch der künstlichen Ernährung eines 72-Jährigen einwilligungsunfähigen Wachkoma-Patienten. Dieser hatte zwei Jahre zuvor schriftlich verfügt, im Falle einer irreversiblen Schädigung solle die Intensivbehandlung und die künstliche Ernährung eingestellt werden. Während das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein dem Antrag des Sohnes stattgab, die Verfügung ohne weitere Prüfung durch das Vormundschaftsgericht anzuerkennen, und damit von anderen Entscheidungen abwich, plädierten die Bundesrichter zwar ebenfalls für die Respektierung des Patientenwillens, machten den Abbruch der künstlichen Ernährung aber dennoch von der Zustimmung des Vormundschaftsgerichts abhängig. Dies gelte auch, so das BGH-Urteil, wenn ein erklärter Wille nicht feststellbar und nur ein mutmaßlicher Wille anzunehmen sei.
Die Empfehlungen der Enquete gehen noch über das Urteil des Bundesgerichtshofs, der nur im Konfliktfall das Vormundschaftsgericht eingeschaltet sehen will, hinaus. Die Kommission hält den Abbruch einer medizinisch indizierten lebenserhaltenden Maßnahme für so gravierend, dass diese Entscheidung in jedem Fall von einem Gericht geprüft werden müsse: "Es kann nicht der Übereinkunft privater Personen übertragen werden, ob Eingriffe in Grundrechte überprüft werden können oder nicht."
Die Realitäten vor der deutschen Haustüre machen diese eher restriktiv gehandhabte Sterbehilfe-Praxis plausibel. In der Schweiz, den Niederlanden und in Belgien ist aktive Sterbehilfe erlaubt. Nach dem umstrittenen holländischen Gesetz bleibt sie zwar grundsätzlich strafbar, wird jedoch geduldet; ähnliches gilt in Belgien. Die dort kürzlich bekannt gewordenen Zahlen sprechen für sich: In den ersten 15 Monaten der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe wurden in Belgien 260 Menschen gezielt von Ärzten getötet, davon 80 Prozent im niederländischen Teil. In der Schweiz können Hilfeleistungen zum Sterbe- und Suizidversuch von jedermann erbracht werden, daraus hat sich ein regelrechter Sterbehilfetourismus entwi-ckelt, der erst, nachdem die Schweiz deshalb immer mehr in negative Schlagzeilen geriet, juristisch eingedämmt wird. Doch man macht wenig Hehl darüber, dass die "demografischen Entwicklungen" und die damit verbundenen "Pflegeengpässe" das "sozialverträgliche Frühableben" beförderten.
Es ist auch kein Widerspruch, wenn das niederländische Sterbehilfe-Gesetz oder der Schweizer Sterbehilfetourismus einerseits Empörung auslösen und andererseits in der Bevölkerung vielfach der Wunsch geäußert wird, nicht hilflos an lebenserhaltende Apparaturen gekettet sein zu wollen. Darin drückt sich vielmehr ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber der modernen Medizin und ihrer Allmacht aus. So wichtig es ist, den Patientenwillen bei den ärztlichen Entscheidungen zu berücksichtigen, so notwendig ist es auch, zu verhindern, dass das Recht, menschenwürdig zu sterben, sich nicht in eine Pflicht zu sterben umkehrt und Leidvermeidung austauschbar mit Kostenvermeidung wird.
Die noch junge, personell recht aufwändige Palliativmedizin, die statt das "cure" (heilen) mehr das "care" (sorgen) in den Mittelpunkt rückt und bestrebt ist, Schmerzen zu lindern und beim Sterben zu begleiten, weist hier einen möglichen Ausweg aus dem Sterbehilfe-Dilemma. Immer wieder betonen Palliativmediziner, dass ihre Patienten nie um aktive Sterbehilfe bäten, sondern dankbar die Schmerztherapien in Anspruch nähmen. Nicht immer ist der einfachste (und kostengünstige) Weg auch der ethisch billige.