Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 48 / 22.11.2004
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Marion Müller-Roth

"Unser Hamburg existiert nicht mehr"

Wie deutsche Rentner auf Mallorca ein Leben zwischen Swimming-Pool und Club führen

Es ist wie im Taubenschlag. Das Ehepaar Gerstner (Name geändert) sitzt auf der Terrasse des Golfclubs in Camp de Mar. Es ist fünf Uhr nachmittags, ein Donnerstag, im späten Oktober. Man kennt sich, winkt einander zu und wertet das gerade beendete Golfturnier aus. "Nein, heute war es nicht so gut", lacht Evelyn Gerstner, (63). Eine Bekannte, im schnittig weißen Golfhemd, mit braungebrannter Haut und einem Basecap, aus dessen Schlaufe der graue Zopf herauslugt, wie der glattgezogene Schweif eines Rennpferdes, legt ihr die Hand auf die Schulter, "Kommt ihr heute Abend?", fragt sie.

Evelyn Gerstner dreht sich um, "Christa, Mensch wo warst du denn?" Die Frauen begrüßen sich nach spanischer Art: ein Küsschen links, ein anderes rechts. Die Männer stoßen derweil die Bierkrüge gegeneinander. Evelyn versucht, einen Stuhl vom Nebentisch heranzuziehen, der aber gehört einem anderen. Im anliegenden Hotel springt ein Herr mit einem silbrigen Bürstenhaarschnitt jauchzend ins türkisblaue Swimmingpoolwasser; die Palmenblätter rauschen im Wind, vom Meer weht eine Brise salzige Luft. Der Kellner versucht im Kampf mit dem Wind und fuchtelnden Armen, rote Servietten auf den Tisch zu legen und in gestärktes Leinen gewickeltes Silberbesteck. "Gracias", sagt Evelyn Gerstner.

Sie lehnt sich zur Seite, sagt der Freundin, dass sie zum Grillen heute Abend nicht kommen könne (man ist schon anderswo verpflichtet) und versucht sich dann wieder auf ihren Gesprächspartner zu konzentrieren. "Hier ist immer was los. Wir haben hier ein richtiges Clubleben." Auf die Frage, welche Mahlzeit man jetzt einnehme, zuckt sie die milchcafebraunen Schultern unter dem Träger-Shirt. Für das spanische Mittagessen ist es zu spät. Für das deutsche Abendbrot zu früh. Aber wen schert das schon. Man fühlt eh weder Deutsch noch Spanisch. Sondern eher wie eine Synthese aus beidem. Letztendlich ist man glücklicher Pensionär auf Mallorca. Angekommen im Paradies?

"Ein Clubleben, ach", ihr Mann, Günther Gerstner (75), wischt sich mit dem kräftigen, braungefleckten Handrücken den Bierschaum vom Mund, "Clubleben? Ja, doch, das stimmt", er legt den kahlen runden Kopf schief. "Aber keine Vereinsmeierei! Das machen die da drüben." Da drüben? "Da im Osten." Da wo Arenal liegt und die Playa de Palma oder ordinärer ausgedrückt: der Ballermann. Jener legendäre kilometer- lange Strandabschnitt, an den im Sommer trink- und erlebniswilliges Jungvolk reist und im Winter eben auch manch deutscher Pensionär.

4.000 Langzeiturlauber verbucht allein Neckermann jedes Jahr, sagt Helga Karbowski, Reiseleiterin. Die Mitdreißigerin leitet das Segment der Winterurlauber und den Club "Schwalbe". Das ist die Einrichtung, in der die Pensionäre von November bis Ende Februar Geist und Körper ertüchtigende Unterhaltung erfahren: Wandern, Rotkreuzgymnastik, Skat-Turniere, Blutdruckmessen und auch Spanischkurse.

Aber das sind ja die anderen. Die Touristen. Mit den Gerstners sind wir bei den deutschen Rentner-Residenten. 15.000 über 55-Jährige leben auf der Insel, schätzt der Geografieprofessor der Balearenuniversität, Salvà Tomàs. Das Phänomen, der "Ruhestandsmigration" ist quasi eine der Gegenbewegungen der Armutsmigration, und sie boomt im grenzenlosen Europa. Während Arm von Süd nach Nord wandert, und zwar in jungen Jahren, geht Reich von Nord nach Süd, und zwar in späten Jahren. "Das ist eine Art Lifestyle-Migration", konstatiert Claudia Müller-Zuazaga. Als angehende Sozialwissenschaftlerin untersucht sie in ihrer Diplomarbeit die so genannten "Eingliederungsprozesse der Deutschen auf Mallorca". Und die gestalten sich mit zunehmenden Alter schwieriger. Denn ein Grund, warum Mallorca so attraktiv ist, als Alterssitz, ist neben dem Klima vor allem die Existenz einer deutschen Infrastruktur. Eine verlockend wirkende Parallelgesellschaft, in der die fremde Sprache eigentlich nicht benötigt wird.

Doch was macht einer im Paradies, wenn er sich mit seinen Jüngern nicht unterhalten kann?

"Solange man gesund ist, funktioniert alles bestens", sagt Evelyn Gerstner. Anstatt unter "anthrazitfarbenem Himmel, der schlechten Stimmung und dauernden Krankheitsgesprächen in Deutschland der Depression zu verfallen", beginnen die Gerstners ihren "täglichen Sonntag" immer ganz aktiv: Um 7.30 Uhr wird aufgestanden, dann folgen einige Runden im hauseigenen Swimmingpool, dann eine halbe Stunde auf dem Heimtrainer, dazu als Unterhaltung deutsches Frühstücksfernsehen, später ein paar Einkäufe, etwas Post im Internet, ein Gespräch mit dem deutschen Steuer- und Vermögensberater. Am Nachmittag wahlweise: Golfspielen, ein Ausflug ins Inselinnere, ein Cafékränzchen bei der Nachbarin, eine Skatrunde im schicken Sporthafen in Port d`Andratx. Abends dann trifft man sich reihum, "mal bei Gerda, dann bei Dieter und Christa oder auch bei uns".

Wollte man die Philosophie deutscher Ruheständler auf Mallorca in Worte fassen, könnte man sie "Fun for fit" nennen. Oder "Jetzt erst recht", und man hört dauernd Udo Jürgens Ohrwurm: "Mit 66 Jahren ...". Soziologen nennen sie "die neue Generation der jungen Alten" und beschreiben sie als Menschen, die auch jenseits der 65 Jahre "mobilitätsfreudig, relativ gesund und sozial aktiv sind".

Und die Familie? "Die kommt her", so Gerstners. Die Bekannte Christa mit dem kecken Pferdeschwanz stimmt zu. "Das ist eh viel besser, dann machen sie mal Urlaub." Gerstners Sohn ist Informatiker, 45 Jahre alt und alleinstehend. Bei der Bekannten Christa sind es zwei Töchter, die sie in Deutschland zurückgelassen hat. "Ja da wo Sonne ist, gibt es eben auch Schatten", sagt sie und meint damit, dass sie die zwei Enkeltöchter eigentlich nur von den Ferien her kennt.

Mit der Kehrseite der Medaille Altersmigration ist José Rodriguez in Kontakt. Er leitet den deutschen Sozial- und Kulturverein in Calvià, Anlaufstelle für in Not geratene Deutsche. "15 bis 20 Prozent deutscher Insel-Pensionäre leben in finanzieller und sozialer Not", schätzt er. "Die Mehrzahl von ihnen kam bereits vor 20 Jahren nach Mallorca", als Spaniens Lebenshaltungskosten im europäischen Vergleichstopf noch Bodensatz waren. Für wenig Geld, das im Vergleich zu hiesigen Einkommen einem Vermögen glich, gab es ein Haus in mediterranen Gefilden. Doch dank des Tourismus- und Residentenbooms hat auch Mallorca sich hinsichtlich Lebensstandard aber eben auch -kosten an mitteleuropäisches, ja sogar deutsches Niveau herangearbeitet, was bedeutet, dass die zumeist kleinen Renten der vor Jahrzehnten Ausgewanderten nicht ausreichen, um im Alter anfallende Kosten zu decken. Dinge wie die Fahrt in die Stadt zum Arzt, eine neue Brille, das Hörgerät oder gar der Rollstuhl können diese Menschen oft nicht aus eigener Kraft begleichen. "Wenn sie professionelle Pflege brauchen, bleibt für sie manchmal kein anderer Weg, als zurück nach Deutschland. In ein Seniorenheim", sagt Rodriguez. Er, der 34 Jahre als Süd-Nord Migrant in Hamburg arbeitete, hat neben einer unvergleichlichen Portion Sozialengagements gute Kontakte und Kenntnisse beider Gesellschaften. Er weiß, dass für die staatlichen Heime auf Mallorca jahrelange Wartelisten existieren. "Und für die privaten reicht bei diesen Leuten einfach nicht das Geld."

Spanisch können Deutsche schlecht

Rodriguez, selbst Pensionär, leistet ehrenamtlich Schützenhilfe, in den zahlreichen Notlagen der ärmeren deutschen Rentner, und das ist vor allem der Kampf mit den Behörden. Wie bei allen Migranten regiert auch unter den Deutschen auf Mallorca die Tendenz, sich in Ghettos zurückzuziehen und die Landessprache nicht ausreichend zu erlernen. Rodriguez berät auch im Vornhinein und warnt, dass ein Paar, das auswandern möchte, mindestens 1.800 bis 2.000 Euro monatlich brauche. Darunter wird der Aufenthalt im vermeintlichen Paradies schnell zur Stolperfahrt durch eine verdorrte Steppe. Trotzdem: Viele der noch rüstigen Mallorca-Rentner wünschen sich, in ihrer Wahlheimat das Zeitliche zu segnen. Günther Gerstner träumt von einem Eifersuchtsmord, der ihn mitten auf dem glattrasierten, grünen Golfrasen ereilt. Seine Frau ist realistischer und denkt an Es Castellot.

Das ist eine Seniorenresidenz "nach dem Vorbild deutscher Seniorenwohnanlagen" in der Wärme des Südens, titelt die hauseigene Website. Heute leben knapp 80 deutsche Ruheständler in der Anlage. Eine Pflegestation garantiert, dass die Bewohner, auch wenn sie krank werden, ihre letzte Oase nicht mehr verlassen müssen. Auf einem Hügel, im südwestlich gelegenen Santa Ponça errichtet, im Rücken ein wis-pernder Pinienwald, im Blick eine malerische Meeresbucht mit schaukelnden Schiffchen. Aus dem Haupthaus, im Stil eines eleganten Kolonialhauses klingt Klaviermusik, aus einem Löwenmaul in Stein plätschert Wasser in ein Becken, von den Balkonen ranken fette Blumen. Irgendwo klicken die Steine eines Dame- spiels. Im rundherum verglasten Speisesaal, der an einen Pavillon oder ein Teehaus erinnert, sind die Tische gedeckt: Kaffeezeit. Der neu ernannte Pfarrer der evangelischen Gemeinde Thomas Witt-Hoyer hat ein Pult ins Zentrum gestellt. Klaviermusik stimmt ein. Dann kommt er zum Thema "Wo ist mein zu Hause?", fragt er sich (auch er hat samt Familie erst kürzlich die Heimat verlassen) und die anderen. "Trage ich es in meinem Herzen? Oder ist es da, wo meine Liebsten sind? Will man nicht gerade im Alter zu Hause ankommen?" Eine Dame mit silbrigem Lockenhaar, den Gehstock hat sie an den Tisch gelehnt, sagt: "Ich bin so viel herumgekommen, dass ich nicht mehr weiß, wo mein zu Hause ist. Tangermünde, Bayern, Landshut, Bonn, Frankreich, USA, Spanien. Wo ist mein zu Hause? Don't ask!". Eine andere erzählt von der Vertreibung aus Schlesien, den Wirtschaftswunderjahren, in denen sie ihrem Mann, einem Bauunternehmer, durch die Welt folgte. "Zu Hause ist da, wo ich Kind war. Noch heute rieche ich die Linden und den Räucheraal", sagt Helga Molchin mit leiser Stimme. "Die Kuhmühle in Hamburg/Hohenfelde zwischen fetten Weiden ist jetzt eine graue Steinmasse."

Ihr Leben nach dem Krieg war von Reisen und Wohnortswechseln geprägt, Südafrika und Holland die einprägsamsten Stationen ihres Erwachsenenlebens. Ihre drei Söhne leben auf drei Kontinenten. Einer in Australien, einer in Südafrika und der dritte in Berlin mit dauernden Reisen nach Asien. Die Entscheidung, nach Mallorca zu kommen, traf sie vor zehn Jahren gemeinsam mit ihrem Mann. "Unser Hamburg existiert nicht mehr. Die Bekannten sind fast alle tot, und hier haben wir wenigstens das südliche Klima, und er konnte noch ein Jahr den Blick auf das Meer genießen." Viele der - betuchten - (die Monatsmindestmiete reicht von 1.200 bis 2.800 Euro, zusätzlich Pflegekosten und einem Darlehen im fünfstelligen Bereich) sind Menschen, die sich in den Zeiten westdeutschen Wirtschaftswunders entwurzelten. Mallorca, das rote Felschen, wie es die Einheimischen nennen, umspült an seinen Kanten von seidener Gischt, Verkehrsknotenpunkt aller großen europäischen Städte, mit 300 Sonnentagen und eben doch auch ein bisschen Deutsch - scheint ein geeigneter Ankunftsort für viele der flügellahm gewordenen Wandervögel.

Marion Müller-Roth ist freie Journalistin und lebt auf Mallorca.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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