Klaipeda im November: Im Jazzclub "Kaip Mama" der litauischen Hafenstadt an der Ostsee, heizt der Trompeter Rodiklio mit ungeheurer Intensität und herzzerreißend rauchiger Stimme die Tänzer an: "O yeah - one more everybody, are you ready for the twist? One, two, eins, zwei, drei, let's twist again!"
An Dynamik stehen die jungen Leute auf der Tanzfläche Rodiklio und seiner Jazzband in nichts nach: trendy in enge Jeans gekleidet, swingen sie temperamentvoll über die Tanzfläche, dass es nur so scheppert auf den Tischen, die voller Biergläser der Marke Svyturys stehen. Auch eine Handvoll junger deutscher Unternehmer, die Wirtschaftsjunioren der Bremer Industrie- und Handelskammer, lassen sich nicht lumpen und stürzen sich ins baltische "saturday night fever". Sie wollen sich jedoch nicht nur auf dem Parkett des Showbusiness bewegen, sondern im Land des neu aufblühenden EU-Markts Geschäfte machen. Dazu haben sich 40 Industrielle aus ganz Deutschland auf die Reise begeben.
"In Litauen herrscht nicht die Lethargie wie in Deutschland. Hier macht jeder das Maximum aus sich, was möglich ist", begrüßt Wilfried Seemann, Generalmanager der baltischen Niederlassung der Vereins- und Westbank, seine Gäste beim abendlichen Empfang: "In der Bank hat jeder studiert, ob ich den Fahrer oder den Kassierer nehme, und hat er sein Diplom, fängt er schon mit dem Nächsten an. Die, die arbeiten, studieren nebenbei, und sie müssen das tun, um sich das Studium zu finanzieren."
Litauen, ein kleines, aufstrebendes Land. Mit nur 3,5 Millionen Einwohnern ist es das EU-Land mit dem schnellstem Wirtschaftswachstum. Angesichts von nur 350 Euro Durchschnittsgehalt im Monat wandert der Großteil der intellektuellen Elite in den Westen ab, um dort das Zehnfache zu verdienen. Die westlichen Geschäftsleute ziehen indessen in den Osten, um hier ihre Unternehmen mit günstigen Arbeitskräften aufzubauen.
Er lasse seine Bekleidung schon seit einiger Zeit in Litauen produzieren, erzählt ein Mittdreißiger, Bremer Textilindustrieller, als wir auf der Fähre von der Kurischen Nehrung die nur 300 Meter kurze Strecke nach Klaipeda übersetzen, zu deutschen Zeiten Memel genannt. Die Löhne in Deutschland seien einfach nicht mehr zu bezahlen. Dafür nähme er gern die langen Transportwege auf sich.
Ein riesiges Wasserrad schaufelt sich ächzend durch die leisen Wellen des Kurischen Haffs. Klaipeda ist größter eisfreier Hafen des Baltikums und Drehscheibe zwischen Skandinavien, West- und Osteuropa. Der Zugang zur Ostsee und gute Verbindungen über Land machen Litauen zur strategisch wichtigen Transportachse von der Europäischen Union bis nach Russland und den GUS-Staaten. Davon weiß auch Vijoleta Kämna von der Spedition Roland aus Delmenhorst zu berichten. Für die gebürtige Litauerin, die einen Deutschen geheiratet hat, war die von den Wirtschaftsjunioren der Bremer Industrie- und Handelskammer ins Leben gerufene Reise in ihr Heimatland ein voller Erfolg: "Wir haben unglaubliche Angebote von den hiesigen Geschäftspartnern bekommen. Unsere Spedition hat die Aufträge, und die Litauer stellen die Fahrzeuge. Die LKWs, die dann von Deutschland aus bis nach Russland fahren sollen, sind dermaßen günstig!"
Gute deutsch-litauische Kooperation
Eine ähnlich gute Kooperation konnte auch Ulf Franz vom Lübecker Entsorgungsbetrieb Lissy auf dem von der Deutsch-Baltischen Industrie- und Handelskammer organisierten "Market-Place" schließen. Mit Improvisationstalent werden im Business-Hotel Tische zusammengeschoben, und so trifft Baltikum mit Deutschland zum emsigen "Multi-Twinning"-Gespräch zusammen. "Es ist gelungen", sagt Franz: "Wir werden in der Nähe von Klaipeda Fabriken aufbauen, die unseren Sondermüll trennen. Das macht bei uns in Deutschland einfach keiner."
Bisher musste der Lübecker Entsorgungsbetrieb nach China transportieren. Das war immer noch bezahlbarer, als den Müll vor Ort zu bearbeiten. Durch die Mitgliedschaft Litauens in der EU sind neue Tore eröffnet, umso mehr, weil die Wege an die Ostsee natürlich wesentlich kürzer als nach Fernost sind.
"Wenn wir nicht aufpassen, werden die uns noch alle abhängen", sagt Franz nachdenklich: "Man sollte eigentlich im eigenen Land investieren und den Menschen Arbeit geben. Aber wenn allein die Bürgervereine ?Sondermüll' hören, springen die alle an die Decke. Dabei ist es für die Umwelt gar nicht gefährlich."
Rush-Hour in Vilnius. Westliche Autos, Mercedesse, BMWs, nicht zu knapp. Wovon sie bezahlt werden, weiß der liebe Gott, der in den vielen katholischen Kirchen der auch als "Rom des Ostens" bekannten Hauptstadt zu Hause ist. Die Straßenkehrerin fegt tiefgebeugt die heiligen Treppen mit zusammengebündelten Reisighölzern. Wer sich wohl die sündhaft teure Mode von Escada oder den Schmuck von Fabergé auf der "Vilniaus gatve" leisten kann? Um die Ecke preisen freundliche, grauhaarige Marktfrauen mit weißen Hauben Schweinefüße, Rüssel und Kringelschwänze sowie Kartoffeln für 30 Centis pro Eimer an, das sind knapp zehn Cent. Vilnius ist voller Kontraste.
Eine Studentin im Minirock und schwarzen Lack-stiefeln geht energisch durch das Tor der Universität, die gegenüber dem Palast von Präsident Valdas Adamkus gelegen ist. Seit der Unabhängigkeit ist die litauische Geburtenrate rapide gesunken. Wie in den meisten Beitrittsländern müssen sich die Menschen umstellen auf eine Marktwirtschaft, die sie aus der sozialistischen Vergangenheit nicht gewöhnt sind.
"Die jungen Leute wollen sich westlicher geben als im Westen", meint die Litauerin Vijoleta Kämna, die wegen ihres deutschen Gatten nur schweren Herzens in den Westen gegangen ist, denn: "Litauen ist meine Heimat", sagt sie über die dampfenden Cepelino-Knödel hinweg, "und sie wird es immer bleiben!"
Man kann sie verstehen. Schön ist Vijoletas Land: die Hauptstadt Vilnius, barockes Kleinod, romantisch im Memeltal gelegen und von sanften Hügeln umgeben, oder die von Thomas Mann als "Sahara des Nordens" gepriesene Kurische Nehrung am baltischen Meer mit ihren Sanddünen und buntbemalten Fischerhäusern, von denen sich der Schriftsteller eines als Sommerresidenz bauen ließ. Dort verbrachte der Literatur-Nobelpreisträger die Sommer zwischen1930-32.
Das alte Rathaus von Vilnius, in dem nachts noch die Miss Tourismus gewählt worden ist, verwandelt sich morgens zum internationalen Hauptstadt- "Market-Place". So wie die Deutschen in Osteuropa und Litauen Handel treiben, möchten die Litauer ihre Waren in Westeuropa und Deutschland verkaufen. Andreas Zimmermann von der Bremer Investitionsgesellschaft freut sich, die litauischen Gewürzhändler für die Hansestadt an der Weser zu interessieren, bevor sie auf die Idee kommen, andere Regionen zu erschließen.
Litauens Hauptexportschlager ist Holz. Deutschland importiert 15 Prozent an zugeschnittenen Bäumen. Der schwedische Möbelkonzern Ikea bezieht ein Viertel seiner Holzzufuhr aus dem "baltischen Tiger".
Auch auf kulturellem Gebiet wird der internationale Austausch angekurbelt. Einerseits wirbt Kulturmanager Jean-Claude Leclère von den Bremer Philharmonikern um Sponsoren für die Osteuropatournee, andererseits möchten die Nationalen Philharmoniker aus Vilnius die Konzertpodien in Deutschland erobern.
Remigijus Kapecius, Generaldirektor der Litauischen Wirtschaftsförderungsagentur, bringt in seiner Abschlussansprache den Teilnehmern des "Market-Place" das neue Selbstverständnis seiner Nation auf den Punkt: "Seit dem ersten Mai fühlen wir uns nicht mehr wie ein Land mit 3,5 Millionen Einwohnern, sondern wie ein 415 Millionen-Staatenbund in der Europäischen Union."
Litauische und deutsche Geschäftspartner schütteln sich zum Abschied die Hände und werden sich bald wiedersehen. Sie stehen erst am Anfang ihres gemeinsamen Aufbruchs in eine neue Ära.