Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 50-51 / 06.12.2004
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Andreas Riemer

US-Außenpolitik: Marrakesch bis Bangladesh

Der Broader Middle East - ein Brennpunkt der zweiten Amtszeit von George W. Bush

Der Broader Middle East - die Region vom nordafrikanischen Krisenbogen bis in den Mittleren Osten (manche meinen von Marrakesch bis Bangladesh) - kristallisierte sich binnen weniger Wochen zu einem Kernpunkt der Außenpolitik der USA in der zweiten Amtszeit von George W. Bush heraus. Die komplexe Situation im Irak, der Tod von Yassir Arafat, die Gaza-Abzugspläne Israels und die Präsidentschaftswahlen in den USA haben für die äußerst fragile Region ein neues "window of opportunity" eröffnet. Präsident Bush kündigte jetzt mit Tony Blair in Washington an, einen neuen Anlauf zur Lösung des Israelisch-Palästinensischen Konflikts Anfang 2005 zu starten. Ein unabhängiger Palästinensischer Staat gilt als fixe Größe in seinen Überlegungen.

Bush wird in dieser Region aktiv werden müssen. Er kann den Konfliktbogen nicht mehr sich selbst überlassen, wie teilweise in seiner ersten Amtszeit. Er wird gezwungen sein, den Broader Middle East als Gesamtregion anzugehen, wenn er nachhaltigen Erfolg haben will. Dabei hat er bereits brauchbare Konzepte zur Hand, wenngleich es sich um Langzeitprojekte handelt, deren Erfolg stark davon abhängt, inwieweit es ihm gelingt, Betroffene zu Beteiligten zu machen und Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.

Es gibt kaum eine Region, die derart vom globalen Wirtschaftssystem abgeschnitten ist wie der Broader Middle East. Eckdaten verdeutlichen die Problematik: Im Jahr 2001 lag der Anteil der Region am Weltexportvolumen bei fünf Prozent, ausländische Direktinvestitionen lagen bei einem Prozent. Strukturelle Beschränkungen, Korruption, Bürokratisierung, ein hohes Defizit im Exportbereich und hohe Arbeitslosigkeit (besonders bei Jugendlichen bis 20 Jahre) charakterisieren das Bild der Region. So erwirtschafteten alle arabischen Staaten 1999 ein Bruttoinlandsprodukt von 531 Millionen Dollar - dies ist weniger, als Spanien allein erzielte. BIP-Wachstum, Investitionen und die Produktivität sanken in nahezu allen Staaten dieser Region in den vergangenen 20 bis 30 Jahren. Die Weltbank schätzt, dass dort bis 2020 100 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten. Trotz Ressourcenreichtum und relativer Energieunabhängigkeit ist man seit Jahrzehnten nicht in der Lage, daraus Kapital zu schlagen. Man findet kaum polarisiertere Gesellschaften, höhere Einkommens- und Bildungsunterschiede wie im Broader Middle East. Die aussichtslose Situation hat zu einer weit verbreiteten Hoffnungslosigkeit vor allem unter jungen Menschen geführt. Sie wurden dadurch für radikale Gruppen und religiös-fundamentalistische Propaganda anfällig. Neben den wirtschaftlichen Defiziten, einer ausgeprägten Geschichtsgeschlagenheit, einem tief sitzenden Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem Westen, einer Unfähigkeit, aus den vorhandenen Möglichkeiten Vorteile zu ziehen, ist es die systemimmanente passive Haltung, die zur aktuellen Situation führte und deren Konsequenzen weit über die Region hinausgehen.

Bemerkenswert ist, dass radikale Elemente von einer wachsenden Gruppe an Menschen überlagert werden, die sich der Problematik bewusst und die auch bereit sind konsequent zu agieren - so lange man ihnen den erforderlichen Respekt entgegenbringt und sie nicht in kolonialer Manier dominiert. Dieser Eindruck mag im Frühjahr 2004 entstanden sein, als die von den USA lancierte Broader Middle East Initiative primär in arabischen Medien heftig debattiert wurde.

Die historische Genese der Initiative ist von einigen Auf- und Abbewegungen sowie Vorwärts- und Rück-schritten gekennzeichnet. Sie ist ein sehr gutes Abbild der Verhältnisse in der Großregion: Zwischen großen Hoffnungen und tiefster Enttäuschung ist alles möglich. So ist auch nicht verwunderlich, dass die Initiative im Februar 2004 nach einer heftigen Debatte in der arabischen Welt eine von der U.S.-Administration nicht erwünschte negative Aufmerksamkeit erregte. Dabei lief nichts geheim oder hinter den politischen Kulissen ab. Die Initiative wurde bereits im Dezember 2002 unter dem Titel Middle East Partnership Initiative von Richard N. Haas, Director des Policy Planning Staff, State Department, in einer Rede vor dem Council of Foreign Relations vorgestellt. Auch Außenminister Colin Powell erwähnte im Dezember 2002 in einer Rede vor der Heritage Foundation die Initiative. Ein knappes Jahr später bezog sich auch US-Präsident Bush auf die Initiative in seiner Rede vor der National Endowment for Democracy (eingebettet in seine "forward strategy of freedom", ein Konzept, das den Frieden und die Sicherheit im Nahen Osten fördern soll, indem es die Etablierung von Freiheit, die Förderung von Demokratie und Menschenrechten propagiert und konkret unterstützt). Es folgten weitere Referenzen in diversen Reden, so zum Beispiel in der State of the Union Address vom Januar 2004 oder seitens Dick Cheneys vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos wenige Tage danach. Auch im Zuge zahlreicher transatlantischer Kontakte wurde die Wichtigkeit der Stabilisierung und Demokratisierung des Greater Middle East (es handelt sich um die gleiche Region unter verschiedenen Begriffen) betont.

Nach den teilweise überzogenen Reaktionen und der nicht eben geglückten Veröffentlichung wurde die Initiative zurückgestellt und überarbeitet. Im Rahmen des G-8 Gipfels von Sea Island Anfang Juni gelang es, den Schaden zu begrenzen und eine Partnership for Progress and a Common Future with the Region of the Broader Middle East and North Africa ins Leben zu rufen, die auf beachtliche Unterstützung stieß.

Die Partnerschaft bezieht sich in der Struktur auf die Helsinki Beschlüsse von 1975 und auf die von der EU lancierte MEDA-Initiative. Die inhaltliche Basis bilden der UNDP Arab Human Development Report aus dem Jahr 2002 (und sein Update von 2003). Der Report ist bemerkenswert, weil Wissenschafter und Experten aus betroffenen Staaten sehr kritisch den Istzustand beschreiben und Lösungsvorschläge unterbreiten. Bemerkenswert ist auch, dass der Report ein wachsendes Bewusstsein für die Bedeutung der katalytischen Rolle der Wirtschaft in der Region brachte. Das US-Arab Economic Forum in Detroit im September 2003 ist in diesem Kontext zu sehen.

Die Kerninhalte der Initiative sind folgende drei Schlüsselbereiche:

- Förderung von good governance

- Etablierung einer wissensbasierten Gesellschaft

- Ausweitung wirtschaftlicher Möglichkeiten

Damit sind drei große Defizitbereiche angesprochen: Der ökonomische Bereich, in dem es neben strukturellen auch soziale Defizite auszugleichen gilt. Dabei geht es primär um die Förderung von Reformen, zum Beispiel um die Schaffung von rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine global wettbewerbsfähige Wirtschaft ermöglichen und um die Neustrukturierung des privaten und des öffentlichen Sektors. Der politische Bereich, in dem es um den Ausgleich von teils gravierenden Defiziten in den individuellen Freiheiten und in den persönlichen Grundrechten geht. Ziel ist die Entwicklung einer "arabischen Zivilgesellschaft". Ferner sollen Medienentwicklung, die Partizipation am politischen Leben und die Förderung der Frauenrechte in Angriff genommen werden.

Der Erziehungs- und Bildungsbereich, wo neben dem Mangel an adäquaten Ausbildungsstätten besonders große Lücken in der Ausbildung junger Menschen zu konstatieren sind. Die Defizite haben in den vergangenen Jahrzehnten zu Frustration und Orientierungslosigkeit der immer stärker wachsenden Bevölkerung in arabischen Staaten geführt.

Die Förderung dieses "interdependenten Dreiecks an Variablen" ist ein Langzeitprojekt der US-Administration und geht weit über die Bekämpfung des Terrorismus und auch über die zweite Amtszeit von George W. Bush hinaus. Es handelt sich um ein umfassendes Projekt zur Integration eines Krisenbogens in jene Bereiche, die am meisten von der Globalisierung und vom Fortschritt profitierten. Nur wenn die Integration des bisher nichtintegrierten Bereichs gelingt, werden die Profiteure der Globalisierung in ihrem Gebiet sicher sein. Die Integration ist ein Export von Sicherheit aus Eigennutz.

Ergänzend dazu ist auch die im Zuge des NATO-Gipfels in Istanbul im Juni 2004 lancierte Istanbul Cooperative Initiative (ICI) zu sehen, in der ein stärkeres Engagement des nordatlantischen Paktes für diese strategisch bedeutenden Regionen angemahnt wird. Mit sieben Ländern Nordafrikas wie des Nahen Ostens soll ein Dialog verstärkt werden, der zu einer genuinen Partnerschaft führen soll. Ähnlich war auch eine Rede von NATO-Generalsekretär Jaap Hoop de Scheffer zu interpretieren, die er im November 2004 anlässlich seines Besuches in Wien an der Landesverteidigungsakademie hielt. Die Istanbul Cooperative Initiative ist neben der seit dem G-8-Gipfel in Sea Island vereinbarten Partnerschaft ein wesentliches Element zur Befriedung der Großregion und genießt die volle Unterstützung der USA, da es so gelingt, auch kritische Staaten in die Pflicht zu nehmen. Die ICI umfasst unter anderem die Zusammenarbeit in der Terrorbekämpfung, der Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen und der organisierten Kriminalität, aber auch die Vorbereitung für Katastropheneinsätze, Training und Ausbildung und Teilnahme an NATO-Übungen. Die Initiative ergänzt als mittelfristiges Konzept die Vorhaben der G-8 und transatlantische Aktivitäten. Zusätzlich wurde der Mittelmeerdialog aus dem Jahr 1994 reaktiviert und erweitert.

Die von den USA lancierte Partnerschaft wurde vor allem aufgrund der nicht geglückten Präsentation, der sehr auf den Irak fokussierten Nahostpolitik in der ersten Amtszeit von Präsident Bush, dem Scheitern der Road Map und der für viele enttäuschend verlaufenden Pazifizierung des Irak sehr zurückhaltend in den betroffenen Staaten, aber auch in Europa aufgenommen. Auch ist die regionale Eingrenzung nicht ganz präzise, was zusätzlich zu Verstimmungen führte. Manche sahen in der Initiative einen weiteren Schritt der umfassenden Amerikanisierung und der Oktroyierung vordergründig universeller Werte. Andere klassifizierten sie ob des geringen Budgets als einen "Tropfen auf den heißen Stein" (29 Millionen Dollar in der Anfangsphase und danach eine Milliarde, die aus einer Umschichtung des Budgets gewonnen werden soll, das ursprünglich für Israel vorgesehen war).

Nicht nur der relativ geringe budgetäre Umfang, sondern auch die Art der Präsentation, das schlechte Marketing (mit der mehrfachen Umbenennung) und der Eindruck, dass von "außen in einer unsensiblen Art" Werte und Ideen oktroyiert werden, gaben dem Unterfangen einen schlechten Start.

Wenn es gelingt, rasch eine wohl überlegte Initiative im Nahostkonflikt als Herz der Partnerschaft zu starten, könnte das Programm neben einer Pazifizierung globaler Dimension das Image der USA gewaltig aufbessern und wieder stärker in Richtung Friedenspolitik rücken. Denn eines ist klar: Die Lösung des Israelisch-Palästinensischen Konfliktes ist der Weg zur Stabilisierung der Großregion. Die Folgen würden weit über seine Amtszeit und auch über die USA und die Befriedigung ihres ureigensten Sicherheitsbedürfnisses hinausreichen. Nun liegt es an Bush, die Fäden tatsächlich in die Hand zu nehmen und konkrete Akzente im Broader Middle East zu setzen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.