Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 04 / 24.01.2005
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"Wann - wenn nicht jetzt - werden wir die Kraft finden, unser Handeln auch als Weltinnenpolitik zu verstehen?"

Rede von Bundespräsident Horst Köhler zum Gedenken an die Opfer der Flutkatastrophe in Südasien - Staatsakt im Deutschen Bundestag am 20. Januar 2005

In den vergangenen Wochen sind wir alle Zeugen einer furchtbaren Katastrophe geworden. Auch wenn sie sich weit entfernt von Deutschland abgespielt hat - sie hat uns alle tief getroffen. Unter den wohl weit mehr als 200.000 Opfern sind auch Deutsche. Aller Opfer wollen wir heute gedenken.

Nach einem Seebeben, das für niemanden zu sehen war, ist am zweiten Weihnachtstag eine riesige Welle mit der Geschwindigkeit eines Flugzeuges über den Indischen Ozean hinweggerast und hat ihre Kraft an vielen Küsten Asiens und Afrikas entladen.

Zunächst war das ganze Ausmaß der Katastrophe für uns gar nicht abzusehen. Entsetzt haben wir dann Tag für Tag die steigenden Opferzahlen verfolgt. Aber es geht in Wirklichkeit nicht um Zahlen, es geht um die vielen einzelnen Schicksale, die hinter diesen Zahlen stehen. Mit jedem Tod wird ein Leben ausgelöscht, das einzigartig ist.

Die Flut hat abertausende Bindungen zwischen Menschen zerrissen. Mütter und Väter suchten verzweifelt ihre Kinder, die eben noch draußen herumtollten. Frauen und Männer liefen durch den Schutt und Schlamm, versuchten ihren Partner zu finden. Kinder standen apathisch zwischen Bergen von Leichen. Ob Einheimischer oder Tourist, ob reich oder arm, ob Kind oder Greis - vor niemandem hat die zerstörerische Kraft des Wassers Halt gemacht.

Wir gedenken heute unserer toten Landsleute. Die meisten wollten sich einen Traumurlaub gönnen, entspannen, um dann mit neuer Kraft in ihren Alltag zu starten. Nun kehren sie nicht zurück. Wir trauern um die Toten aus Deutschland. Und wir trauern auch um die vielen Toten aus Indonesien und Sri Lanka, aus Indien, Thailand und aus den anderen Ländern rund um den Indischen Ozean. Wir beklagen auch den Tod vieler Touristen aus aller Welt.

Zeugnis echter Hilfsbereitschaft

Jeder Tote hinterlässt Verwandte und Freunde, die um ihn trauern. Alle, die schon einmal einen geliebten Menschen verloren haben, wissen, wie sich die Leere anfühlt, die der Tod hinterlässt. Unter uns sind heute, wie auch beim Gedenkgottesdienst im Berliner Dom vor gut zehn Tagen, Angehörige der Toten. Ich möchte Ihnen sagen: Wir können Ihren Schmerz kaum ermessen, doch wir trauern mit Ihnen. Wir wünschen Ihnen Kraft und wir wünschen Ihnen, dass Menschen an Ihrer Seite sind, die Ihnen beistehen.

Furchtbar ist die Anspannung für Verwandte und Freunde von Vermissten. Wir bangen mit ihnen, auch wenn von Tag zu Tag die Hoffnung kleiner wird. Viele, die wir jetzt noch vermissen, kehren wohl nicht in ihre Heimat zurück. Von vielen werden wir nicht einmal wissen, wo sie geblieben sind. Die Familien werden deshalb kein Grab haben, an dem sie um ihren Sohn oder ihre Tochter, ihren Vater oder ihre Mutter, ihren Mann oder ihre Frau, ihre Schwester oder ihren Bruder trauern können. Ich weiß, dass dies jedem Einzelnen, den dieses Schicksal trifft, fast übermenschliche Kraft abverlangt. Wir versichern Ihnen: Was getan werden kann, um Gewissheit zu bekommen, das wird getan.

Unsere Gedanken sind auch bei denen, die verletzt wurden. Fast alle sind medizinisch versorgt und zurück nach Deutschland gebracht worden. Wir hoffen mit ihnen, dass sie möglichst bald genesen, dass sie, so rasch und gut es geht, das Erlebte verarbeiten und Wege in den Alltag zurückfinden.

Dass die Verletzten und viele Urlauber so schnell in die Heimat zurückfliegen konnten, ist vor allem den zahlreichen Helfern zu verdanken, die jetzt zum Teil schon seit Wochen unermüdlich im Einsatz sind. Wenn uns hier zu Hause schon die Bilder aus den Zeitungen und aus dem Fernsehen aufgewühlt haben, kann man erahnen, was sie erleben und aushalten mussten. Die Helfer stellten sich dem Chaos entgegen, packten an und müssen bis heute Schreckliches verkraften.

Die Männer und Frauen der Hilfswerke leisten Unglaubliches: Die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln funktioniert in vielen Gebieten wieder, die meisten Toten sind geborgen, und die Seuchengefahr ist eingedämmt worden. Ich danke den Helfern in unser aller Namen.

Ich möchte auch die Arbeit der Angehörigen des Auswärtigen Amtes würdigen. Ob in den Katastrophengebieten oder im zentralen Krisenstab: Gerade in den ersten Stunden und Tagen, als verzweifelte Angehörige oder Verletzte um Hilfe gebeten haben, als die Telefone nicht still standen, haben sie unermüdlich, mit großem Pflichtbewusstsein ihren Dienst getan.

Das große Maß an Hilfe ist nur möglich, weil so viele Menschen, gerade auch in Deutschland, den Einsatz unterstützen. Der Spendeneingang und der Einsatz der deutschen Helfer zeugen von echter Hilfsbereitschaft. So war es auch bei der Sturmflut in Hamburg 1962 oder beim Elbhochwasser im Jahr 2002. Aber nicht nur wenn bei uns selber Not herrscht, zeigen die Menschen hierzulande Hilfsbereitschaft und Solidarität.

Schon 1953, bei der großen Flut in den Niederlanden, halfen Deutsche nach Kräften - trotz Armut und eigener Not in der Nachkriegszeit. Ähnliches passierte, als in Polen nach Ausrufung des Kriegsrechts 1981/82 große Not herrschte. In beiden Teilen des damals noch nicht vereinten Deutschlands, vom Ruhrgebiet bis nach Cottbus, haben Vereine, Schulen und Kirchengemeinden Pakete mit Kleidung oder Lebensmitteln nach Polen geschickt.

Und jetzt erleben wir es wieder: Wenn es darauf ankommt, helfen die Menschen in Deutschland.

Millionen private Spender haben mit kleinen oder großen Beträgen, mit dem, was sie für die Flutopfer am Indischen Ozean geben konnten, eine gewaltige Summe zusammengebracht. Die Bundesregierung hat aus öffentlichen Mitteln 500 Millionen Euro bereitgestellt. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe ist das ein angemessener Betrag für unser Land, das - trotz aller Schwierigkeiten - stark und leistungsfähig ist.

Mit den umfangreichen Hilfsgeldern ist auch große Verantwortung verbunden. Die Menschen knüpfen an ihre Spenden mit Recht Erwartungen. Es muss gelingen, dass die zerstörten Küstenregionen nachhaltig wieder aufgebaut werden, dass vor allem bedürftige Familien Unterstützung bekommen, dass Kinder nicht in die Hände von Menschenhändlern geraten, dass ein Tsunami-Frühwarnsystem aufgebaut wird und dass sich niemand auf Kosten der Notleidenden bereichert.

Wichtig ist auch: Nach der ersten lebensnotwendigen Soforthilfe von außen müssen die Menschen in den Katastrophengebieten die Aufbauarbeit selbst in die Hand nehmen. Sie dürfen nicht bloße Empfänger bleiben und nicht in eine Dauerabhängigkeit von fremder Hilfe geraten. Das Prinzip "Hilfe zur Selbsthilfe" gilt auch in diesem Fall.

Doch unsere Erwartungen und Hoffnungen müssen weiter gehen. Als die Flut kam, herrschte in Sri Lanka wie auch in der indonesischen Provinz Aceh Bürgerkrieg. Darunter litt die Bevölkerung schon seit vielen Jahren. Doch in den ersten Stunden und Tagen nach der Flut haben sich Menschen aus verfeindeten Gruppen spontan gegenseitig geholfen - und zum Teil zum ersten Mal überhaupt miteinander gesprochen. Diesen spontanen menschlichen Impuls sollten die Konfliktparteien aufgreifen und Frieden schaffen. Erst dann kann der Wiederaufbau ein Erfolg werden.

Die Bilder von der heranstürzenden Welle, von den vielen Toten, von den trauernden, ratlos vor den Trümmern stehenden Menschen - sie lassen viele zweifeln und hadern. Wenn etwas so Schreckliches passiert, dann möchten wir einen Schuldigen dafür benennen, Verantwortung ausfindig machen. Angesichts dieser Naturkatastrophe aber gibt es keine befriedigende Antwort auf die vielen Fragen nach dem "Warum?".

Gerade die Flut ist ein Urbild für plötzliches und alles zerstörendes Unheil. Sie kommt in den Erzählungen und Mythen aller Kulturen vor. Diese alten Mythen und die Katastrophe, die wir gerade am Indischen Ozean erlebt haben, zeigen uns: Die Natur, unsere Erde ist kein Garten Eden. Auch die Traumstrände sind kein immerwährendes Paradies. Das blaue Wasser des Indischen Ozeans erschien gerade vielen Touristen als ein friedliches Element. Als Bewohner eines modernen Industriestaates wiegten sie sich in der Sicherheit des technischen Fortschritts. Noch als die Welle auf sie zustürmte, blieben einige stehen, filmten und fotografierten, ohne die Gefahr zu erkennen.

Zuwendung und Mitgefühl

Hätten sie rechtzeitig gewarnt werden können, ja sogar müssen? Diese Frage stellt sich unweigerlich. Mit einem Frühwarnsystem hätte es wohl weniger Tote gegeben. Zugleich aber gilt: Wir können nicht alle Gefahren ausschließen. Wir bilden nur einen Teil der empfindlichen Schöpfung. Auch in Zukunft wird die Erde beben, Flüsse werden über die Ufer treten oder Tsunamis Küsten und Inseln überfluten. Auch Umweltschäden, die wir selbst verursachen, werden sich rächen.

Die Kräfte der Natur durchkreuzen die Pläne und Erwartungen der Menschen. Unser Leben ist ein gefährdetes Leben. Früher haben die Menschen auch bei uns das vielleicht besser gewusst, als sie den Naturkräften stärker ausgesetzt waren. Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein trafen zum Beispiel immer wieder Missernten und Hungersnöte auch weite Teile Europas. Der Respekt vor der Natur, vor den ungeheuren Kräften dessen, was viel größer ist als der Mensch, nimmt uns die Illusion, wir hätten mit der Zivilisation garantierte Sicherheit. "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen" - diese uralte Erkenntnis, dieses Gesetz der menschlichen Existenz ist durch nichts außer Kraft zu setzen. Das sollte uns Demut lehren - und ein neues Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Natur.

Wenn wir unsere eigene Endlichkeit und Begrenztheit erkennen, werden wir auch aufmerksam für den anderen in seiner Not und seiner Hilfsbedürftigkeit. Die verheerende Zerstörungskraft der Wassermassen hat überall auf der Welt in den Menschen Zuwendung und Mitgefühl geweckt.

Wir haben mit der Flutkatastrophe in Südostasien begriffen: Wir alle gehören zusammen, wir leben in einer Welt. Im Mittelalter tauchte in der bildenden Kunst, in Erzählungen und Theaterstücken immer wieder das Motiv des Totentanzes auf. Es sollte den Menschen vermitteln, dass die sozialen Unterschiede angesichts des Todes ihre Bedeutung verlieren. Egal ob König oder Bauer, Papst oder Knecht - alle werden aus dem Leben gerissen. Heute liegen die sozialen Grenzen oft zwischen den Kontinenten, zwischen einzelnen Regionen und Ländern. Aber auch heute gilt: In der Not zählt der Unterschied nicht mehr. Wir gehören alle zusammen.

Nun mögen einige einwenden, dass nur eine Katastrophe, bei der Touristen aus aller Welt starben, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl mit fernen Ländern hervorrufen konnte. Andere werden sagen, dass nur die starke Medienpräsenz diese Hilfsbereitschaft ausgelöst habe. Wir können doch aber froh darüber sein, dass Medien und Tourismus mit dazu beitragen, dass wir uns als die eine Welt fühlen und begreifen. Wichtig erscheint mir vor allem das Ergebnis - das tätige Zusammenstehen der Menschen aus allen Nationen. Wir sehen unsere Welt neu, wir entdecken Partnerschaften mit entfernten Regionen, und wir schöpfen so neue Kraft zum Handeln. Das gibt Hoffnung. Und das macht Mut.

Ich wünsche mir, dass dieses Bewusstsein "wir müssen für den anderen da sein" anhält. Überall auf der Welt gibt es Menschen in Not - sei es durch Naturkatastrophen wie jetzt am Indischen Ozean, sei es durch Armut, Krieg und Aids wie in Afrika. Ich denke, die Zeit ist gekommen, neu über die Zusammenarbeit der Staatengemeinschaft nachzudenken - und auch über die Hilfe für arme Länder insgesamt. Wann - wenn nicht jetzt - werden wir die Kraft finden, unser Handeln auch als Weltinnenpolitik zu verstehen?

Was in den vergangenen Wochen am Indischen Ozean geschehen ist, wird sich in das Gedächtnis der Menschheit einbrennen. Viele aus unserem Land hat die Katastrophe persönlich betroffen. Sie kennen Orte wie Phuket, Khao Lak oder die Malediven, weil sie selber im Urlaub schon einmal dort waren. Viele trauern um Tote, bangen um Vermisste oder kennen Verletzte. So hat die Trauer auch unser Land erfasst. Vielleicht ist es den Angehörigen und Freunden der Opfer, die sich in ihrem Schmerz hilflos und allein fühlen, ein Trost, dass wir an sie denken und mit Ihnen trauern. Ich hoffe es. Ein tiefer Trost für mich sind immer wieder die Zeilen aus dem Adventlied von Jochen Klepper, die ich Ihnen allen sagen möchte:

"Die Nacht ist vorgedrungen,

der Tag ist nicht mehr fern.

So sei nun Lob gesungen

dem hellen Morgenstern.

Auch wer zur Nacht geweinet,

der stimme froh mit ein.

Der Morgenstern bescheinet

auch Deine Angst und Pein."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.