Jahrzehntelang prägte die katholische Sozialethik die wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung in Deutschland. In der Union, aber auch in der SPD hatten Sozialethiker wie der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning erheblichen Einfluss. Mit fortschreitender Entchristlichung lässt die Bedeutung christlicher Sozialethik nach - auch in der Katholischen Kirche, wie der heutige Leiter des Oswald-von-Nell-Breuning-Instituts an der jesuitischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt beklagt. Professor Friedhelm Hengsbach SJ kritisiert die Akzeptanz der "Agenda 2010" durch die katholischen Bischöfe als sichtbares Zeichen von Bürgerlichkeit der Kirche.
Wie die Bischöfe hätten sich auch Beamte und Politiker, die mit den "Arbeitsmarktreformen" die Gesellschaftsspaltung vorantrieben, soweit von der Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen entfernt, dass sie die Ergebnisse des Sozialabbaus schlicht nicht mehr wahrnehmen würden. Falls doch, sei es ihnen gleichgültig. Hengsbach will dagegen wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklungen von den Betroffenen aus beurteilen. Menschen seien nicht nur als Kostenfaktor oder als Mitglieder der Erwerbsgesellschaft zu bewerten.
So begründet spricht Hengsbach der rot-grünen Sozialpolitik das Etikett "Reform" ab, da es nicht um gerechte Verbesserungen, sondern um sozial ungerechte Verschlechterungen gehe. Es handele sich lediglich um eine auf kurzfristige Wirkungen zielende Schau, die wegen wahlpolitischer Erfolge willen langfristige negative Entwicklungen in Kauf nehme - eben um ein "Reformspektakel".
Hengsbach hält die kapitalistische Marktwirtschaft für das vergleichsweise erfolgversprechendste Wirtschaftsmodell. Wenn es aber nicht solidarisch sozialstaatlich abgesichert werde, ruiniere es seine Grundlagen. Diese zu erhalten erfordere wesentlich mehr Respekt für den menschlichen Faktor.
Seine sozialethisch begründete Forderung untermauert Hengsbach kenntnisreich mit einer gut lesbaren Auseinandersetzung mit den ideologischen Begründungen der Agenda-Politik. Er weist nach, dass diese aus der Not der arbeitsmarktpolitischen Misserfolge der Regierung Schröder begründet war und setzt sich mit den Begründungen "Globalisierung" und "demographische Entwicklung" auseinander.
Erleichtert wird die Lektüre dadurch, dass die Begründungen für die Agenda-Politik jeweils vor ihrer Widerlegung redlich zusammengefasst werden. Hinsichtlich der Globalisierung verweist Hengsbach auf die Vorteile, die entwickelte Industriegesellschaften wie die deutsche von der wirtschaftlichen Vernetzung haben. Gegen negative Entwicklungen etwa auf den Finanzmärkten müssten die Regierungen den Mut zum Gegensteuern entwickeln.
Dass die deutsche Gesellschaft älter und kleiner wird, bestreitet Hengsbach nicht, doch liege die demographische Entwicklung im langjährigen Trend. Es komme nicht ausschließlich auf die Generationenfolge, sondern in erster Linie auf die Entwicklung der Produktivität in der Bundesrepublik an. Die hohe Massenarbeitslosigkeit zeige, dass bei weitem nicht alle Begabungsreserven in der Gesellschaft ausgeschöpft würden.
Die überzeugend begründete Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik der rot-grünen Regierung, aber auch an der Politik von deren Vorgängerin, nutzt Hengsbach zur Skizzierung eines am Menschen orientierten sozialpolitischen Programms. "Der Sozialstaat wird ... als Kostenfaktor und Wachstumsbremse entwertet. Mit gleichem Recht kann er jedoch als Produktivitätsbeitrag und Wachstumsmotor gedeutet werden. Denn der soziale Friede in den Unternehmen ist ein positiver Standortfaktor und eine Grundlage stabiler Profiterwartungen." Zudem gewähre eine sozialstaatliche Absicherung - eine These, die wiederholt auch von Oswald von Nell-Breuning ins Feld geführt wurde - überhaupt erst demokratische Teilhabe.
So mündet das Buch auch in eine Diskussion über Werte, die eine Gesellschaft in der Zeit der Globalisierung zusammenhalten. Wie von einem katholischen Sozialethiker nicht anders zu erwarten, fordert er eine Neubewertung der "verschlissenen" Solidarität als fundamentales gesellschaftliches Prinzip. Die Wertschätzung des "Faktors Mensch" erschließt sich nicht zuletzt daraus, dass der Autor seine Leser ernst nimmt. Er entfaltet seine Argumentation weitestgehend sprachlich verständlich und nachvollziehbar.
Friedhelm Hengsbach
Das Reformspektakel.
Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient.
Herder Verlag, Freiburg/Br. 2004; 192 S., 9,90 Euro