Ihre Zeit ist seit langem vorbei. War sie nun eine erfolgreiche Bewegung oder ist sie gescheitert? Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort. Auch Kuhn kann sie nicht geben, denn die Arbeiterbewegung hat einerseits maßgebend die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mitgeprägt, andererseits hat sie eine Reihe bitterer Niederlagen, insbesondere 1933, erlitten, von denen sie sich nach 1945 nicht mehr erholt hat.
Kuhn lässt die deutsche Arbeiterbewegung 1832 in Paris mit der Gründung des Deutschen Volksvereins einsetzen, einem Zusammenschluss von demokratisch gesinnten Kaufleuten, Handwerkern und aus Deutschland geflohenen Intellektuellen, aus dem schon kurz darauf, 1834, der "Bund der Geächteten" hervorging. Er beschreibt die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den deutschen Staaten vor der Revolution von 1848, umreißt die Rolle der jungen Bewegung in der Umwälzung von 1848/49 und charakterisiert den bedrückenden Arbeiteralltag während der industriellen Revolution, der Reichsgründungszeit und im Kaiserreich, in dem die Sozialdemokratie zeitweise verboten war.
Godesberger Programm
Weitere Kapitel gelten der Spaltung der Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg, der (gescheiterten) sozialistischen Revolution von 1918/19, dem Widerstand in der Zeit der NS-Diktatur sowie der Arbeiterbewegung im geteilten Deutschland. Der Überblick endet 1959 mit der Neuorientierung der SPD im Godesberger Programm.
Kuhn begründet diese frühe Zäsur mit dem Wandel der SPD von einer Arbeiter- zu einer Volkspartei. Die westdeutschen Gewerkschaften hätten sich im Gegensatz zur Sozialdemokratie weniger als eine politische Kraft verstanden, sondern als eine Bewegung, die primär die ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft vertrat.
Nur scheinbar bedeutete die DDR den "historischen Sieg der Arbeiterklasse". Die SED erhob zwar weiterhin den Anspruch, Arbeiterinteressen zu vertreten, hatte aber ihre Glaubwürdigkeit vollends mit der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 verloren. Kuhn gelingt eine komprimierte und kompetente Darstellung, die den Stand der kaum mehr überschaubaren Forschung zur Arbeiterbewegung zusammenfasst. Das Kapitel "Aspekte" greift zentrale theoretisch-programmatische Entwürfe wie folgenreiche historische Vorgänge auf, die in der Arbeiterbewegung auch selbst umstritten waren und die in der historischen Forschung teilweise bis auf den heutigen Tag kontrovers gedeutet werden.
Scheitern in der Weimarer Republik
Wer mit der politischen Ereignisgeschichte ein wenig vertraut ist, wird gerade diese zehn erörternden Abschnitte mit Gewinn lesen, etwa die zur Novemberrevolution, zur Spaltung der Arbeiterbewegung, zur marxistischen Revolutionstheorie oder zur Rolle der SPD nach Godesberg. Hier werden - allerdings wenig differenziert - auch die Gründe benannt ("Systemgrenze"), warum weiterreichende Reformprojekte bereits seit der Weimarer Republik scheiterten.
Ein wenig enttäuschend wirken zunächst die für den dritten Teil ausgewählten 30 Quellen. Hier handelt es sich überwiegend um programmatische Verlautbarungen der Sozialdemokratie seit 1844 bis zum Godesberger Programm. Wer wichtige Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung sucht, findet hier eine repräsentative Auswahl.
Allerdings dominiert die Perspektive "von oben", etwa Erklärungen der Parteiführung in historischen Umbruchsituationen, Stimmen von intellektuellen Repräsentanten der Sozialdemokratie. Ausgeblendet werden Perspektiven von "einfachen" Parteimitgliedern, die auf ihre Weise die Geschichte deuten. Ausgeblendet werden ferner in dieser primär politikgeschichtlichen Arbeit die zahlreichen Freizeit- und Kulturorganisationen der Arbeiterbewegung, in denen Millionen von bildungsoffenen Arbeitern über Generationen hinweg eine soziale und kulturelle Heimat fanden.
Hartmann WundererAxel Kuhn
Die deutsche Arbeiterbewegung.
Philipp Reclam jun, Stuttgart 2004; 366 S, 8,80 Euro