Die Diagnose schien erschreckend: Die westliche Gesellschaft sei "immer stärker vom Verlust aller moralischen Normen bedroht", neige zur Selbstsucht und werde "von Raffgier, egoistischen Interessen und einem ungebrochen Machtstreben" angetrieben. So pessimistisch war das Fazit einer Gruppe von Wissenschaftlern, die sich selbst als Kommunitarier bezeichneten und die 1994 mit einem Manifest mit dem Titel "Die Stimme der Gemeinschaft hörbar machen" auf sich aufmerksam machte. Zu ihnen gehörten neben dem Soziologen Amitai Etzioni die Clinton-Berater Benjamin Barber und William Galston ebenso wie der Soziologe Robert Bellah und die Philosophen Alasdair McIntyre, Charles Taylor und Michael Walzer.
Ihre Thesen entfachten eine öffentliche Debatte in den Vereinigten Staaten, die schnell nach Europa überschwappte - obwohl sie nicht neu war. Bereits in den 80er-Jahren hatten sich Theoretiker zusammengefunden, die heftige Kritik am vermeintlich überbordenden Individualismus des Liberalismus übten. 1993 gründete Etzioni schließlich ein Netzwerk, das die Ideen der Kommunitarier auf die Straßen tragen wollte - das Manifest sollte dafür der erste Schritt sein. Im Mittelpunkt des kommunitaristischen Denkens steht der Versuch, eine "gute Gesellschaft" zu schaffen, eine aktive Gesellschaft freier Bürger, in der soziale Gerechtigkeit ebenso verankert ist wie Würde und Toleranz. Die Kommunitarier glauben, der moderne Dienstleistungs- und Wohlfahrsstaat verhindere wirtschaftliches und soziales Engament und stehe der Entfaltung zwischenmenschlicher Tugenden im Wege. In seiner Kritik am modernen Staat greift der Kommunitarismus auf eine lange Tradition zurück. Schon Alexis de Tocqueville monierte 1840 in seiner Demokratieanalyse: "Der Individualismus ist demokratischen Ursprungs, und er droht sich in dem Grade zu entfalten, wie die gesellschaftliche Einebnung zunimmt." Wenn die Auflösung der traditionalen Gemeinschaften erst vollzogen sei, würden die Menschen nebeneinander stehen, "ohne dass ein gemeinsames Band sie zusammenhält". Daran knüpft insbesondere Robert Bellah an, wenn er vorhersagt, der Individualismus werde zu einem Atomismus mutieren und die amerikanische Gesellschaft sich daher selbst zerstören.
Die Strategien der Kommunitarier sollen diese Entwicklung stoppen. Sie fordern das Wiederaufleben
alter Gemeinschaftsformen, traditioneller "social habits", die den Gemeinsinn in den USA lange Zeit geprägt haben, und die Schaffung neuer zwischenmenschlicher Strukturen, die der Vereinzelung entgegenwirken. Soziale Gerechtigkeit basiert in diesem Konzept auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, gemäß dem kommunitaristischen Motto: "Jedes Mitglied der Gemeinschaft schuldet allen gegenüber etwas, und die Gemeinschaft schuldet jedem ihrer Mitglieder etwas". Dabei verlange man keine Selbstaufopferung, "sondern das stete Bewusstsein, dass keiner eine Insel ist, vom Schicksal anderer unberührt bleibt". Gefordert werden "gute Staatsbürger" - was diese jedoch auszeichnet, bleibt vage. Im kommunitaristischen Manifest heißt es dazu: "Ein guter Staatsbürger engagiert sich in einer Gemeinschaft oder Gemeinschaften, ist aber nicht notwendigerweise in der Politik aktiv." Auch der Weg zum Ziel bleibt nebulös: "Wir Kommunitarier wollen mit unseren Mitbürgern den Wandel in den Werten, Sitten und politischen Strategien herbeiführen, der uns im gesellschaftlichen Bereich das zu tun erlaubt, was die ökologische Bewegung im Bereich der Natur anstrebt: unsere Zukunft zu sichern und zu stärken."
Im kommunitaristischen Weltbild wird dem Guten, das die Vorstellungen und Werte beschreibt, die eine Gemeinschaft teilt, der Vorrang vor dem Recht eingeräumt. Damit, so Etzioni, gehe einher, dass "die Spannweite des Gesetzes selbst weitgehend auf das beschränkt bleiben bleiben muss, was von der Stimme der Moral unterstützt wird". Dieses Rechtsverständnis rief schnell Kritiker wie den Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber auf den Plan. Er monierte, der Kommunitarismus laufe auf "einen bloßen Sittlichkeitspositivismus heraus", der bestehende Tugenden und Werte durch ihre schlichte Existenz rechtfertige und in seiner Überhöhung der eigenen Gemeinschaft letztlich einen "Rückgang von Freiheit und Toleranz" mit sich bringe.
Trotz aller Kritik wurden die Ideen der Kommunitarier schnell von westlichen Politikern aufgenommen: Während Clinton 1996 erklärte, die Zeit des "big governement" sei vorbei und sich damit in die Reihe der Kritiker des Wohlfahrstaates einreihte, rekurrierte Tony Blair in seinem Wahlkampf 1997 ganz im Sinne der Kommunitarier auf konservative Werte in der Sozialpolitik. Für Deutschland bilanzierte der Politikwissenschaftler Walter Reese-Schäfer Mitte der 90er-Jahre, dass sowohl die Theoretiker von SPD und Grünen wie auch der CDU das "zeitdiagnostische Potential" lobten. Der Kommunitarismus, der sich als Brückenkonzept von der alten zur neuen Sozialdemokratie versteht, avancierte schnell zum vielversprechenden Konzept für alle jene, die in Politik und Gesellschaft nach einem so genannten "dritten Weg" suchten.
Dieser dritte Weg, so stellte der Journalist Werner A. Perger im September 1999 in der "Zeit" fest, sei "der größte Erfolg des politischen Ideen-Marketing seit dem Kommunistischen Manifest". In der Tat schicken sich Politiker ebenso wie Philosophen und Sozialwissenschaftler immer wieder an, dritte Wege einzuschlagen. Sie werden angetrieben von der Überzeugung, es gebe zwei Wege, die in die Irre geführt hätten und einen Pfad, der ans Ziel führt und dabei die Extreme vermeidet. Schon Aristoteles galt die Mitte als Garant von Stabilität und Glückseligkeit im Gemeinwesen - und noch heute verspricht die Metapher des dritten Weges eine neue Option, die dem pragmatisch Notwendigen und politischen Machbaren eine Perspektive geben will. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vermutete man die dritten Wege meist im Raum zwischen den ideologischen Alternativen Kommunismus und Kapitalismus. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack versuchte ebenso einen gangbaren Pfad zwischen Laissez-faire- Ökonomismus und staatlicher gelenkter Planwirtschaft zu finden wie sich die Alternativvorstellungen des Prager Frühlings und der Oppositionellen um einen Weg bemühten, auf dem man das Ziel eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz erreichen würde.
Der Zusammenbruch des Kommunismus brachte zwar den Abschied von den alten Fronststellungen - die Suche nach dem dritten Weg beendete er jedoch nicht. Gesucht wird nun nach Alternativen zwischen dem bevormundenden Sozialstaat auf der einen und der ungeregelten Marktwirtschaft auf der anderen Seite. Insbesondere die politische Linke griff in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts begierig nach dem Etikett des dritten Wegs und nutzte beherzt die kommunitaristische Rhetorik. Hinter dieser Strategie verbarg sich keineswegs die Suche nach einer neuen Theorie, sondern, wie es der Politikwissenschaftler Roland Sturm ausdrückte, "die Notwendigkeit, den Wählern ein neues Produkt anbieten zu müssen": Aus der Demokratischen Partei in den USA wurden die New Democrats Bill Clintons, die Labour Party wandelte sich zu Tony Blairs New Labour, und die SPD entdeckte plötzlich, dass sie die Heimat der neuen Mitte sei.
Der Vordenker der britischen Reformpolitik und Direktor der London School of Economics, Anthony Giddens, versuchte die strapazierte Worthüllse des dritten Wegs mit Inhalt zu füllen: Er sei Etikett einer modernisierten Sozialdemokratie zwischen einer alten etatistischen Linken und einer neuen neoliberalen Rechten. Globalisierung, technischer Wandel und Individualisierung seien die Herausforderungen der modernen Industriegesellschaften. Doch kann der Kommunitarismus
diese Herausforderungen meistern? Nach der Blütezeit des Kommunitarismus in den 90er-Jahren ist die Debatte um das Konzept heute weitgehend verstummt. Niemand fragt mehr nach der neuen Mitte und selbst Etzioni, einst an vorderster Front im Kampf gegen den Liberalismus, bezeichnet sich heute als "kommunitären Liberalen". Scheint, als sei einmal mehr ein vermeintlich dritter Weg im Sande verlaufen.
Susanne Kailitz ist Volontärin bei "Das Parlament".