Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 07 / 14.02.2005
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Heiko Ostendorf

Rettende Hilfe aus dem Ausland?

Die Bedeutung von Zuwanderung für die sozialen Dienste

Brauchen wir Zuwanderung, um die sozialen Dienste vor Versorgungslücken zu bewahren? Immerhin stehen die Sozial- und Pflegedienste vor einem Problem: Die Zahl der Menschen, die in häuslicher Umgebung oder in Altenheimen gepflegt werden müssen, wird aufgrund der demografischen Entwicklung drastisch steigen, wie beispielsweise die Befragung "Pflege-Thermometer 2004" des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (dip) in Köln feststellt. Gleichzeit prognostiziert dip, dass die Ausbildungszahlen in den Pflegeberufen zurückgehen werden. Der Nachwuchs fehlt.

So ist sich Thomas Bauer, Vorstandsmitglied beim Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, sicher, dass an der Anwerbung ausländischer Fachkräfte kein Weg vorbei führen wird, wenn der zukünftig steigende Bedarf an Pflegepersonal gedeckt werden soll: "Wir werden überlegen müssen, ob wir nicht ausländische Personen, die diese Tätigkeiten in den Pflegeberufen übernehmen können, ins Land holen, um kurzfristig Lücken zu schließen."

Schon jetzt sieht das letzte Jahresgutachten des von Innenminister Otto Schily (SPD) eingesetzten Zuwanderungsrates einen akuten Bedarf von 25.000 ausländischen Fachkräften in Deutschland. Darunter auch im Gesundheitsbereich. "Das wird die Pflege nicht retten", meint Pflegewissenschaftler Michael Isfort vom Deutschen Institut für Pflegeforschung in Köln. Es sei aber durchaus eine Möglichkeit, auf die drohenden Lücken beim Personalbedarf zu reagieren. Und: "Die demografische Entwicklung mahnt an, jede Alternative zu nutzen", betont Isfort den Handlungsbedarf. Immerhin erwartet der Bundesverband der Diakonie in den nächsten 20 Jahren einen zusätzlichen Bedarf von rund 400.000 Pflegefachkräften.

So sieht auch der Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) in Essen in der Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland durchaus eine geeignete Maßnahme, um dem Mangel an Personal bei Pflegediensten entgegenzuwirken. Darunter dürfe allerdings die Qualität der Versorgung nicht leiden, betont Oliver Aitcheson, Justitiar beim VDAB: "Wir müssen darauf achten, dass entsprechende Qualifikationen dieser Kräfte vorliegen, sie müssen entsprechend ausgebildet sein, damit der qualitative Standard in der Pflege hier zu Lande gehalten wird."

Spezielle Bedürfnisse der Patienten

Über Zuwanderung in der Pflege nachzudenken, ist laut Aitcheson auch wichtig, weil die Gastarbeiter aus der ersten Generation jetzt in ein Alter kommen, in dem sie Pflege benötigen könnten. Dafür brauchen die Pflegedienste geeignetes Personal. Dass die Vorrausetzungen dafür schon erfüllt sind, bezweifelt Thomas Bauer vom RWI: "Ich befürchte, dass die meisten unserer Pflegedienste nicht auf die speziellen Bedürfnisse dieser Patientengruppen eingestellt sind." Das fange beim Essen für Muslime an und höre bei der Sprache auf.

Zwei Pflegedienste haben diese Marktlücke längst erkannt: "asisa" in Bochum und der Pflegedienst "Julia" im westfälischen Münster. Beide beschäftigen schon jetzt Fachkräfte, die aus Osteuropa stammen, denn der größte Teil ihrer Kundschaft kommt ebenfalls aus den ehemaligen Sowjetstaaten. Aber auch deutsche Patienten stehen in ihren Kundenkarteien. Für Larissa Impris von "asisa" überhaupt kein Problem: Die deutschstämmigen Patienten seien genauso glücklich und zufrieden wie die anderen Kunden, weiß sie aus Gesprächen mit den Pflegebedürftigen.

Auch die Pflegedienstleiterin bei "Julia", Martina Wroblewski, wehrt alle Vorurteile ab, dass sich sprachliche Defizite seitens des Personals oder kulturelle Barrieren zu den deutschen Pflegebedürftigen aufbauen würden: "So groß ist der kulturelle Unterschied auch nicht." Auch fachlich können Impris und ihre Münsteraner Kollegin alles andere als klagen, obwohl "die meisten meinen, die von da drüben kommen, hätten keine Ahnung", kennt Wroblewski die Befürchtungen. Das Wissen ihrer osteuropäischen Fachkräfte sei dagegen sogar eher breiter gefächert, als bei den deutschen Kollegen.

"Insgesamt muss man sagen, dass insbesondere die osteuropäischen Arbeitskräfte sehr sehr gut qualifiziert sind", stimmt Bauer vom RWI zu und schlussfolgert, dass daher die Anpassung der Migranten bei den Sozial- und Pflegediensten weniger problematisch sein dürfte als in anderen Berufen.

Larissa Impris würde gerne noch weiteres Personal aus Osteuropa zu "asisa" holen, denn ihr Kundenstamm mit Patienten aus diesen Ländern wird größer. Doch es gibt ein scheinbar nicht überwindbares Hindernis. Von der Arbeitsagentur vor Ort erhält Impris immer die gleiche Auskunft: Die Anwerbung von Fachkräften aus Russland, Weißrussland oder der Ukraine sei nicht möglich. Es gebe keine Rechtsgrundlage, um Fachkräfte aus diesen Ländern am deutschen Arbeitsmarkt zuzulassen.

Ruf nach einem flexiblen Gesetz

Bauer fordert daher ein flexibleres Zuwanderungsgesetz, das noch mehr auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes ausgerichtet ist. Das für das Zuwanderungsgesetz ursprünglich vorgesehene und vom Zuwanderungsrat empfohlene Punktesystem wird seiner Meinung nach wieder auf die Agenda kommen müssen. Es ist seinerzeit im Vermittlungsausschuss zwischen Regierung und Opposition auf der Strecke geblieben.

Doch zieht es die Pflegefachkraft aus Osteuropa auch unweigerlich nach Deutschland, um hier bei Bedarf die Lücken am Arbeitsmarkt zu füllen? Was haben wir einem qualifiziertem Menschen aus dem Ausland zu bieten? Immerhin steht nicht nur die Bundesrepublik unter Einfluss des demografischen Wandels. Auch andere Länder in der Europäischen Union altern, und auch dort steht eine drastische Verringerung des Erwerbspersonenpotenzials bevor, wie das Jahresgutachten des Zuwanderungsrates anmerkt. Für Bauer tritt Deutschland somit in Konkurrenz mit Italien, Spanien, Frankreich und anderen EU-Ländern um qualifiziertes Personal aus Nicht-EU-Ländern.

"In diesem Wettbewerb ist Deutschland nicht gut gerüstet", warnt Bauer. Andere Länder in der EU können dem Einwanderer eine langfristige Perspektive bieten. In Deutschland hilft da auch das neue Zuwanderungsgesetz nicht weiter: Der Aufenthalt bleibt auf bestimmte Zeit begrenzt. Da besteht die Gefahr, dass sich die Fachkraft aus dem Ausland das Land aussucht, in dem sie die besseren Lebensperspektiven hat.

Außerdem muss die Anerkennungspraxis ausländischer Pflegefachkräfte neu gestaltet werden. "Die berufliche Qualifikation prüfen kann man schnell oder sehr administrativ und langsam machen", bemängelt Bauer die momentane Praxis der Anerkennung: "Hier müsste man eher den schnellen Weg einschlagen."

Und nicht nur das. Klaus-Jürgen Bade, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Zuwanderungsrates, kritisiert den Umgang mit ausländischen Qualifikationen im Allgemeinen, denn schon jetzt werden Einwanderer nicht ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt: "Wir haben eine grottenschlechte Anerkennungspraxis. Denn die Examina vieler Spätaussiedler, also anerkannte Deutsche, werden nicht anerkannt." Das führe zu einem eklatanten Missverhältnis zwischen der formalen Qualifikation der Einwanderer und der Nutzung ihrer Fähigkeiten.

Damit müsse Schluss sein, fordert Bade: "Wir können uns diese Vergeudung und Austrocknung von Humankapital nicht mehr leisten. Damit sind wir nicht konkurrenzfähig." Dabei könnte die Lösung so einfach sein. Wenn sich bei der Prüfung der beruflichen und sprachlichen Fähigkeiten der Staat viel mehr zurück-halten würde, wäre schon mal viel gewonnen, ist Bauer vom RWI überzeugt: "Wieso muss die Bundesagentur für Arbeit prüfen, inwieweit ein Zuwanderer befähigt ist, im Pflegebereich zu arbeiten?" Die gesamte Verantwortung könne viel wirkungsvoller den Arbeitgebern überlassen werden. Die Einstellung von schlecht qualifiziertem Personal mit sprachlichen Defiziten würde den Pflegediensten nur schaden, weil ihnen dann Kunden verloren gehen.

Außerdem: "Wenn dieser einzustellende Ausländer schon regulär in Deutschland ist und sich bei einem privaten Pflegedienst bewirbt, prüft ja auch nicht die Arbeitsagentur, ob diese Person wirklich in dieser Einrichtung arbeiten darf, sondern ganz allein der Unternehmer", gibt Bauer zu bedenken.

Heiko Ostendorf ist freier Journalist in Münster.


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