Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 08 / 21.02.2005
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Nicole Alexander

Das jähe Ende einer unbeschwerten Jugend

Wenn Kinder Kinder bekommen: Teenagerschwangerschaften nehmen zu

Ihre unbeschwerte Kindheit ist vorbei, lange bevor Nadia (Name geändert) schwanger wird: Ihre Mutter stirbt an Brustkrebs, da ist sie 14 Jahre alt. "Seitdem waren wir eigentlich keine richtige Familie mehr", meint Nadia heute. Mit ihrem Vater, einem aus dem Iran stammenden Ingenieur, gibt es ständig Streit. Discobesuche sind streng verboten, modische Klamotten ebenfalls. "Ein radikaler Mensch ist er bestimmt nicht", sagt die zierliche 20-Jährige über ihren Vater. "Aber über mich und meine jüngere Schwester will er halt immer die Kontrolle haben."

In Nadias Fall geht das gründlich schief. Mit 15 lernt die Gymnasiastin Mahmud kennen, einen Kurden. Er ist zehn Jahre älter als Nadia, eine Ausbildung hat er nicht - Nadia weiß, dass ihn ihr Vater nie akzeptieren würde. Deswegen trifft sie sich heimlich mit Mahmud. Anderthalb Jahre dauert das Versteckspiel. Bis Nadia - da ist sie 16 - feststellt, dass sie schwanger ist.

Auch Katrin (Name geändert) hat schon allerhand miterlebt in ihrem jungen Leben. Als sie 13 ist, wandert ihre Mutter wegen Betrug ins Gefängnis. Während die Mutter ihre Haft absitzt, beschließt die Tochter, ein Kind zu bekommen. Ihrem damaligen Freund erzählt sie nichts von ihrem Vorhaben. "Ich habe mich so einsam gefühlt, deswegen wollte ich unbedingt ein Baby", erzählt die 18-jährige Mutter eines dreijährigen Sohnes.

Zwei Mädchenschicksale, die sich in ähnlicher Form immer häufiger in Deutschland abspielen: Seit Jahren steigt die Zahl der Schwangerschaften von Minderjährigen. 2003 erwarteten 12.776 minderjährige Mädchen ein Kind. Zum Vergleich: 1996 waren es 9.490. Dieser Anstieg war auch der Grund für eine Kleine Anfrage, die die CDU/CSU-Fraktion zum Thema "Teenagerschwangerschaften" Ende letzten Jahres stellte (Drucksache 15/4441). Die Bundesregierung antwortete am 20. Dezember 2004, dass sie die Zunahme von Schwangerschaften Minderjähriger sehr ernst nehme, aber nicht für besorgniserregend halte (Drucksache 15/4580).

Mit dem Anstieg der Teenagerschwangerschaften vollzieht sich in Deutschland ein umgekehrter Trend als in den OECD-Staaten insgesamt. Denn nach einer Studie des Kinderhilfswerks UNICEF aus dem Jahr 2002, die die Lebenssituation von Teenager-Müttern in 28 OECD-Staaten untersucht, hat sich die Zahl der Geburten bei Jugendlichen in den vergangenen drei Jahrzehnten halbiert. Insgesamt werden in diesen Ländern jährlich rund 1,25 Millionen Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren schwanger, etwa 500.000 von ihnen brechen die Schwangerschaft ab.

Die meisten Teenager-Mütter leben in den USA. Dort ist die Geburtenrate mehr als doppelt so hoch wie in den meisten anderen OECD-Ländern: Auf 1.000 junge Frauen kommen 52 Geburten. In Europa ist Großbritannien Spitzenreiter. Durchschnittlich 31 von 1.000 Teenagern bringen dort ein Kind zur Welt. Die niedrigste Rate von etwa sieben Geburten pro 1.000 Frauen unter 20 Jahren verzeichnen Korea, Japan, die Schweiz, die Niederlande und Schweden. Deutschland liegt im internationalen Vergleich mit 13 Geburten je 1.000 Frauen unter 19 Jahren im Mittelfeld.

Mangelnde Aufklärung ist einer der Hauptgründe für Teenager-Schwangerschaften. Eine Studie, für die das Robert-Koch-Institut in Berlin vor zwei Jahren 881 Schülerinnen der sechsten Klasse sowie 1.030 Schüler und Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse befragte, offenbarte enorme Wissenslücken der Teenies vor allem bei den Themen Verhütung und Schwangerschaft. 61 Prozent der Sechstklässlerinnen gaben an, dass im Unterricht selten oder überhaupt nicht darüber gesprochen worden sei. Da die Mädchen jedoch immer früher geschlechtsreif werden - viele bekommen bereits mit neun oder zehn Jahren ihre erste Periode -, muss in der Schule entsprechend frühzeitig aufgeklärt werden, fordern vor allem Mediziner.

Zugleich stehen die Jugendlichen in Sachen Sex unter enormem Erfolgsdruck - nach dem Motto: Alle haben schon, nur ich nicht. So schätzten die vom Robert-Koch-Institut befragten Schülerinnen den Anteil der Altersgenossinnen, die bereits Geschlechtsverkehr gehabt haben, deutlich höher ein, als er tatsächlich liegt.

Doch entscheiden sich auch viele junge Mädchen - ähnlich wie Katrin - bewusst für eine Schwangerschaft oder wünschen sie sich zumindest unbewusst herbei - meist ohne sich im Klaren darüber zu sein, was es bedeutet, für ein Kind verantwortlich zu sein. Oft kommen sie aus sozial schwachen Familien, in denen Alkoholmissbrauch, Misshandlungen und sexuelle Gewalt an der Tagesordnung sind. "Weil diese jungen Mädchen sonst kaum eine Perspektive haben, stellt sich ihnen eine Schwangerschaft oft als Lösung des eigenen Lebensdilemmas dar", erklärt Gaby Daiber, Sozialpädagogin im Kinder- und Jugendhilfeverbund des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks in Berlin. Das Kind gibt ihnen die Hoffnung auf einen Neubeginn und soll ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit erfüllen.

Als Katrin ihrer Mutter erzählt, dass sie schwanger ist, erhält sie eine Tracht Prügel. Die Mutter verlangt, dass Katrin abtreiben soll. Doch die 14-Jährige ist fest entschlossen, ihr Baby zu bekommen. Nadia hingegen ist sich lange unschlüssig, ob sie das Kind zur Welt bringen soll. Tag und Nacht überlegt sie hin und her, streitet sich mit ihrem Freund. Der stellt sie vor die Alternative: Entweder du treibst ab oder ich gehe!

Als sich Nadia schließlich für das Kind entscheidet, macht Mahmud seine Drohung wahr und verlässt sie. Für die 16-Jährige ist das Verhalten ihres Freundes ein Schock. Doch untypisch ist es nicht: Fast immer leugnen die Partner minderjähriger Frauen ihre Mitverantwortung an deren Schwangerschaft und lassen die werdenden Mütter allein.

Nadia ist klar: Lange wird sie ihren wachsenden Bauch vor ihrem Vater nicht mehr verstecken können. Als sie ihm eines Tages ihre Schwangerschaft "gesteht", fällt seine Reaktion aus, wie befürchtet: Er schreit, sie sei eine Schande für ihn und seine Familie. Daraufhin beschließt die Schülerin, von zu Hause aus- und in ein Mutter-Kind-Haus zu ziehen.

Solche Einrichtungen des Betreuten Wohnens, in denen allein erziehende Frauen (oder Männer) mit ihren Kindern leben, solange diese unter sechs Jahre alt sind, gibt es in jeder größeren Stadt. Die Kosten für die Unterbringung - so regelt es das Kinder- und Jugendhilfegesetz - übernimmt das Jugendamt. Sozialpädagoginnen sorgen für die Schwangeren und Mütter und unterstützen sie in allen Lebenslagen. Das reicht von der Geburtsvorbereitung über die Haushaltsführung bis hin zu Behördengängen.

Das Wichtigste jedoch, erklärt die Sozialpädagogin Andrea Rakers vom Berliner Verein "Leben Lernen e. V.", ist, "gemeinsam zu klären, ob Mutter und Kind auf Dauer zusammen bleiben". Denn viele der Teenager sind mit der Mutterrolle überfordert. Sie fühlen sich durch das Kind stark eingeengt und konkurrieren mit ihm um Liebe und Zuwendung. "Die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und zu akzeptieren, fällt den jungen Müttern oft schwer", sagt Rakers.

Auch Nadias Verhältnis zu ihrem kleinen Sohn ist fragil. Manchmal ist sie kurz davor, ihn zu Pflegeeltern zu geben. Erst allmählich akzeptiert sie ihre Rolle als allein erziehende Mutter. Das Verhältnis zu ihrem Vater bleibt schwierig. Ihr Ex-Freund erkennt zwar anderthalb Jahre nach ihrer Trennung die Vaterschaft an, doch Unterhalt zahlt er nicht. Und die Freundinnen aus der Schulzeit plagen ganz andere Sorgen als Nadia: Wenn sie im Mutter-Kind-Haus vorbeischauen, erzählen sie vom neuen Freund, dem letzten Disco-Besuch, den bevorstehenden Abi-Prüfungen - bei Nadia dreht sich alles um Babynahrung, Windeln und Kindergeschrei. Beneidet habe sie ihre Freundinnen oft um ihre Unbeschwertheit, erzählt Nadia, und um die Zukunftspläne, die sie schmiedeten.

Für Teenager-Mütter wie Katrin und Nadia hingegen sind die Zukunftsaussichten statistisch gesehen alles andere als rosig: Laut UNICEF-Studie ist das Armutsrisiko für sie etwa doppelt so hoch wie für Frauen, die als Erwachsene ihr erstes Kind bekommen. 54 Prozent der heute 30-Jährigen, die vor ihrem 20. Geburtstag ein Kind zur Welt gebracht haben, zählen zu den 20 Prozent der ärmsten Haushalte. Oft fühlen sich die Teenager-Mütter durch ihr Kind überlastet und nicht in der Lage, weiter zur Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen. Damit sinkt ihre Chance, später einmal einen qualifizierten und gut bezahlten Beruf auszuüben.

Umso mehr bemühen sich die Sozialarbeiterinnen in den Mutter-Kind-Einrichtungen, die jungen Mütter von der Notwendigkeit eines Schulabschlusses oder einer Ausbildung zu überzeugen. Im Falle von Nadia und Katrin mit Erfolg: Die Schule hat Nadia zwar abgebrochen, doch absolviert sie seit zwei Jahren erfolgreich eine Ausbildung als Fremdsprachensekretärin, Katrin holt ihren erweiterten Hauptschulabschluss nach.

Beide haben sich inzwischen mit ihrer Lebenssituation arrangiert. "Man kann auch als Teenager sein Leben einrichten mit einem Kind", findet Katrin. Noch mehr Kinder zu bekommen, kann sie sich allerdings nicht vorstellen. Und Nadia sagt nachdenklich: "Ich kann nicht sagen, was ich anders machen würde, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte. Die letzten Jahre waren total schwer. Es ist in jedem Alter eine Umstellung, ein Kind zu bekommen, aber wenn es nicht geplant ist und das eigene Leben nicht so richtig abgesichert ist, ist es einfach verdammt hart."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.