Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
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Christian Hacke

Das Böse lässt sich nun mal nicht wegidealisieren

Hans Joachim Morgenthau und das Erbe des außenpolitischen Realismus

Immanuel Kants Traktat vom Ewigen Frieden beflügelt bis heute liberale Idealisten, die seitdem eine demokratische Friedensordnung zum Ziel der Weltpolitik erklären. Ihnen gegenüber stehen seit der Antike Realisten wie zum Beispiel Thukydides, die zutiefst bewegt von den menschlichen Unzulänglichkeiten und den permanenten dunklen Momenten der politischen Geschichte ihr Augenmerk auf die tatsächlichen Widersprüche richten. Geschichtlicher Fortschritt in Richtung ewigen Friedens oder ewiger Kreislauf zwischen Krieg und Frieden? So lautet die Frage zwischen Idealisten und Realisten seit der Antike.

Nach der Zeitenwende von 1989/90 und insbesondere im Zuge des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums wurde die Welt von der Hoffnung beseelt, jetzt würden Demokratie, Menschenrechte und Globalisierung zu einer neuen Weltordnung führen. Folglich dominierten idealistische Theorien die Entwürfe für das 21. Jahrhundert. Doch spätestens seit dem 11. September 2001 wurde die Welt brutal aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen.

Warum erlebt militärische Macht seit den 90er-Jahren eine ungeahnte Renaissance? Warum streben Menschen und Staaten immer wieder nach Macht, führen Kriege und suchen mit Gewalt Herrschaft über andere? Warum ist die Perspektive eines globalen Friedens also erneut in weite, ja unerreichbare Ferne gerückt? Während die meisten Wissenschaftler von der Internationalen Politik auch heute noch primär über das Wünschbare sinnieren, blicken Realisten auf die unbequeme Wirklichkeit.

Einer, der vor den machtpolitischen Realitäten niemals die Augen verschlossen hat, war der Vater des außenpolitischen Realismus im 20. Jahrhundert, Hans Joachim Morgenthau. Anders als Immanuel Kant geriet Morgenthau in seiner deutschen Heimat in Vergessenheit. Morgenthau, der im letzten Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, war geprägt vom Kaiserreich, von der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, den Wirren der Weimarer Republik und vom aufkommenden Nationalsozialismus. Als Jurist war er enttäuscht von der Naivität der liberalen Demokraten und abgestoßen vom nackten, machtpolitischen Freund-Feind-Denken Carl Schmitts.

Schließlich floh er angesichts der Bedrohung, der er als Deutscher jüdischen Glaubens ausgesetzt war, in die Vereinigten Staaten, wo er als Professor in Chicago Weltruhm erlangte. Mit seinem 1948 erschienenen Hauptwerk "Macht und Frieden" inspirierte er mehrere Generationen von Wissenschaftlern und Politikern, weil er mit den Zentralbegriffen von Macht und Interesse ein realistisches Muster für das Studium der internationalen Beziehungen vorlegte. Dabei war für ihn entscheidend, dass in der internationalen Politik moralische und ethische Prämissen für das Verständnis allein nicht ausreichen, sondern dass Machtinteressen und ethische Normen ausbalanciert werden müssen.

Überzogener Idealismus war ihm suspekt, weil dieser die pessimistischen historischen Erfahrungen in der Weltpolitik weitgehend negierte. Sein berühmter Schüler Henry Kissinger, der ebenfalls aus Nazi-Deutschland nach Amerika fliehen musste, hat einmal erklärt: "Hans Morgenthau hat das gegenwartsbezogene Studium der internationalen Beziehungen zu einem wesentlichen Wissenschaftszweig gemacht. Alle von uns, die dieses Fach nach ihm unterrichten, mussten von seinen Ansätzen ausgehen." Die Wissenschaft von der Internationalen Politik kann keinen Begründer zum Beispiel vom Range eines Sigmund Freud vorweisen, aber wenn jemand diesem Anspruch nahe kommt, dann Morgenthau. Er diagnostizierte, dass in der Politik zwangsläufig eine Ethik des Bösen mitwirkt, weil - insbesondere in der Außenpolitik - Entscheidungen weniger der freien Wahl, als vielmehr Dilemmata unterliegen. Der Staatsmann kann nur selten zwischen gut und böse, richtig und falsch wählen, sondern oft nur zwischen schlimm und schlimmer.

Morgenthau als Realist betont in all seinen Arbeiten wiederholt diese tragische Dimension außenpolitischen Handelns, das zumeist von widrigen Umständen geprägt ist. Er formulierte daher eine situationsbedingte Ethik, die Macht und Moral gemäß der Verantwortungsethik Max Webers zusammenzwingt. Das Scheitern des Völkerbundes, die Eindrücke der Zwischenkriegszeit, das Wüten des Faschismus, die Gefahr des Kommunismus und die Entwertung der Demokratie als Regierungsform überzeugten ihn, dass Moral alleine in der internationalen Politik wirkungslos bleibt, ja die Existenz des Staates gefährden kann. Deshalb müssen nationale Interessen vorrangig berücksichtigt werden, allerdings mit Blick auf internationales Gleichgewicht.

Für Morgenthau reichen moralische und ethische Prämissen allein nicht aus, sondern Macht, Interesse und ethische Normen müssen ausbalanciert werden. Deshalb urteilte er ziemlich hart über gutmeinende Idealisten: "Weltverbesserungsideen gehören ins Backfischalter." Seine Maxime dagegen lautete: "Feststellen, was ist, wie es ist, erscheint als etwas Höheres, Ernsteres als jedes ,so sollte es sein'."

Der Unterschied zwischen Sein und Sollen, zwischen Wirklichkeit und Ideal, bestimmte seine Analyse der internationalen Politik, die zu seiner Leidenschaft wurde und die er, wie der Arzt, mit kaltem und wissendem Auge sezierte: "Mir ist die Brutalität der realistischen Fragestellung lieber als die zerfahrene Sentimentalität, die vor lauter Gefühlsduselei die eigenen Interessen vernachlässigt und nicht zur Sache kommt." Dabei konzentrierte er sich vor allem auf das menschliche Streben nach Macht, das für ihn den Kern des Politischen bildet. Der Machttrieb mache den Menschen asozial, denn der Mensch will alles für sich und nichts für den Nächsten.

Wegen dieser realistischen Diagnose wird Morgenthau fälschlicherweise oft als Apologet einer schrankenlosen Machtpolitik dargestellt. Doch besitzt der außenpolitische Realismus eine eigene moralisch-ethische Dimension, die allerdings als situationsbedingte Ethik eine Auffassung von Ordnung impliziert, in der nicht moralische Entrüstung oder Überheblichkeit, sondern eine ethisch-moralische Instrumentalisierung der Macht angestrebt wird. Macht, Moral und Gerechtigkeit stehen in einem Wechselverhältnis.

Morgenthaus Forderung nach Begrenzung und Relativierung von Moral und Macht in der internationalen Politik und sein Plädoyer für Toleranz, Balance und Selbstbeschränkung bilden vielleicht den ansprechendsten Aspekt des Realismusmodells. Viel zu lange wurde verkannt, dass Morgenthau selbst das Feuer und den Impetus des Moralisten in sich trägt. Er war nicht nur auf der realistischen Suche nach dem Sein, sondern auch ein Idealist, der um letzte Werte ringt. Mit Max Weber stimmte er darin überein, dass Wertentscheidungen rational nicht begründbar, dass weltanschauliche Postulate wissenschaftlich nicht legitimierbar sind. Daraus folgte für ihn, dass jede Wissenschaft, die aus Prinzip wertfrei und inhaltsneutral bleibt, sich im Grunde wehrlos den Mächten der Zeit ausliefert, ganz gleich, ob diese gut oder böse, liberal oder sozialistisch, demokratisch oder totalitär sind.

Folglich kritisierte Morgenthau schon in den 50er- Jahren amerikanische Interventionen auf dem asiatischen Festland und mahnte eine Konzentration auf die amerikanischen Interessen in Europa an. Wie auch sein realistischer Zeitgenosse George Kennan hoffte Morgenthau langfristig auf Eindämmung und friedliche Koexistenz mit der Sowjetunion. Unter dem Eindruck der Dialektik des Atomzeitalters plädierte er für eine Doppelstrategie der militärischen Stärke und der Bereitschaft zur politischen Entspannung.

Das endgültige Schicksal der Sowjetunion sah Morgenthau schon 1964 visionär und illusionslos zugleich. Er war überzeugter Antikommunist, wusste aber, dass die Sowjetunion nicht von außen zu besiegen war, sondern nur von innen verändert werden konnte. Nicht nur harte, sondern ebenso weiche Machtfaktoren würden sie zusammenbrechen beziehungsweise implodieren lassen.

Morgenthau überzeugt durch sein Eintreten für Maß und Balance und durch seinen Mut zu Wahrheit und Unpopularität, um freiheitliches Leben im Sinne der jüdisch-christlichen Tradition in der Welt zu bewahren. Die "Atlantische Zivilisation", dieser Begriff stammt von seiner Freundin und intellektuellen Weggefährtin Hannah Arendt, blieb für ihn der zentrale geistige und politische Ort, den es zu erhalten gilt. Mussolini, Hitler und Stalin verkörperten für ihn das Böse. Umgekehrt war ihm Winston Churchill der Inbegriff des demokratisch-kämpferischen Staatsmanns, der nicht nur zweckmäßig handelte, sondern die ethisch-demokratischen Prinzipien der Atlantischen Zivilisation vor den totalitären Herausforderungen seiner Zeit zu bewahren suchte.

Auch im 21. Jahrhundert entwickelt sich die Welt nicht im idealistischen Sinne. Die hehren Prinzipien des zwischenstaatlichen Friedens, der innerstaatlichen Demokratisierung und des sich universell verbreitenden Liberalismus führen eben nicht zum "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama), sondern die Welt war, ist und bleibt ein gefährlicher und konfliktbeladener Ort. Vor diesem Hintergrund ist Morgenthau aktueller denn je, weil die Wissenschaft von der Internationalen Politik durch die Sucht nach Neuem und durch die Hybris gegenüber der Geschichte in eine tiefe Krise gestürzt ist. Rückbesinnung auf den Realismus und seine kluge Weiterentwicklung tut not.

Auch wenn die Vertreter der Disziplin der Internationalen Beziehungen sich gerade in Deutschland seit Jahren bemühen, den Realismus für tot zu erklären und seinen wissenschaftstheoretischen und moralischen Bankrott nachzuweisen, sind Morgenthaus faktische Erklärungskraft und seine Aktualität bis heute ungebrochen. Während idealistische Erklärungsansätze immer dann Konjunktur haben, wenn die Weltpolitik in eine Ruhephase eintritt und es sich wohlfeil über neue kühne Integrationskonstrukte räsonieren lässt, müssen sie im Angesicht von Krisen und aufkommendem Sturm die Brücke sofort räumen. Erst wenn Ruhe, Ordnung und Langeweile eintreten, beginnt erneut das Träumen von der Schönen Neuen Welt.

Aller Idealismus bleibt ohne die realistischen Prämissen orientierungslos und ohne realpolitische Bodenhaftung: Der Idealismus betont die Notwendigkeit von Kooperation und gemeinsamer Interessendefinition im Rahmen von internationalen Institutionen, um den Anforderungen einer sich immer weiter globalisierenden Welt gewachsen zu sein. Der Realismus betont das Handeln souveräner Staaten, die ihr Überleben in einer anarchischen Welt sicherstellen müssen und daher Machtpolitik betreiben. Erst im Zusammenspiel beider Ansätze kann eine Annäherung an die Wirklichkeit erreicht, kann Internationale Politik sinnvoll analysiert werden. So gesehen bleibt der außenpolitische Realismus ein unverzichtbares Korrektiv.

Professor Hacke lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bonn; in ergänzter Auflage kam gerade sein Buch über die Außenpolitik der USA heraus.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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