Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 29.03.2005
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Anton van der Lem

Ode auf republikanische Freiheit in Zeiten des Absolutismus

Schillers Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande

"Sire - geben Sie Gedankenfreiheit". Dieser berühmte Satz aus Schillers "Don Carlos" wird immer dann zitiert, wenn von Tyrannei oder Fürstengewalt die Rede ist. Genauso wie der "Don Carlos" Fanalwirkung hat, so enthält auch Schillers große historische Darstellung "Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung" Feststellungen und Werturteile, die einer Maximensammlung gleichen.

Ein Leidener Widerstandsblatt - bezeichnenderweise "De Geus onder Studenten" genannt - zitierte mitten im Zweiten Weltkrieg, am 7. April 1943, aus Schillers Schrift: "Gross und beruhigend ist der Gedanke, ... dass ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen kann". Vor allem Schillers Einleitung, aber auch die unterschiedlichen Kapitel enthalten lapidare Sätze, in denen der Dichter seine Bewunderung für den niederländischen Freiheitskampf ausdrückte:

"Man nannte Rebellion in Madrid, was in Brüssel nur eine gesetzliche Handlung hiess", oder: "Jede Kränkung von einem Tyrannen erlitten, gab ein Bürgerrecht in Holland" und: "Die Niederlande mussten allen Völkern geöffnet sein, weil sie von allen Völkern lebten". Noch auf der vorletzten Seite lobt er die Niederländische Republik - weit früher, als von einer eigentlichen Republik die Rede sein sollte - als ein Land, "wo die feinste Staatskunst Redlichkeit war".

Schiller hat sich in die Geschichte der beiden Parteien gründlich eingelesen: in die der nachherigen niederländischen Republik und in die der katholischen, königstreuen Niederlande. Erstaunlich dabei, dass er sich bei seiner Sprachkenntnis und Sprachgewandtheit - Deutsch, Latein, Französisch - nicht auch der niederländischen Sprache zugewandt hat. Aber die wichtigsten Schriftsteller aus dem Norden standen ihm in deutscher Übersetzung zur Verfügung, die wichtigsten aus dem Süden konnte er auf Latein lesen.

Seine Darstellung ist ausgewogen, manchmal gerecht; er hat die königliche Partei nicht diabolisiert. Er macht glaubhaft, dass man in Madrid die Liga des niederländischen hohen Adels, die Opposition gegen die Errichtung der neuen Bistümer, Bund und Bittschrift der niedrigen Adel, und den schrecklichen Bildersturm als eine zusammenhängende Verschwörung gesehen hat. Die Gegenmaßnahmen deutet er als Antwort auf die unterstellte Konspiration, genau wie es 200 Jahre später Geoffrey Parker machte.

Als Beispiel für Schillers Ausgewogenheit sei die Schilderung von der Belagerung und Einnahme der Stadt Valenciennes 1567 erwähnt. Schiller stützt sich auf die katholischen Schriftsteller und zeigt, wie vorsichtig und mit welcher Zurückhaltung die Brüsseler Regierung reagiert hat. Mehrmals wird der Stadt die Möglichkeit gelassen, sich der Zentralgewalt zu ergeben; die protestantischen Bevölkerung hätte Zeit zur Flucht. Zum ersten Mal im niederländischen Konflikt bekommt man Zeit - sei es auch nur 14 Tage -, um das Land zu verlassen, wie es 15 Jahre später unter dem Prinzen von Parma die Regel sein würde!

Personenbeschreibung

Aber Valenciennes trotzt und lässt es auf einen Gewaltstreich ankommen, dem es unterliegt. Vergleichen wir Schillers ausgewogene Beschreibung mit derjenigen des nationalistischen Amerikaners John Lothrop Motley aus dem Jahre 1856, dann trägt Schiller den Sieg davon. Im Vergleich zu Schillers Darstellung ist Motleys Deutung der Ereignisse ein Rückschritt. Zu den anziehendsten und interessantesten Bestandteilen des Werkes gehören die Schilderung der Hauptpersonen und die Charakteristiken der Teilnehmer. In der Einbeziehung der Personen in die Gesamtdarstellung zeigt sich Schillers Größe. Auch hier ist er bemüht, beiden Seiten gerecht zu werden. So sagt er zutreffend über die Vorahnung des Prinzen von Oranien: "Aber seine Furcht war früher da als die Gefahr, und er war ruhig im Tumult, weil er in der Ruhe gezittert hatte." Dessen Bruder Ludwig von Nassau beurteilt er mit größerer Distanz: der Graf sei "ein zuverlässiger nervigter Arm, wenn ein weiser Kopf ihn regierte".

Ohne Vergleich in der niederländischen oder flämischen Geschichtsschreibung ist Schillers Darstellung des königstreuen Ratsherrn Graf Berlaymont, der immer nur als ein Speichellecker dargestellt wird. Schiller widmet ihn fast eine ganze Seite und würdigt ihn volkommener und wahrscheinlich gerechter als in der nationalen Geschichtsschreibung der niederländisch-belgischen Doppelmonarchie, die ihn geradezu verdammte.

Wahrheiten und Verunglimpfungen

In seiner historischen Bewertung verfügt Schiller über ein zutreffendes Urteil. Er macht Bemerkungen, die man sonst bei keinem Historiker des niederländischen Aufstandes trifft. Deutlich sind seine allgemein-politischen Bemerkungen, die nicht nur für dieses Thema ,sondern auch für anderen politische Konflikte zutreffen, zum Beispiel: "Ein wohlhabendes, üppiges Volk liebt den Frieden, aber es wird kriegerisch, wenn es arm wird". Schiller legt viel Wert auf die persönliche Anwesenheit des Königs - dessen Gegenwart würde dem niederländischen "Gaukelspiel" sofort ein Ende setzen. Schiller hat es Philipp verübelt, während der allgemeinen Unruhen nicht in die Niederlande gereist zu sein, während Karl V. allein wegen des Aufstandes der Stadt Gent 1540 nach Flandern zog.

Nach Schillers Meinung ist einem Herrscher der Missbrauch angeborener Gewalt leichter zu verzeihen als einem Stellvertreter mit delegierter Gewalt. Mit anderen Worten: man hätte von Philipp II. ertragen, was man dem Herzog van Alba nie verzieh. Und Schiller betonte, was moderne Historiker wie Braudel oder Parker zwei Jahrhunderte nach ihm behaupteten: Wäre das ganze Gewicht der Macht Philipps II. allein auf die Niederlande gefallen, dann hätte die arme Republik keine Chance gehabt. Philipp habe aber die spanischen Truppen 1562 aus den Niederlanden abgezogen, weil er sie anderswo brauchte.

Neben diesen Wahrheiten gibt es aber auch - wer wollte es leugnen - Ungenauigkeiten und Fehler. In seinem Freiheitspathos hat Schiller die Größe des Aufstandes überschätzt: Er spricht von "national" oder von zwei Dritteln der Bevölkerung; tatsächlich versuchte nur eine energische Minderheit, sich durchzusetzen.

Auch die Zahl der Opfer der Verfolgung, sowohl die der Inquisition als auch die nach der Machtübernahme des Herzogs von Alba, betrug zusammen einige Tausende, aber nicht in beiden Fällen Zehntausende, wie Schiller behauptet. Ob er dies absichtlich gemacht hat, ist schwer zu entscheiden - eine Sondierung seiner Quellen und Fußnoten (richtig oder unrichtig) wäre eine schöne Aufgabe für einen Emeritus, der sich in den Quellen auskennt!

Neben Fehlern und guten Beobachtungen gibt es auch persönliche Stimungen. Schiller steht auf Seiten der Bürger und des Prinzen, der sich ihrer annimmt. "Das Volk" heißt bei Schiller aber: der Haufen, und von dem distanziert er sich. Ebenfalls mag er den niedrigen Adel nicht. Er verunglimpft ihn, wie es kein Historiker aus den Niederlanden oder Belgien nach ihm es getan hat. Auch der Führer des Adelsbundes, Heinrich von Brederode, hat bei ihm eine äußerst negative Presse.

Stimmungen

Die Psychologie der ganzen Gruppe indes ist aber wieder einleuchtend und manchmal hervorragend: wie ein Adliger den anderen zur "Verschwörung" hinreißt, ist von keinem anderen Historiker so zutreffend beschrieben wie hier. Schillers so unterschiedliche Stimmungen rücken gleichsam die Vergangenheit näher heran. Können wir uns noch vorstellen, wie sich Niederländer und Spanier einander angefeindet haben? Oder Katholiken, Kalvinisten und Lutheraner? Man lese Schillers Interpretation der Beschlüsse des Trienter Konzils, und die Feindseligkeiten stehen unvermittelt wieder auf. Er verunglimpft die Entscheidungen des Konzils, wie zeitgenössische Berichterstatter diese hätten deuten können, und bringt so die Geschichte näher.

Drei Jahre nach dem Erscheinen der ersten deutschen Ausgabe erschien in Amsterdam der erste Band auf Niederländisch. Bei diesem ersten Versuch ist es geblieben. Damals waren die politischen Zeiten in den Niederlanden einer Aufnahme der Vorgeschichte zum Aufstand nicht günstig: Das Ancien Régime ging 1795 zu Ende, und während der 18 Jahre der französischen Besatzung hatte man andere Sorgen. Als im 19. Jahrhundert in den Niederlanden die französische Literatur der deutschsprachigen Platz machte, war die Sprache Schillers leicht verständlich, um nach Übersetzungen zu fragen.

In diesem Schillerjahr 2005 ist endlich eine vollständige Übersetzung der Geschichte des "Abfalls" auf Niederländisch erschienen, genauestens dokumentiert und mit einem informativen Nachwort versehen. Schillers zutreffende Charakteristiken, seine ausgeglichenen Urteile, seine allgemeinen Wahrheiten und psychologischen Porträts, seine Stimmungen und Verunglimpfungen können jetzt auch von allen Flamen und Niederländern gelesen, nachgeprüft und genossen werden. Und jetzt ins Spanische bitte!


Bibliografischer Hinweis

Friedrich Schiller: De Opstand der Nederlanden. Vertaling Wilfred Oranje.

Nawoord en annotaties Eric Moesker. Boom, Amsterdam 2005. ISBN 9085061164. Illustriert.

Zum Aufstand in den Niederlanden: http://dutchrevolt.leidenuniv.nl.

Auf Deutsch in Zusammenarbeit mit dem

Institut für Geschichte der Universität Wien.


Anton van der Lem ist Leiter der Abteilung historische Drucke in der Universitätsbibliothek Leiden und Chefredakteur der Webseite der Universität.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.