Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 29.03.2005
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Barbara Piatti

Ewigkeitsschwüre auf dem Rütli

Unterwegs mit Schillers "Wilhelm Tell"

Sofort nach der bejubelten Uraufführung auf dem Weimarer Hoftheater im März 1804 und dem Erscheinen des gedruckten Textes einige Monate später wurde Schillers "Wilhelm Tell" zum Reiseführer durch die Innerschweiz. Zahllose Berühmtheiten, Dichter, Maler, Komponisten, unternahmen literarische Pilgerfahrten, unter ihnen Mark Twain, Alxandre Dumas, Leo Tolstoi, James Fenimore Cooper und später Elias Canetti.

Eine typische Pilgerfahrt darf man sich wie folgt vorstellen: Ein Boot - auf den Ruderbänken zwei wortkarge Einheimische - gleitet über das Wasser, darin eine aufs Höchste vergnügte Reisegesellschaft aus Deutschland, die aus dem Staunen nicht herauskommt. Soviel landschaftliche Herrlichkeit auf einem Fleck! Einer packt ein Oktavbändchen aus dem Ranzen, blättert, sucht nach der passenden Stelle und beginnt den Reisegefährten unter dem linnenen Sonnendach aus dem "Tell" vorzulesen.

Man las "Schillers zart romantische Einleitung zum Tell", das heißt: die erste Szene im ersten Akt, wo die Landschaft sich in voller Pracht entfaltet, während sich durch ebendiese Szenerie rudern ließ. "Jetzt sind wir endlich auf dem See, der Himmel hell und klar; da wird Schiller hervorgeholt, und sein Tell mit Andacht gelesen; denn hier ist der Ort dafür ...!", heißt es in einem Reisetagebuch von 1823.

Zu den Schiller-Lesern während einer Reise durch die Urschweiz gehörte der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy. Als er im August 1831 an Ort und Stelle im "Tell" zu lesen begann, war kein Halten mehr: "Eben habe ich mich hier im reizendsten Thal an Schillers Wilhelm Tell wieder gemacht, und nur eben die erste halbe Seite wieder gelesen ... Dann ist es auch gar zu schön, dass er sich die ganze Schweiz selbst erschaffen hat, sie niemals selbst gesehen hat, es ist alles so treu u. so ergreifend wahr: Leben, Leute, Natur u. Landschaft. Ich schreibe aber confus u. will lieber aufhören, jetzt bin ich gar zu tief im Tell, will ihn auch gleich auslesen."

1853 ist ein besonderer Besuch zu verzeichnen. Franz Liszt, Richard Wagner und Georg Herwegh - allein das Trio ist sagenhaft! - machten sich an einem Juli-Tag auf zu einer Wanderung. Um sieben in der Früh starteten sie von Brunnen aus, in einem von zwei Einheimischen geruderten Boot. Auf dem Rütli angekommen tranken sie Brüderschaft, mit der hohlen Hand Wasser aus den drei Quellen schöpfend, die der Legenden nach den Schwurort markierten - das Ganze natürlich in Anlehnung an den Bund von Stauffacher, Melchthal und Fürst.

Ein Traum-Trio

Wenn man diesen unbeschwerten Sommerausflug durch die Folie der deutschen Geschichte betrachtet, will heißen: durch ein ganz bestimmtes Ereignis, bekommt sie sofort eine ganz andere Einfärbung. Es war der entschiedene Republikaner Richard Wagner, der, steckbrieflich gesucht, in der Schweiz Zuflucht gefunden hatte. Auch gegen Herwegh war ein Haftbefehl ausgestellt, auch er rettete sich als politischer Flüchtling in die Schweiz.

Und nun standen die beiden deutschen Freiheitskämpfer, Wagner und Herwegh, die für ihren politischen Einsatz bitter bezahlen mussten und deren eigene Revolution 1948/49 gescheitert war, mit ihrem Freund Franz Liszt auf dem Rütli. Sie standen auf dem Boden des jungen Bundesstaates (1848) - auf dem Boden einer Republik, die im Herzen des von Revolutionen und Machtkämpfen erschütterten und noch immer monarchischen Europas aufblühte.

Ludwig II. folgte ebenfalls literarisch geprägten Pfaden, in Begleitung des jungen Hofschauspielers Ludwig Kainz. 1885 charterte der "Märchenkönig" den Dampfer "Waldstätter" gleich für die Dauer seines ganzen Aufenthaltes. Tag für Tag, und vor allem in manchen mondhellen Nächten wurden die Stätten der Tellgeschichte aufgesucht, das Rütli gleich mehrere Male. Man ließ sich im Gras nieder, und nun war es an Kainz, den Zauber der Nacht zu erhöhen. Er rezitierte Verse aus Schillers Drama, von denen sein Freund und König nie genug bekommen konnte.

Da Ludwig ihm aber auch die Rolle des Melchthals in einer geplanten Inszenierung zugedacht hatte, sollte der Aufenthalt dazu genutzt werden, ihn dieselben Strapazen durchleben zu lassen wie Schillers Dramenfigur. So wünschte Ludwig mit Nachdruck, dass Kainz den Marsch Melchthals über den Surenenpass unternehme ("Durch der Surennen furchtbares Gebirg..."), - ein Unterfangen, das den zart gebauten, jungen Schauspieler nicht eben in Entzücken versetzte.

Immerhin, er machte sich auf den Weg, nicht wie sein Rollenmodell Melchthal im Winter bei Eiseskälte, sondern im Sommer, auch nicht gehetzt, allein, hungrig und durstig ("den Durst mir stillend von der Gletscher Milch"), sondern mit vier kräftigen Männern als Begleitung, mit reichlich Proviant ausgerüstet, darunter einem guten Dutzend Flaschen Moselwein und Sekt. Dennoch wurde die Wanderung, die für Kainz viel zu anstregend war, frühzeitig abgebrochen...

Durch Schillers Wilhelm Tell wurde die Urschweiz gewissermaßen imprägniert, "auratisch aufgeladen vom Siegeszug des Schauspiels". Jedenfalls ist die wechselseitige Durchdringung von Literatur und Landschaft, von Fiktion und Handlungsraum, von Lese- und Reiseerlebnis an kaum einem anderen Ort so augenfällig wie im "Lande Tells".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.