Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 37 / 12.09.2005
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Martin Gerner

Zwischen Mohnfeldern und Männerdomänen

Afghanstan: Frauen kämpfen bei den Parlamentswahlen am 18. September um mehr politische Teilhabe

Sohaila Alkozai schlägt die Zeitung auf und ist empört. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass ihr Foto als Parlamentskandidatin mit Namen vorne auf Seite zwei erscheint. Statt dessen muss sie bis Seite acht blättern, um ihr Abbild zu finden "Die haben mich betrogen", schimpft sie, "ich werde Protest einlegen. Keiner meiner Anhänger kann mich jetzt auf der Seite wiederfinden, die ich angekündigt hatte."

Die "Zeitung" über die Sohaila Alkozai schimpft ist in Wahrheit ein Vordruck des offiziellen Stimmzettels für Kabul. Weil sich über 600 Kandidaten allein in der Hauptstadt beworben haben - weit mehr als die UN kalkuliert hatte - hat der Stimmzettel nunmehr das Format einer Tageszeitung und ist 16 Seiten stark. Damit auch Analphabeten sich im Dschungel von Köpfen und Namen finden können, hat jeder Kandidat ein Symbol zugelost bekommen. Bei Sohaila Alkozai ist es eine Schiefertafel, wie sie Kinder in Afghanistan noch mit zur Schule bringen. Sie sieht da-rin ein gutes Omen. "Schule und Bildung sind zwei meiner Steckenpferde im Wahlkampf. Nur über die Erziehung bekommt unser Volk wieder Selbstvertrauen."

An diesem Nachmittag wird es eng im Wohnzimmer von Sohaila. Zunächst erscheint eine Gruppe von Lehrerinnen aus einem Vorort von Kabul. Sie wollen die Kandidatin, deren Plakat sie in der Stadt gesehen haben, näher kennen lernen. Etwas später kommt eine Hand voll Männer in Jacket, darunter der "pirhan tambon", der traditionelle Weithosenanzug. Sohaila räumt wie selbstverständlich ihren Sofa-Platz und rutscht für die Männer auf einen unbequemeren Stuhl. Dann beginnt ein vorsichtiges Gespräch, etwa so, wie wenn sich jemand seiner neuen Nachbarschaft vorstellt. "Mein Vater ist aus Kandahar, meine Mutter aus der Provinz Parwan", fängt Sohaila an. "Für mich spielt die Herkunft keine Rolle. Ob jemand Paschtune oder Tadschike ist, ist mir egal. Mir geht es um das Wohl aller Afghanen." Die Gesichter im Kreis verraten einen Rest von Skepsis. In einem Frage-Antwort-Spiel werden die biographischen Daten der Kandidatin überprüft. Beim Tee entspannt sich die Atmosphäre.

Einer der bärtigen Herren, der sich als Dozent an der Universität vorstellt, erklärt in getragenem Ton, seine Stimme Sohaila geben zu wollen: "Männer haben in diesem Land in all den vergangenen Jahren die Verantwortung gehabt. Und was haben sie daraus gemacht? Krieg und Zerstörung. Ich denke, jetzt ist es Zeit, einmal Frauen das Vertrauen zu schenken." Sohaila Alkozai bedankt sich für die warmen Worte. "Sechs bis sieben Tausend Stimmen brauche ich für einen Sitz im Parlament", rechnet sie vor, als die Gäste gegangen sind. "Mehr als zweihundert Stimmen haben mir die zugesagt, die eben hier waren. Ich habe ihnen Wahlzettel in die Hand gedrückt. Sie machen ab sofort in der Stadt Werbung für mich."

Im Hauptanbaugebiet des Schlafmohns

Über die Landebahn des Flughafens von Faizabad trottet ein Esel mit einem alten Mann auf seinem Rücken über die Start- und Landebahn. Absperrungen gibt es außer einer kleinen Mauer keine. Gleich neben dem Rollfeld haben Soldaten der Bundeswehr ihr Feldlager bezogen. Faizabad ist die Haupststadt der Provinz Badakhshan. Eines der deutschen Teams für den Wiederaufbau (Provincial Reconstructions Team - PRT) ist hier zu Hause. Badakhshan ist auch Hauptanbaugebiet des Schlafmohns. Zurzeit wird die neue Saat gestreut. Mit bloßem Auge kann man die Mohnfelder nicht erkennen. An diesem Morgen erreicht ein Notruf das deutsche PRT. Mitten auf einer der Ausfallstraßen wurde eine Mine, versteckt in einem Kochtopf, entdeckt. Keine Taliban oder Al Kaida. Wie sich herausstellt, will ein Kandidat verhindern, dass ein Mitbewerber in seiner eigenen Hochburg auf Stimmenfang geht. "Politik wird immer noch als Kampf verstanden, sagt Anisa Nabiyar dazu. Die 32-jährige studierte Lehrerin ist eine von neun Kandidatinnen in ihrer Provinz für die Volksvertretung. "Viele verstehen nicht, dass es einfach ausreicht, einen anderen Kandiaten zu wählen, um den Missliebigen zu verhindern." Sie schränkt ein, dass es dabei nicht immer mit fairen Mitteln zugeht: "Unter den Kandidaten befinden sich Ungebildete genauso wie Anführer bewaffneter Milizen oder der alten islamischen Jamiat-Partei. Die einen wiegeln auf, die anderen schüchtern ein. Oft reißen sie meine Wahlplakate von der Wand, kurz nachdem wir sie aufgehängt haben."

Anisa Nabiyar arbeitet für ein afghanisches Büro, das Mikro-Kredite an soziale Projekte vergibt. Sie hat einen winzigen Toyota-Transporter angemietet. Auf der Windschutzscheibe prangt ihr Foto. Mit Fahrer und einem Begleiter müht sie sich durch die abenteuerlichen Berge und Schluchten des Hochlandes von Badakhshan, vorbei an steil abfallenden Klippen und reißenden Gewässern. Durchschnittstempo 20 Stundenkilometer. Biblische Gestalten ziehen vorbei, eingehüllt in staubige Wolldecken. Nach einer Stunde ist eine Schule erreicht. In Eile werden alle Lehrer und älteren Schüler in einen Klassenraum gebeten. Es ist eng, einige stehen auf Stühlen, ihre Köpfe ragen bis unter die Decke. Anisa Nabiyar hält eine kurze Ansprache. "Die Burka spielt hier erst mal keine Rolle", sagt sie angesprochen auf das westliche Klischee. Sie trägt sie - notgedrungen - selbst. "Wichtig sind Kliniken und Frauenärzte. Hier sterben viele Frauen, weil ihre Männer sie nicht zum Arzt lassen. Das betrifft Schwangerschaften oder auch Opium. Nicht nur Männer sind abhängig. In ihrer Sucht verkaufen Familien in den entlegenen Dörfern Teppiche und Geschirr um an den Stoff zu kommen."

In einer Plastiktüte, die fast auf dem Boden schleift, trägt Anisa Nabiyar ihre Flugblätter mit sich herum. Die Hälfte der Menschen weiß nicht, wofür die Wahlen gut sind und was überhaupt gewählt wird, meint Anisa Nabiyar. Der Gouverneur habe ihr ein Auto zum Transport im Wahlkampf versprochen, aber das habe sie nie bekommen, klagt sie. Der UN-Wahlorganisator in Faizabad findet, man sei viel besser gerüstet als im vergangenen Jahr zu den Präsidentschaftswahlen. "Eine Kandidatin kam ganz aus dem Norden Badakhshans. Sie war schwanger und hatte einen achttägigen Marsch hinter sich. Mit blutigen Füßen kam sie im Büro an, um sich als Kandidatin registrieren zu lassen." Solche außergewöhnlichen Geschichten gibt die UN gerne an die ausländischen Medien weiter. Offenbar aber hat man vergessen, die Kandidaten, die vielfach an Orte gelangen, an die keiner der 20.000 UN-Mitarbeiter kommt, mit Informations-Material auszustatten. So verstaubt ein Teil der bunten UN-Kalender, die in Form eines Kinderbuches den Wahlmodus für Jung und Alt erklären.

Im UN-Büro in Faizabad wird gepackt: Stimmzettel und Wahlurnen für die Bergregionen, namentlich für Pamir, der nördlichen Landzunge, in der die kirgisische Minderheit zu Hause ist. Esel werden beladen und bringen das Material in einem Wochenritt in entlegene Schluchten. Zurzeit ist noch ein gutes Durchkommen. Mit dem Wahltag wird aller Wahrscheinlichkeit nach der erste Schnee einsetzen. Die Stimmzettel werden dann zum Auszählen in Faizabad eintreffen, wenn alle anderen Urnen längst geleert sind.

Schwere Zeiten für Frauen in Kandahar

In einem kleinen Hinterhof gibt ein dicklicher Mann mit Krücke ein paar jungen Frauen und Männern Anweisungen: "Ihr müsst mehr nach vorne spielen, zum Publikum, und lauter." Niamatullah Nalan ist Leiter der einzigen Theatergruppe von Kandahar. In diesen Tagen übt er für einen Auftritt in Kabul. In Kandahar kann er mit seinem Ensemble nicht öffentlich auftreten. "Es gibt kein Theater in der Stadt. Die meisten Menschen halten das für eine verächtliche Kunst. Ebenso werden meine Schauspieler, insbesondere die Frauen in der Gruppe, behandelt. Selbst unter der Burka werden sie angepöbelt", so Nalan.

"Die Lage für Frauen war noch nie so schlecht in Kandahar wie jetzt", pflichtet Qamar Wakili bei. Die 57-Jährige ist nach 23 Jahren wieder in ihrer Heimatstadt politisch aktiv. 1982 war sie mit ihrer Familie emigriert. "Damals war es für uns ein Risiko, nicht der kommunistischen Partei beizutreten", sagt sie. Über Pakistan gelangte die Familie nach Deutschland. Lange wohnte Qamar Wakili im beschaulichen niedersächsischen Leer, wo sie ihre Kinder großzog und eine Umschulung zur Verkäuferin machte. Anfang 2002 ging sie auf Bitten der Karsai-Regierung als Staatssekretärin in das zerstörte Kabul zurück. Diesen Sommer schließlich kam ein Anruf aus ihrer Heimatstadt, man brauche in Kandahar noch unbedingt Kandidatinnen.

Wie kann eine Frau Wahlkampf machen in einer Provinz, in der zuletzt eine Hand voll talibankritischer Geistlicher ermordert wurden, in der Frauen so gut wie nicht in der Öffentlichkeit zu sehen sind und in der jeglicher Austausch zu fehlen scheint, weil man Ausländer mit der Lupe suchen muss? "Die Plakate mit meinem Foto hänge ich erst eine Woche vor der Wahl auf", erklärt sie eine Vorsichtsmaßnahme. "Ich versuche pragmatisch zu handeln und Vorbild zu sein." Vor dreißig Jahren, damals noch als junge Frau, die erste in der Familie, die studiert hatte, ging Qamar Wakili für den Frauenverein "De Mermonu Tulana" in Kandahar von Tür zu Tür und warb für Alphabetisierung und das Recht von Mädchen auf Schulunterricht. Das verlangte schon damals Mut. "Aus dieser Zeit kennen mich die Menschen, das ist mein Kapital in diesem Wahlkampf", sagt sie. Als geborene Atzeksei gehört sie einem der drei größten paschtunischen Stämme an. Nach ihrem Großvater, einem reichen Khan, ist im Süden der Stadt ein Stadtpark benannt. Auch das hilft. "Gottes Wille, nationale Einheit und soziale Gerechtigkeit", ist der Slogan auf ihrem Flugblatt. "Ich setze mich dafür ein, dass der Süden und die Paschtunen bei der Vergabe der internationalen Hilfsgelder nicht benachteiligt werden", erklärt sie.

Qamar Wakili mietet ein Restaurant an, lädt zu einem Essen für 200 Leute und stellt sich in einer Rede vor. Ein paar Tage später steht ein Konvoi mit zwei Wagen vor der Tür; er fährt sie nach Spin Boldak, ins Grenzgebiet zu Pakistan. "Ich muss da raus", sagt sie, "ich bin schließlich Kandidatin für die ganze Provinz, nicht nur für die Stadt Kandahar." Sie hatte in den Vortagen einmal über ihre Angst geredet. Es scheint ganz so, als wirke diese bei ihr als treibende Kraft.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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