Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 / 04.10.2005
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Hans-Adolf Jacobsen

Von Größenwahn und Untergang

Der "neue Gebhardt": Ein Standardwerk über den Zweiten Weltkrieg

Sechzig Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen, dessen Folgen bis in die Gegenwart hineinreichen und die stets von neuem Anlass geben, über Ursachen, Verlauf und Ende desselben nachzudenken. Die Erinnerungskultur daran ist allerdings sehr unterschiedlich geprägt. Für die einen ist es das Gedenken an die selbstverschuldete totale militärische Niederlage des Deutschen Reiches, für die anderen an die Erlösung vom täglichen Alpdruck des gnadenlosen Bombenkrieges, von unwürdiger Knechtschaft oder an den Beginn eines neuen Leidensweges.

Nach allem, was wir heute wissen, kann es jedoch keinen Zweifel mehr an der Erkenntnis geben, dass wir Deutschen das Kriegsende als Befreiung von der Schreckensherrschaft des NS-Regimes zu begreifen haben. Freilich sind hierfür die zahllosen Berichte und Veröffentlichungen nicht immer hilfreich, weil sie dem Leser und Hörer nicht die ganze Spannbreite und den Gesamtzusammenhang des Kriegsgeschehens zu verdeutlichen vermögen und meist mehr Fragen als Klarheit produzieren.

Hinzu kommt, dass es bis heute zwar eine überaus umfangreiche Literatur zum Krieg gibt, die ein einzelner kaum noch hinreichend aufzuarbeiten vermag, aber eine moderne Forschungsergebnissen entsprechende Gesamtwürdigung der Jahre 1939 bis 1945 in ihren innen- und außenpolitischen Interaktionen aus deutscher Sicht fehlt. Auch die letzten großen Darstellungen aus der Feder von Weinberg (USA) und Keegan (Großbritannien) können über dieses Defizit nicht hinwegtäuschen.

Vor kurzem hat jedoch der Historiker R.-D. Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam (MGFA) ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht, das als ein großer Wurf und als hervorragendes Mittel sachgerechter und im Urteil abgewogener Informationen über die historischen Zusammenhänge zu bezeichnen ist. Wer künftig über die Kriegsjahre angemessen urteilt und seine eigene Rolle dabei zu bewerten gedenkt, sollte erst dieses Handbuch gelesen haben, bevor er sich zu diesem Komplex äußert.

Der Autor zählt zu den profundesten Kennern der Materie. Schon die Gliederung des Werkes lässt erkennen, dass es sich hierbei nicht um eine der üblichen Darstellungen handelt, in denen in erster Linie siegreiche oder verlorene Schlachten analysiert werden. Vielmehr versucht der Verfasser, das Gesamtphänomen des totalen Krieges unter Berücksichtigung der Wechselwirkung von Politik, Militär, Sozial, Technik- und Wirtschaftsgeschichte zu erfassen, soweit es im Rahmen eines solchen überblicksartigen Werkes überhaupt möglich ist. Noch bestehende Kontroversen werden dabei aufgelistet, zugleich auch Forschungslücken, die es in Zukunft zu schließen gilt.

Am bemerkenswertesten dürfte sein, dass der Autor sich bemüht hat, dort, wo es notwendig und angebracht ist, richtige Akzente zu setzen, dass er ferner Aussagen nicht scheut, die vor allem für ehemaligedeutsche Kriegsteilnehmer auch heute noch oft schmerzlich sind. Gilt es doch endlich ohne Wenn und Aber zu begreifen, dass das Urverbrechen der NS-Führung bereits 1939 begangen wurde, von dem sich alles weitere ableiten lässt und dem alle Deutschen, wo immer sie auch eingesetzt waren - an der Front oder in der Heimat, jeder auf seine Weise direkt oder indirekt, ohne es vielleicht damals zu ahnen -, Vorschub geleistet haben: Die Entfesselungen eines Krieges, dessen wahnwitzigen Ziele die Eroberung fremder Länder, die Ausbeutung der unterdrückten Völker und die erbarmungslose Vernichtung von so genannten Rassenfeinden gewesen sind und eben nicht, wie es leider in mancher Todesanzeige bis in die jüngste Zeit formuliert worden ist, die Verteidigung des eigenen Vaterlandes.

Nach einem gelungenen Kapitel über Forschung und Geschichtspolitik erörtert der Verfasser eingangs die Leitlinien zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wann und wie dazu Adolf Hitler die Weichen gestellt hat, - einrastlos besessener Politiker, für den Krieg das eigentliche Instrument zur Durchsetzung seiner radikalen ideologischen europäischen "Neuordnungspläne" gewesen ist. Erste Stufe dazu war der Kampf um die Vorherrschaft in Europa, die nach siegreichen Feldzügen im Sommer 1940 schon in greifbare Nähe gerückt zu sein schien. Jedoch zwang die feste und unnachgiebige Haltung Englands den Diktator, seine Prioritäten zu ändern und zu seinem "eigentlichen" Krieg zurückzukehren: zur Eroberung von "Lebensraum" im Osten und zur Errichtung eines "Großgermanischen Reiches" in Europa.

Die schicksalsschweren Entscheidungen der deutschen Führung, die zum Unternehmen "Barbarossa" geführt haben, können nicht als Präventivmaßnahme interpretiert werden. Der Autor hat dabei schonungslos den besonderen verbrecherischen Charakter dieses Feldzuges gegen die Sowjetunion offen gelegt und die nicht mehr zu leugnende Tatsache, dass die Wehrmacht - ganz zu schweigen von den Sonderkommandos der SS - hierbei als Institution tief in den Massenmord und Holocaust verstrickt worden ist, was die Rote Armee zu grausamen Gegenmaßnahmen - häufig unter Missachtung des Völkerrechts - veranlasst hat. Dies ist unbestreitbar.

Spätestens nach der deutschen Niederlage in Stalingrad zeichnete sich das Scheitern des "Blitzkrieges" im Osten ab, zumal seit dem Kriegseintritt der USA 1941 75 Prozent aller personellen und materiellen Reserven auf der Seite der Antihitlerkoalition zusammengefasst werden konnten, gegen die Deutschland und seine Verbündeten keinerlei Chancen besaßen. Themen wie die Instrumente des Krieges, die Ausweitung zum globalen Krieg, die Verteidigung der "Festung Europa", der totale Krieg und der Untergang des Dritten Reiches werden abschließend knapp erörtert.

Ein aus heutiger Sicht wesentliches Kapitel dürfte das der "deutschen Kriegsgesellschaft" sein. Oder auch anders formuliert: "Die Geschichte von unten". Hier hätte sich der Leser gern noch Erzählungen gewünscht, weil inzwischen viele bewegende Zeugnisse vom Alltagsleben der Menschen, von Not und Leid, von selbstquälerischen Zweifeln am Sinn des Krieges und vom wahren Gesicht des NS Terrorsystems im Reich bekannter geworden und zum Teil publiziert worden sind. Zu bedauern bleibt überdies, dass der Verfasser den deutschen Widerstand in seinen Verästelungen und verschiedenen Entwicklungsphasen bis zum bitteren Ende nicht in einem eigenen Kapitel belegt hat.

Jedoch ist die Gesamtheit hoch anzuerkennen. Mit dem neuen "Gebhardt" verfügen wir nunmehr über einen lesbaren Überblick über den Zweiten Weltkrieg, der in weiten Teilen dem Anspruch moderner Geschichtswissenschaft gerecht wird und der als ein vorzüglicher Beitrag zur politischen Bildung betrachtet werden kann.


Rolf-Dieter Müller

Der Zweite Weltkrieg.

Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Band 21.

Klett-Cotta, Stuttgart 2004; 461S., 42,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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