Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
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Reinhard Lassek

Die Moral gehört nicht den Kirchen

Alfred Grossers Plädoyer für einen spirituellen Humanismus

Alfred Grosser ist in mehrfacher Hinsicht ein Grenzgänger per excellence. Er bezeichnet sich selbst als einen "jüdisch geborenen, mit dem Christentum geistig verbundenen Atheisten". Nicht nur, weil er als Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler seit Jahrzehnten Brücken der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland schlägt, sondern auch, weil er als Mensch beispielhaft vorlebt, dass der dezidierte Rückgriff auf die Vernunft nicht notwendigerweise in Gefühllosigkeit abgleiten muss: "Vernunft und Wärme sind keineswegs unvereinbar" - so denn auch das Credo seines neuen Buchs, in dem er einen ebenso kritischen wie einfühlsamen Blick auf die Christen und ihre Kirchen wirft.

Grosser beleuchtet zunächst sein eigenes Verhältnis und das der Kirchen zum Judentum, bevor er seine atheistische Position begründet und die Stellung des Christen in der modernen Welt analysiert. Der "ungläubige Bibelliebhaber" legt dar, warum ihn seine logische und intellektuelle Kritik am christlichen Glauben nicht da-ran hindert, dennoch "Rührung" und sogar "spirituelle Anteilnahme" zu empfinden, wenn er etwa religiöse Musik als "eine Quelle des inneren Lebens" entdeckt oder beim Betreten einer romanischen Kirche "spirituelle Dichte" empfindet.

Als gottloser "Mystiker" ist sich Grosser sicher, dass es keiner "göttlichen Transzendenz" bedarf, "damit der Mensch, und sei es nur für einen Augenblick, die Loslösung von der äußeren Welt erreicht".

Jenen Momenten innerer Einkehr wird die bewuss-te Hinwendung zur äußeren Welt gegenübergestellt. Für Grosser ist dabei die Politik die Summe der Ziele und Mittel, die sich eine Gemeinschaft gibt, um ihre Gegenwart und mehr noch ihre Zukunft zu meistern. "Im politischen Sinn Bürger sein" bedeutet für Grosser vor allem, "sich betroffen fühlen von der sozialen Ungerechtigkeit" und "für andere handeln" zu wollen. Dieses Verhaltensmuster ist keineswegs angeboren. Es wird allein durch Bildung und Erziehung erworben - insofern es gelingt, sich nicht nur der vorhandenen Freiheit bewusst zu werden, sondern zugleich auch ihre beharrliche Ausweitung zu betreiben.

In dieser Studie nutzt Grosser jedenfalls seine erworbenen Freiheiten und Kompetenzen, um zu allen nur möglichen politischen Fragen konkret Stellung zu beziehen. Das Spektrum reicht dabei vom Irakkrieg bis zu Fragen der Bioethik. Doch dass der Glaube an Gott notwendig sei, um etwa in der Politik moralisches Handeln zu begründen, bestreitet Grosser vehement: "Die Moral gehört nicht den Kirchen."

Grosser hat nicht den Weg des Glaubens, sondern den eines "neuen Humanismus" gewählt - eines spirituellen Humanismus, der dem blanken Materialismus unendlich fern steht: Bereits der Austausch zweier Blicke, sofern dieser denn als Austausch wahrgenommen wird, ist für Grosser "spirituell". Schließlich ist solch wechselseitiges Erleben nicht einfach mit der Optik oder der Mechanik der Netzhaut erklärbar.

Auch wenn Grossers Glaube ausschließlich von dieser Welt ist, steht ihm das Christentum näher als jede andere Religion; zumal die Gebete sich heutzutage erfreulicherweise einem leidenden und nicht mehr einem zürnenden, strafenden oder siegenden Gott zuwenden. Und sobald es zu verhindern gilt, "die Welt auf das Ökonomische und Politische zu reduzieren", sind die Christen und die "Früchte ihres Baumes" sehr willkommen.

Grosser konnte Anfang dieses Jahres seinen 80. Geburtstag feiern. Er hat mit diesem sehr intensiven Buch offenbar seinen Frieden mit der Religion gemacht und sich dabei nicht gescheut, auch den eigenen Tod in die Reflexion mit einzubeziehen. Und so berührt es den Rezensenten, wenn dieser große politische Moralist angesichts seiner eigenen Endlichkeit vom Wunsch beseelt ist, "ansteckend gelebt" zu haben.

Dieses Buch ist jedenfalls ein überzeugendes Plädoyer für eine gemeinsame Moral - "mit Gott und ohne Gott" - und wird gewiss viele Leser fesseln. Ein ungemein lesenswertes Buch, dass leider einige Überlängen und Formulierungsschwächen aufweist. Ein umsichtigeres Lektorat hätte hier leicht für Abhilfe sorgen können.


Alfred Grosser

Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen.

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2005; 280 S., 24,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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