40. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 22. Juni 2006
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt I - fort:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2006
(Haushaltsgesetz 2006)
- Drucksachen 16/750, 16/1348 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009
- Drucksachen 16/751, 16/1348, 16/1327 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Steffen Kampeter
Carsten Schneider (Erfurt)
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Wir beginnen mit den gestern vertagten Abstimmungen zum Einzelplan 06 und zum Zusatzpunkt 3. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Einzelplan 06 in der Ausschussfassung - Tagesordnungspunkt I .11 -:
hier: Einzelplan 06
Bundesministerium des Innern
- Drucksachen 16/1306, 16/1324 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Hagedorn
Dr. Michael Luther
Norbert Barthle
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Alexander Bonde
Hierzu liegen drei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1864? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1865? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen nun zum Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1881. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Ich gehe davon aus, dass alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben haben.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich weise darauf hin, dass sich die FDP bei der Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1864 der Stimme enthalten hat. Sie hat also nicht dagegen gestimmt.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zum Einzelplan 06 auf Drucksache 16/1881 bekannt: Abgegebene Stimmen 556. Mit Ja haben gestimmt 91, mit Nein haben gestimmt 410, Enthaltungen 55. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzelplan 06 - Bundesministerium des Innern - in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 06 ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Konsequenzen ziehen aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 30. Mai 2006 zur Weitergabe europäischer Fluggastdaten an die Vereinigten Staaten von Amerika
- Drucksache 16/1876 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/1876 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt I.12 auf:
hier: Einzelplan 11
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
- Drucksachen 16/1311, 16/1324 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Lehn
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor. Über den Änderungsantrag auf Drucksache 16/1866 werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Claudia Winterstein, FDP-Fraktion.
Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im letzten Jahr warnte der Bundesrechnungshof vor einer drohenden finanziellen Handlungsunfähigkeit des Bundes. Ich zitiere:
Erstmals in der Geschichte des Bundeshaushalts entfällt mehr als die Hälfte des veranschlagten Haushaltsvolumens auf den Sozialbereich.
Zinsausgaben und Sozialausgaben zusammengenommen zehren 90 Prozent der Steuereinnahmen des Bundes auf. Diese Kritik richtete sich noch an die Haushaltspolitik von Rot-Grün. Der erste Haushalt von Schwarz-Rot zeigt uns jetzt: Die notwendige Trendwende ist nicht geschafft. Der Anteil der Sozialausgaben ist sogar noch gestiegen. 51,2 Prozent aller Ausgaben des Bundes fließen in diesem Jahr in den Sozialbereich. Der Haushalt des Arbeits- und Sozialministers ist der größte Einzeletat. Deswegen müssen hier besondere Konsolidierungsanstrengungen unternommen werden. Die Haushaltsberatungen haben aber gezeigt: Der Haushalt des Arbeitsministers leistet keinen Beitrag zur Konsolidierung.
Die Ausgaben werden nicht gekürzt. Der Arbeitsminister hat bei der Haushaltskonsolidierung schlichtweg versagt.
Auf dem Gebiet der sozialen Sicherung bekommen Sie die Probleme nicht in den Griff. Sie doktern an den Symptomen herum, aber Sie haben kein Konzept. Die Rentenbeiträge sollen im nächsten Jahr erhöht werden. Trotzdem reicht das Geld nicht. In Ihrem Rentenbericht arbeiten Sie mit geschönten Zahlen und täuschen den Bürger darüber hinweg, welche wahren Notwendigkeiten hier anstehen.
Herr Minister, beim Arbeitslosengeld werden Sie von den Kosten überrollt. Die Kosten für Hartz IV laufen in diesem Jahr zum zweiten Mal völlig aus dem Ruder.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich bitte, die Gespräche auf der Regierungsbank einzustellen.
Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Unter Rot-Grün explodierten im Jahr 2005 die Kosten von 14,6 Milliarden Euro auf 25 Milliarden Euro. Unter Schwarz-Rot werden in diesem Jahr etwa 27 Milliarden Euro gebraucht. Das ist die Fortsetzung rot-grüner Misswirtschaft.
Der Arbeitsminister hat nun versucht, uns vorzurechnen, dass der Haushaltsansatz für Hartz IV reicht. Er hat uns erklärt, die Ausgaben für Hartz IV lägen stabil bei 2,25 Milliarden Euro im Monat. Das macht nach Adam Riese 27 Milliarden Euro im Jahr. Eingeplant sind aber nur 24,4 Milliarden Euro. Wollen wir jetzt darüber streiten, Herr Minister, ob das eine Milliardenlücke ist oder nicht? Darüber kann man wohl kaum streiten, wenn Sie einigermaßen rechnen können.
Von dem Plan, im Jahr 2006 insgesamt 3 Milliarden Euro durch Optimierungen bei Hartz IV einzusparen, ist die Regierungskoalition Stück für Stück abgerückt. Übrig geblieben ist ein Sparvolumen von weniger als 500 Millionen Euro; alles andere wurde vertagt.
Dieses Thema hat auch innerhalb der Koalition schon zu heftigem Streit geführt. Aber jetzt demonstrieren Sie Scheinfrieden und haben die Reformdebatte erst einmal vertagt. Das bedeutet aber: Zusätzlich zu den offenen Reformfeldern wie Gesundheit, Unternehmensteuer und Föderalismus gibt es mit der Frage der Hartz-IV-Reform ein weiteres Feld, bei dem keiner mehr weiß, wohin sich die Kontrahenten überhaupt bewegen und wie sie sich jemals einigen wollen.
Noch schlimmer aber ist, dass Sie auf dem Arbeitsmarkt nicht die richtigen Weichen stellen. Denn das grundlegende Problem ist nicht Hartz IV. Das grundlegende Problem ist, dass zu viele Menschen keine Arbeit haben.
4,5 Millionen Menschen sind arbeitslos. Die gegenwärtige minimale Besserung darf kein Anlass zur Zufriedenheit sein. Denn was die Arbeitsplätze betrifft, so ist immer noch ein Rückgang und kein Zuwachs zu verzeichnen. Wirklich helfen kann uns nur die Schaffung besserer Perspektiven für Unternehmen, die dazu führen, dass sie bereit sind, neue Arbeitskräfte einzustellen. Hier muss der Arbeitsminister seinen Schwerpunkt setzen.
Aber was erleben wir? Die „FAZ“ vom 24. Mai dieses Jahres bringt es auf den Punkt:
Münteferings Bemühungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind im besten Fall teuer und nutzlos...
Die Vorschläge der FDP liegen auf dem Tisch: Senkung der Steuern und der Lohnnebenkosten, damit die Menschen netto mehr in der Tasche haben, Lockerungen beim Kündigungsschutz, damit Einstellungshemmnisse wegfallen, flexiblere Tarifgestaltung, damit Betriebe und Belegschaften auch schwierige Situationen besser meistern können, Freigabe der Höhe der Ausbildungsvergütungen, damit mehr Lehrstellen angeboten werden, und Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung, damit die Wirtschaft 2007 nicht abgewürgt wird. Aber das wollten Sie ja nicht.
Wie sehr die Koalition in die falsche Richtung denkt, hat auch die Diskussion über die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit gezeigt. Hier wurden die verschiedensten Ideen entwickelt, wie der Bund aus diesem Topf etwas für sich abzweigen könnte. Die verfassungsrechtlichen Probleme sind dabei völlig außer Acht gelassen worden.
Ich will für die FDP ganz deutlich sagen: Überschüsse, die bei der Bundesagentur entstehen, müssen genutzt werden, um die Beiträge und damit die Lohnnebenkosten zu senken.
Das Beitragsaufkommen aus den Taschen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer darf nicht zum Selbstbedienungsladen der Bundesregierung werden.
Dass der Haushalt des Arbeitsministers keinen Beitrag zur Konsolidierung leistet, will ich an einem weiteren Beispiel deutlich machen: Sie sperren bei den Eingliederungsmaßnahmen 1,1 Milliarden Euro, weil dort mehr Geld veranschlagt worden ist, als sinnvollerweise ausgegeben werden kann. Sie sparen dieses Geld aber nicht ein. Im Gegenteil, Sie wollen es gleich mehrfach ausgeben: Erstens soll dieser Puffer die Mehrkosten beim Arbeitslosengeld II decken; allein dafür ist diese Summe aber viel zu gering. Zweitens möchte die Union aus diesem Topf auch noch Mittel für den geplanten Kombilohn abzweigen. Aber zweimal können auch Sie, meine Damen und Herren, dieses Geld nicht ausgeben.
Für die Eingliederungsmaßnahmen sind knapp 6,5 Milliarden Euro vorgesehen. Im vergangenen Jahr lagen diese Ausgaben bei 3,5 Milliarden Euro. Im ersten Drittel dieses Jahres sind 1,14 Milliarden Euro abgeflossen. Nichts spricht also dafür, dass es in diesem Jahr mehr als 3,5 Milliarden Euro werden.
Deswegen hat die FDP beantragt, diesen Titel auf 3,5 Milliarden Euro zu kürzen und mit den eingesparten 3 Milliarden Euro einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung zu leisten. Unser Antrag hätte also zur Folge, dass die Eingliederungsmaßnahmen in gleicher Höhe wie im Vorjahr fortgeführt würden. Alles, was gestern zu diesem Punkt gesagt worden ist, ist schlichtweg falsch.
Mit unserem „Liberalen Sparbuch“ haben wir Ihnen mit fast 500 Anträgen Sparvorschläge in einer Größenordnung von 8,3 Milliarden Euro geliefert. Sie haben sie abgelehnt. Sie denken nicht ans Sparen. Hätten Sie unsere Vorschläge aufgegriffen, hätten Sie die Maastrichtkriterien einhalten können. Dass Sie das nicht geschafft haben, stört Sie aber nicht. Der Stabilitätspakt wird 2006 wieder verletzt. Der Haushalt 2006 ist wieder verfassungswidrig. Sämtliche Anstandsgrenzen der Haushaltspolitik sind also verletzt. Die Regierung verfährt nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.
Als Fazit bleibt nur: Dieser erste schwarz-rote Haushalt ist kein Stück Verbesserung - im Gegenteil, er läuft weiter in die falsche Richtung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Waltraud Lehn, SPD-Fraktion.
Waltraud Lehn (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich bei den Mitberichterstattern für die sehr faire und konstruktive Beratung, die wir über viele Wochen miteinander hatten, recht herzlich bedanken. Trotz oft unterschiedlicher Auffassungen - auch in der Opposition gab es unterschiedliche Auffassungen; das sind bei diesem Einzeplan wirklich drei unterschiedliche Oppositionslinien - war die Zusammenarbeit insgesamt sehr gut und wir konnten eine sehr offene Auseinandersetzung führen.
Bedanken möchte ich mich auch beim Minister, der uns über einen langen Zeitraum zur Verfügung gestanden und die vielfältigen Anfragen sehr offen beantwortet hat, manchmal mehrere Dutzend pro Woche. Das Ministerium war ausgesprochen fleißig und hat gut zugearbeitet, sodass wir die Beratungen selber in der gebührenden Form abschließen konnten. Den Mitarbeitern in seinem Haus, besonders der Haushaltsabteilung, aber auch dem Finanzministerium und dem Bundesrechnungshof herzlichen Dank!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute über fast 45 Prozent des gesamten Haushalts. Von insgesamt 262 Milliarden Euro geben wir 119,5 Milliarden Euro, also 45 Prozent, nur für den Sozialbereich - Einzelplan 11 - aus. Nimmt man die rund 10 Milliarden Euro hinzu, die wir an anderer Stelle an Sozialausgaben leisten, dann bedeutet das, dass wir von 100 Euro Steuern, die wir von den Menschen in diesem Land erhalten, 72 Euro an sie zurückgeben - allein für Sozialleistungen!
Wenn man sich das vor Augen führt, merkt man sehr schnell, dass für die übrigen Bereiche zu wenig Geld übrig bleibt. Das ist sicherlich nicht gut.
Aber wir arbeiten an einer positiven Entwicklung, weniger spektakulär als vermutet, aber sehr geradlinig und sehr konsequent. Für den Sozialhaushalt bedeutet das:
Erstens. Wir brauchen eine Balance zwischen dem, was der Staat für diejenigen leisten muss, die wirklich darauf angewiesen sind, und dem, was er insgesamt ausgeben kann. Also müssen entweder die Einnahmen steigen oder die Ausgaben sinken - am besten beides, sage ich.
Zweitens. Die zukünftigen Generationen, unsere Kinder und Enkel, brauchen eigene Handlungsmöglichkeiten. Deshalb müssen die Schulden abgebaut werden, sie dürfen nicht erhöht werden. Wir brauchen mehr Geld für Bildung und Forschung; das sind Investitionen in unsere Kinder und damit in unsere Zukunft.
Drittens. Die Sicherung des Sozialstaates ist die beste Garantie für den sozialen Frieden und für Wachstum und Beschäftigung. Deshalb sind alle den Prinzipien des Sozialstaates verpflichtet, auch diejenigen, die sich hier gelegentlich als nicht - oder ich sage besser: nicht mehr - zuständig empfinden.
Diese drei Grundgedanken müssen wir berücksichtigen, wenn wir über die Ausgaben für den Sozialstaat reden. Das müssen auch diejenigen wissen, die die Hilfe des Staates beanspruchen. Sie müssen sich fragen lassen, ob sie wirklich alles getan haben, um sich selbst zu helfen, und ob sie wirklich alles einbringen, was ihnen möglich ist. Es geht nicht, zunächst einmal zu schauen, was beim Staat zu holen ist, und sich erst dann darum zu kümmern, was man selbst tun muss.
Aber, meine Damen und Herren, eine solche Haltung hat sich in den letzten Jahrzehnten auch deshalb, vielleicht vor allem deshalb entwickelt, weil sowohl einige Prominente - da sind manche ehemalige Fußballspieler nicht ausgenommen -
als auch manche Unternehmen in diesem Land alles, aber auch wirklich alles dafür tun, um sich von Steuerzahlungen zu befreien.
Das exzessive Suchen und Ausnutzen von Steuerschlupflöchern ist zu einer Selbstverständlichkeit, ja schon fast zu einem Sport geworden. Das hat nicht zuletzt dazu geführt, dass auch die Menschen mit kleinem Einkommen nach Mitnahmemöglichkeiten suchen.
Bei den Haushaltsberatungen ist die Finanzierung des Bereichs Arbeit zugegebenermaßen der Bereich, der uns zurzeit Sorgen bereitet. Wie schon im vergangenen Jahr liegen die Ausgaben beim Arbeitslosengeld II in diesem Jahr voraussichtlich über dem ursprünglich angenommenen Wert. Grund dafür ist nach wie vor die hohe Zahl an Bedarfsgemeinschaften sowie die steigende Zahl derjenigen Hilfebezieher, die ergänzend zum Arbeitslosengeld I oder ergänzend zu dem, was sie an Arbeitslohn erhalten, Arbeitslosengeld II erhalten müssen.
Um den wahrscheinlichen Mehrbedarf hier ohne zusätzliche Neuverschuldung auszugleichen, haben wir bei den veranschlagten Ausgaben für die Eingliederung von Empfängern des Arbeitslosengelds II eine Sperre in Höhe von 1,1 Milliarden Euro vereinbart. Das ist uns nicht leicht gefallen; denn im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, Frau Winterstein, sind bereits heute, wie die Arbeitsagentur nicht nur mir sondern auch Ihnen schriftlich mitgeteilt hat, mehr als zwei Drittel dieser Mittel insgesamt gebunden.
Im Gegensatz zum letzten Jahr ist es so, dass man bereits Anfang dieses Jahres mit guten, vernünftigen Maßnahmen, die den Menschen helfen sollen, wieder einen Arbeitsplatz zu finden, arbeiten konnte und das auch getan hat. Von daher setzen wir darauf, dass diese Mittel, die ursprünglich für dieses Jahr veranschlagt waren, im nächsten Jahr dann auch tatsächlich verausgabt werden.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?
Waltraud Lehn (SPD):
Aber sicherlich.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Frau Kollegin, weil ich vorgestern vom Bundesfinanzminister darauf keine Antwort erhalten habe, versuche ich es bei Ihnen - ermutigt auch von Ihrer klaren, fast zu Ende geführten Andeutung. Könnte es sein, dass Sie mit den Fußballern auch den Kaiser Franz Beckenbauer meinen? Denn in der Presse steht, dass er in Kitzbühel seinen Steuerwohnsitz hat.
Der Finanzminister hat nicht geantwortet. So geht es jedenfalls durch die Presse: Ich hatte einmal ausnahmsweise nicht nur nach der Steuermeidung durch Deutsche Bank, BMW und Daimler-Chrysler gefragt, sondern eben auch nach Franz Beckenbauer. Wie kommt es bei den Menschen an - um deren Steuersolidität haben Sie ja hier geworben -, wenn sich die Frau Bundeskanzlerin in der Öffentlichkeit Tag für Tag, Stunde für Stunde neben Franz Beckenbauer präsentiert?
- Wir zahlen ordentlich unsere Steuern. Das erwarten wir auch von dem, der als oberster Repräsentant der deutschen Sportkultur fungieren möchte.
Waltraud Lehn (SPD):
Ich will gerne auf die Frage eingehen.
Ich glaube, dass es falsch ist, wenn man hier nach Einzelpersonen schaut, weil es ein kollektives Problem ist. Es ist ein Problem von Menschen, die es ohne jedes Unrechtsbewusstsein für selbstverständlich erachten, zu schauen, wie sie möglichst viel von ihrem Geld an der Finanzierung der gesellschaftlichen Aufgaben vorbei irgendwohin transferieren können, wohin immer das auch sein mag. Die Frage, ob das Herr Beckenbauer macht, kann ich Ihnen überhaupt nicht beantworten. Ich kann Ihnen aber eines sagen: Wir wissen, dass sich prominente Einzelpersonen so verhalten.
Ich glaube, es war Herr Müller von der Firma, die die Müller-Milch herstellt, der gesagt hat: Ich gehe in die Schweiz, damit meine Erben von meinem großen Vermögen möglichst viel behalten. Solche Aussagen gibt es also. Sie werden in den Medien nicht angegriffen und ihnen wird meiner Meinung nach nicht mit der gebotenen Skepsis begegnet. Ich denke, dass diejenigen, die in diesem Land davon profitieren, dass wir einen hohen Standard haben und dass hier nach wie vor viele gut ausgebildete Menschen arbeiten, insgesamt und jeden Tag eine Verpflichtung gegenüber diesen Menschen und diesem Land haben; denn es kann nicht sein, nur zu jubeln, wenn ein Tor für Deutschland geschossen wird.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?
Waltraud Lehn (SPD):
Nein, ich denke, das sollten wir nicht tun, weil es dann ein Dialog wird. Am Rande des Plenums stehe ich aber gerne zu jedem Gespräch zur Verfügung.
- Ja, genau.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die Instrumente für den Arbeitsmarkt mit dem Ziel korrigiert, weniger Arbeitslose, längere Erwerbszeiten, einen weniger großzügigen Gestaltungsspielraum und eine Einschränkung der Möglichkeiten zum Missbrauch zu erreichen. Ich sage aber noch einmal: Es sind weniger die Missbräuche als die Gestaltungsmöglichkeiten, die uns Probleme machen. Um unser Ziel zu erreichen, brauchen wir Unternehmen, die ihrer Verantwortung endlich nachkommen und nicht wie bisher trotz hoher Renditen Entlassungen vornehmen und Ausbildungsplätze streichen.
Durch die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 2007 haben wir einen wichtigen Impuls für die Schaffung neuer Arbeitsplätze geschaffen. In den Wirtschaftsgutachten aller Institute - das hat man ja selten - wird bestätigt, dass die Rahmenbedingungen für eine kräftige Entspannung auf dem Arbeitsmarkt seit Jahren nicht so gut gewesen sind wie derzeit. Jetzt kommt es aber darauf an, dass die Wirtschaft ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt.
Die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung führt zu einer realen Entlastung der Arbeitgeber und der Beschäftigten um jeweils 2,8 Milliarden Euro. Die Bundesagentur für Arbeit kann die Absenkung des Beitrags mit dem von ihr in diesem Jahr zu erwartenden Überschuss locker finanzieren, weil sie zusätzlich Geld aus der Mehrwertsteuererhöhung erhält. Dies wird bei manchen Diskussionsbeiträgen überhaupt nicht beachtet: 1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuererhöhung dient der Absenkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung.
Am Beispiel des Arbeitsmarkts wird deutlich, dass der Staat auch in Zukunft seinen Beitrag leistet, um Menschen zu unterstützen, wenn sie Hilfe brauchen. Er ist auch ein Beispiel dafür, dass wir bei knapper werdenden Haushaltsmitteln und bei großen Haushaltsdefiziten vor den sicherlich unangenehmen Fragen stehen, was der Staat sinnvollerweise überhaupt leisten kann, welche Hilfe politisch gewollt ist und wie sie ausgestaltet sein muss. Nur so werden wir den Sozialstaat sicher halten können.
Wir stehen aber auch vor den Fragen, welche Verantwortung der Einzelne hat und welche Verantwortung gerade auch die Wirtschaft und Unternehmen in diesem Zusammenhang haben. Ich halte es für einen ganz besonderen Skandal, dass es Unternehmen gibt, die keine Ausbildungsplätze anbieten.
Sie handeln damit nicht nur grob fahrlässig gegenüber den jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen, sondern sie schaffen mit dieser Verweigerungshaltung Arbeitslose und somit die finanziellen Belastungen dieses Landes von morgen.
Wir alle sind gefordert: die Politik, die Unternehmen, die Gewerkschaften, aber auch jede und jeder Einzelne. Die Leistungsfähigkeit unseres Staates ist begrenzt. Wir müssen die hohe Staatsverschuldung von 1,4 Billionen Euro abbauen. Die Bewegungsfreiheit kommender Generationen darf nicht von einem engen Schuldenkorsett bestimmt werden und wir müssen in die Zukunft investieren.
Wir müssen aber auch Verlässlichkeit schaffen, zum Beispiel für die alten Menschen, die Rentner und Rentnerinnen und die Kranken, das heißt für diejenigen, die Hilfe brauchen. Die Verlässlichkeit muss aber für beide Seiten gelten. Die Menschen müssen wissen, dass sie Unterstützung erhalten, wenn sie sie brauchen. Gleichzeitig braucht der Staat die Gewissheit, dass seine Hilfe nur dann in Anspruch genommen wird, wenn Selbsthilfe nicht möglich ist.
Wir brauchen Unternehmen, die ihr Heil nicht nur in Gewinnmaximierung suchen, sondern die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind und ihr gerecht werden.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Lehn, Sie haben viele Punkte angesprochen, bei denen wir von der Linken klatschen konnten. Aber man muss sich in einer Haushaltsdebatte auch mit den Gesetzen auseinandersetzen, die Sie in den letzten Wochen mit durchgedrückt haben. Diese sprechen leider eine andere Sprache.
Sie sprechen folgende Sprache: In dem Wahn, den schwarzen Peter für die Massenarbeitslosigkeit den Erwerbslosen in die Schuhe zu schieben, hat die große Koalition bisher leider vor nichts zurückgeschreckt, auch nicht vor der Verfassung. Verfassungsmäßig geschützte Rechte und Prinzipien wurden leichtfertig geopfert.
Dies spiegelt sich auch im vorliegenden Haushalt wider. Darin sind bereits Kürzungen eingeplant, die durch die Verschärfung der Hartz-IV-Regelungen erreicht werden sollen. Das möchte ich an drei Beispielen erläutern.
Erstens. Die Umkehr der Beweislast bei den Bedarfsgemeinschaften ist ein Angriff auf den Rechtsstaat.
„Im Zweifel für den Angeklagten“ ist ein rechtsstaatliches Prinzip, das hierzulande selbst für Mörder gilt. Aber für Erwerbslose, die in einer Wohngemeinschaft leben, soll dies künftig außer Kraft gesetzt werden.
Der Bundessozialrichter Ulrich Werner hat diese Beweislastumkehr zu Recht als völlig verkehrt bezeichnet. Ich zitiere seine Begründung:
Weil zwei Personen im Rechtssinne nicht beweisen können, dass sie einander nicht in einer eheähnlichen Gemeinschaft verbunden sind, kann ihnen auch keine entsprechende Beweislastumkehr auferlegt werden.
Wir fordern die Koalition deswegen auf: Nehmen Sie die Beweislastumkehr zurück!
Zweitens. CDU und SPD untergraben das Grundrecht auf freie Berufswahl. In Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes heißt es:
Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.
Aber beim Fortentwicklungsgesetz haben Sie beschlossen, dass Erwerbslose jedes Angebot annehmen müssen. Dies ist ein Angriff auf die verfassungsrechtlich geschützte freie Wahl des Arbeitsplatzes, die durch eine Diffamierungskampagne und künstliche Missbrauchsdebatte flankiert wird.
Wenn Sie sich so über unsere Kritik aufregen, dann möchte ich Sie daran erinnern, dass wir mit dieser Kritik nicht alleine stehen. Namhafte Bürgerrechtsvereinigungen wie der Republikanische Anwälteverein, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, die Humanistische Union und viele andere kritisieren diese Entwicklung aufs Schärfste.
In dem von ihnen verfassten Grundrechte-Report finden sie ziemlich klare Worte zu den aktuellen Entwicklungen. Darin heißt es:
Hartz IV schafft Arbeitszwang statt Berufsfreiheit und pauschaliert die Menschenwürde.
Bei der Vorstellung des aktuellen Grundrechte-Reports in Karlsruhe fand die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes, Jutta Limbach, klare Worte für die ständig am Kochen gehaltene Missbrauchsdebatte.
Solch eine Geisteshaltung
- so Limbach zu der Missbrauchsunterstellung -
mache unempfindlich für die Grund- und Menschenrechte der sozial und ökonomisch Schwachen.
Das ist das Urteil einer ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes zu Ihrer Politik!
Drittens. CDU, CSU und SPD rütteln am Sozialstaatsprinzip. Bei nicht willfährigem Verhalten können sowohl das Arbeitslosengeld II als auch die Kosten der Unterkunft um bis zu 100 Prozent gekürzt werden und selbst die Sachleistungen wie Lebensmittelkarten sind nur eine Kannregelung und nicht definitiv garantiert.
Wenn also Menschen im Zweifelsfall zum Hungern und Frieren freigegeben werden,
dann ist das Sozialstaatsprinzip nun wahrlich gefährdet.
- Nein, es handelt sich eben nicht um Arbeitsplätze. Es wird gefordert, dass sie jedes, aber auch jedes Angebot annehmen müssen, jeden 1-Euro-Job und jede andere Zwangsmaßnahme, die Sie sich einfallen lassen. Ansonsten können die Leistungen um 100 Prozent gekürzt werden. Sie sollten einmal Ihre eigenen Änderungsanträge lesen.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und SPD, die Gewährung eines Existenzminimums für jeden Menschen ist keine Entscheidung, die unserer Laune obliegt, und auch nicht ein Akt besonderer Großzügigkeit oder Mildtätigkeit. Bei der Gewährung eines Existenzminimums für jeden hier lebenden Menschen handelt es sich schlicht und ergreifend um ein Verfassungsgebot - ein Verfassungsgebot, das wir ernst nehmen müssen und zu verteidigen haben.
Denn das Sozialstaatsprinzip genießt innerhalb unserer Verfassung einen besonderen Rang, schließlich ist es durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Grundgesetz garantiert.
Während Millionen Menschen in diesem Land nun mehr Armut und mehr Repressionen bange entgegensehen, planen CDU und CSU weiteren Sozialraub. Offensichtlich sind inzwischen alle moralischen Dämme gebrochen. Zumindest wird dieser Eindruck erweckt, wenn man an die aktuellen Forderungen des arbeitsmarktpolitischen Sprechers Stefan Müller von der CDU/CSU denkt. Er schlug vor, alle Langzeitarbeitslosen zu einem Gemeinschaftsdienst zu verpflichten. Mit diesem Vorstoß beweisen Sie eines ganz klar, nämlich dass Ihnen die Verfassung egal ist. Denn in Art. 12 Abs. 3 heißt es eindeutig:
Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich verordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Als dieser menschenverachtende Vorstoß in der Zeitung erschien, rief bei mir ganz aufgeregt eine Arbeitslosengeld-II-Bezieherin an und fragte mich, wann dieser Arbeitsdienst eingerichtet werde. Ich muss sagen, es ist verwunderlich, dass aus den Reihen von CDU/CSU zu diesem menschenverachtenden Vorstoß nur ein Satz zu hören war: Dies sei nicht abgestimmt. Als ob dieser Vorstoß besser werden würde, wenn er abgestimmt worden wäre. Deshalb fordern wir ganz klar: Distanzieren Sie sich von dieser Zwangsmaßnahme!
Vor kurzem forderte der SPD-Vorsitzende Beck von Armen und Erwerbslosen mehr Anstand ein. Man müsse ja nicht alles herausholen, was einem zustehe. So Beck in Richtung der Erwerbslosen.
Ja, mit vollem Bauch und gut gefülltem Konto lässt sich leicht Verzicht von denjenigen einfordern, denen es nicht so gut geht. Da drängt sich natürlich die Gegenfrage auf: Herr Beck, auf welche Steuervergünstigungen verzichten Sie denn in Zukunft freiwillig und selbstlos?
Nachdem Herr Beck 14 Kilogramm abgenommen hatte, erklärte er gegenüber den Medien: Ich kann den Gürtel nicht mehr enger schnallen, er ist im letzten Loch.
Eine weise Erkenntnis. Diese Sensibilität für die Begrenztheit des Gürtel-enger-Schnallens sollte aber nicht beim eigenen Gürtel Halt machen. Deswegen sollten Herr Kurt und seine Sozialdemokraten aufhören, die Ärmsten in dieser Gesellschaft dazu zu verdonnern, den Gürtel immer enger zu schnallen.
Statt weiterer Kürzungen beim Arbeitslosengeld II bedarf es einer Überwindung des Arbeitslosengeldes II hin zu einer repressionsfreien sozialen Grundsicherung. Die Erhöhung des Regelsatzes auf 420 Euro ist das Mindeste, was einem Menschen zustehen sollte.
Wir werden dies mit einem Änderungsantrag einbringen und bitten um Zustimmung.
Danke.
Vielleicht sagen Sie das Ihren Leuten einmal, wenn Sie hier schon so großspurig auftreten.
Ich möchte auf die positiven Aspekte des Haushalts zu sprechen kommen; sie sind gewaltig. Der gewaltigste ist, dass wir zum ersten Mal nach 21 Jahren keinen Bundeszuschuss für die Bundesagentur für Arbeit benötigen. Das ist eine Weichenstellung besonderer Art, und dies bereits nach sieben Monaten große Koalition, Frau Kollegin Winterstein.
Genauso wichtig sind die Weichenstellungen zugunsten von Beitragssenkungen im nächsten Jahr. Die Weichen wurden dabei so gestellt, dass die Bundesagentur für Arbeit die Vorgabe von 1 Prozent tatsächlich bewältigen kann. Damit entfällt ein Risiko für den Bundeshaushalt, wenn die Beitragssenkungen wirksam werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Nebenbei gesagt: Im Hinblick auf die prognostizierte Entwicklung der Rentenversicherung müssen wir uns ebenfalls keine Sorgen um den Bundeshaushalt machen. Das ist auch ein wichtiger Punkt, wenn es darum geht, die Zukunft zu gestalten.
Hier sind ordnungspolitische Fragen angesprochen worden. Die Arbeitslosenversicherung ist in allererster Linie eine Risikoversicherung. Deswegen muss alles andere, was nicht der Risikoabsicherung dient, vom Steuerzahler finanziert werden. Dementsprechend müssen wir unsere Politik gestalten. Das tun wir mit dem vorliegenden Haushalt auch.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Entlastung der Beitragszahler. Leistung muss sich wieder lohnen. Wir sorgen dafür, indem wir die Beiträge senken. Es wird uns mit dem vorliegenden Haushalt gelingen, im nächsten Jahr die Quote der Sozialabgaben auf unter 40 Prozent zu senken. Man hat sich dieses Ziel schon sehr lange gesetzt, aber nie erreicht. Aber dieses Mal wird es gelingen, und dies bereits nach sieben Monaten große Koalition, Frau Winterstein.
Ich bin der Auffassung, dass trotz aller Probleme wichtige und positive Signale von dem vorliegenden Haushalt ausgehen werden, und zwar auch für den ersten Arbeitsmarkt; darauf kommt es an. Die Einschätzung ist sicherlich richtig, dass durch die Umgestaltung der Ich-AG zu effektiveren, transparenteren und preisgünstigeren Lösungen ein weiterer Beitrag zur Entlastung des Haushalts der Bundesagentur für Arbeit geleistet wird und dass damit eine Sicherung gegeben ist, die dafür sorgt, dass wir keine Überraschungen erleben müssen, und zwar weder in diesem noch im nächsten Jahr. So muss es weitergehen.
In diesem Zusammenhang ist für meine Fraktion folgender Punkt sehr wichtig: Sollte die Bundesagentur für Arbeit Überschüsse erwirtschaften, dann sind sie in allererster Linie für weitere Beitragssenkungen zu verwenden; denn nur auf diese Weise werden wir das Ziel erreichen, die Beitragslast auf das Niveau von vor 1989 zu reduzieren.
Wir sind auf einem guten Weg; er muss fortgesetzt werden. Mit einem Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung von 4,5 Prozent sind wir von unserem Ziel nur noch 1 Prozentpunkt entfernt. Es muss uns gelingen, den Beitragssatz um einen weiteren Prozentpunkt zu senken; daran müssen wir arbeiten.
Ich möchte deutlich machen: Die Finanzierung der Leistungen im Zusammenhang mit dem Arbeitslosengeld II wird durch Steuermittel sichergestellt. Hier ist der Bundeshaushalt gefordert. Es darf nicht erneut eine Verschiebung zulasten der Beitragszahler vorgenommen werden. Darauf muss konsequent geachtet werden. Wir von der Union sind dankbar, dass unser Koalitionspartner unseren Wünschen Rechnung getragen hat und dass wir ein entsprechendes Paket vorlegen konnten.
Erinnern wir uns an die Situation, als Herr Clement hier stand - damals waren die Verhältnisse noch etwas anders, wie wir wissen -; man ging davon aus, dass 14 Milliarden Euro gebraucht würden. Wir haben das damals nicht so ganz geglaubt; darin sind wir uns mit anderen einig gewesen. Es hat auch nicht so funktioniert, wie es vorgesehen war. Ich sage an die Adresse der Grünen: Wenn man da besser aufgepasst hätte, wäre die Situation jetzt einfacher. Die Ausgabensteigerung ist mit brutto nahezu 2 Prozentpunkten Mehrwertsteuer groß! Denken Sie einmal daran, welch komfortable Situation wir hätten, wenn die Prognosen von Clement eingetreten wären! Das wäre eine ganz andere Ausgangssituation. Aber da wir jetzt nun einmal in dieser Situation sind, werden wir mithelfen, dass es besser wird.
Dazu gehört natürlich auch, dass wir weiter an Kosteneinsparungen bei Hartz IV arbeiten werden:
Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen und Nutzung aller Einsparungspotenziale, zunächst einmal im Verwaltungsbereich, im Gesetzesvollzug und beim Missbrauch. Es kann nicht so sein, dass sich die einen die Steuer und die anderen Hartz IV gestalten und dazwischen die ehrlichen Steuerzahler und Leistungsempfänger sind. Wir sind auf der Seite der ehrlichen Steuerzahler und Leistungsempfänger.
Deswegen muss Missbrauch mit aller Kraft bekämpft werden. Missbrauch darf nicht länger ein Kavaliersdelikt sein. Es kann nicht sein, dass Missbrauch zwar zur Anzeige gebracht wird, aber nicht zur Verurteilung führt, da die Verfahren in großem Stil eingestellt werden. Sozialleistungsmissbrauch, egal wer ihn betreibt, muss bekämpft werden. Daran muss stärker unter generalpräventiven Gesichtspunkten herangegangen werden, damit wir den Ehrlichen und den Schwachen, der die Leistung braucht, besser in Schutz nehmen und ihm die Leistung auch gewähren können.
In diesem Zusammenhang wird es natürlich auch darauf ankommen, zu klären, wer bei den Arbeitsgemeinschaften künftig den Hut aufhat. Mir sagen die Kollegen aus Thüringen beispielsweise, dass die Optionskommunen wesentlich bessere Ergebnisse bringen als andere.
Ich höre, dass Arbeitsgemeinschaften mehr Selbstständigkeit wünschen, um besser voranzukommen, die Sparziele besser einzuhalten und mehr Treffsicherheit zu erreichen.
Die Diskussion um Hartz IV ist noch nicht am Ende. Es gibt noch sehr viele Potenziale. Es wird uns gelingen, hier zu niedrigeren Ausgaben zu kommen, ohne dass wir den Leuten gleich etwas wegnehmen müssen. Das muss die erste Zielsetzung bei dem Ganzen sein.
Es kann nicht sein, dass die Leistung gewährt wird, sechs Monate lang nichts geschieht und dann die erste Maßnahme beginnt. Wir müssen für Folgendes sorgen: Derjenige, der eine Leistung bekommt, muss unverzüglich und unmittelbar ein Angebot zur Arbeitsaufnahme oder wenigstens zur Erprobung erhalten. Wenn wir das erreichen, werden die Leute von selbst daran interessiert sein, dass sie möglichst schnell aus dieser Situation herauskommen. Dann werden sich die Probleme auch sehr schnell etwas reduzieren.
Die Probleme sind da. Man muss wissen, dass beispielsweise 15 Prozent der Beratungsgespräche ausfallen. Hier würden wir uns nichts vergeben, wenn wir die Leute, die einfach nicht erscheinen, mit einer Säumnisgebühr belegen würden.
So etwas muss einfach gemacht werden, um Zeichen zu setzen.
- Da schreien Sie. Ist es in Ordnung, wenn man einfach nicht erscheint und der Apparat stillsteht? Ihrer Ansicht nach macht das alles wohl nichts. Dieser Schlendrian darf aber nicht sein; sonst werden wir nie in eine entsprechende finanzielle Situation kommen.
Ich möchte mich einem weiteren Punkt widmen, den auch schon die Kollegin Lehn angesprochen hat, nämlich den Ausgaben für die Eingliederungshilfe. Hier unterscheidet sich die Position der Union von jener der FDP. Man kann nicht einfach das Geld streichen und sagen: Dann gibt es halt nichts mehr.
Aufgrund der besonders hohen Arbeitslosigkeit in manchen Bereichen in Deutschland müssen wir sorgfältig mit den Eingliederungsmaßnahmen umgehen. Richtig ist, dass 50 Prozent der Ausgaben in Richtung Ostdeutschland fließen, weil dort die Probleme am größten sind.
Wir werden das Geld aber nicht unüberlegt unter die Leute bringen, sondern gemeinsam mit dem Minister sehr sorgfältig darauf achten, dass effektiv gearbeitet wird und dass derjenige, der eine solche Leistung benötigt, die Chance hat, sie auch zu bekommen. Das Ganze darf nicht nur fiskalisch betrachtet werden, sondern der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Das ist christlich-demokratische und christlich-soziale Politik. Da gibt es zwischen uns ganz gewaltige Unterschiede.
Meine Damen und Herren, da dieser Bereich im Mittelpunkt steht, habe ich mich ihm etwas ausführlicher gewidmet. Wenn wir die ALG-II-Problematik besser in den Griff bekommen, dann werden wir auch bezüglich des Sozialhaushaltes Entwarnung geben können; denn dann wird der Sozialhaushalt noch mehr zur Konsolidierung des Gesamthaushalts beitragen können. Das ist unsere Zielsetzung, an der wir weiter arbeiten werden. Wir werden den Minister in seinen Bemühungen voll unterstützen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel kann man an dem Etat Arbeit und Soziales von Bundesminister Müntefering erkennen, wie schwierig es ist, den Bundeshaushalt in Ordnung zu bringen. Es ist hier schon gesagt worden: Arbeit und Soziales machen 45 Prozent der Ausgaben im Bundeshaushalt aus. Das sind keinesfalls schlechte Ausgaben; auch das sollte man einmal sagen. Aber es ist eine große Masse. Der größte Brocken davon ist die Rente mit 78 Milliarden Euro. An zweiter Stelle steht mit knapp 40 Milliarden Euro die Arbeitsmarktpolitik im weiteren Sinne.
Ich möchte ganz kurz etwas zur Rente sagen, weil uns dieser Punkt auch in Zukunft sehr stark beschäftigen wird. So richtig ich es finde, dass Sie die Rente ab 77 Jahren - Entschuldigung, ab 67 Jahren - eingeführt haben
- das wäre auch wirklich falsch -, so muss ich doch auf Probleme hinweisen, die noch ungelöst sind. Ich erwähne dieses Thema, obwohl es unpopulär ist. Ich habe aber gerade wieder feststellen können, mit wie viel positiver Herausforderung die Rentenreform in Finnland und Schweden angegangen wurde. Dort wurde ebenfalls über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit gesprochen. Es ging auch um eine freiwillige Verlängerung; wer es sich leisten kann, kann früher aufhören. Aber die Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird dort auch als Sicherung des Lebensstandards im Alter begriffen. Das ist eine vernünftige Richtung. Ich will Ihnen gerne zugestehen, Herr Müntefering, dass es nicht immer leicht ist, so etwas öffentlich zu vermitteln. Aber es ist ehrlich und im sozialen Sinne mit Blick auf den Lebensstandard von Älteren notwendig und richtig.
Wie sieht die Lage bei der Rentenversicherung aus? Sie haben einen Rentenversicherungsbericht vorgelegt, der den Zeitraum bis 2019 umfasst. Außerdem haben Sie sich das Ziel gesetzt, die Rentenausgaben im Haushalt zu entdynamisieren. Da kann ich nur sagen: Sie haben eine Mogelpackung gebunden. Sie wissen schon jetzt, dass aus dem Haushalt 600 Millionen Euro zusätzlich gezahlt werden müssen, damit der Rentenbeitrag im Jahr 2008 nicht erneut steigt. Die Prognose im Rentenbericht zeigt: Die Rentenleistungen sind nur konstant zu halten, wenn wir Lohnzuwächse von 2,5 Prozent, ein durchschnittliches Wachstum von 1,7 Prozent - was wünschenswert wäre - und eine geringe Arbeitslosenzahl voraussetzen. Ich nenne diese drei Bedingungen, damit wir wissen - das ist ehrlich -, nur wenn diese Bedingungen erfüllt werden, sind die Renten finanziert. Das heißt, dass in der Rentenfinanzierung immer noch große Risiken bestehen und weitere Reformanstrengungen nötig sein werden.
Dies macht deutlich: Wenn wir die Rente sichern wollen, dann muss unsere Arbeitsmarktpolitik erfolgreicher werden. Hierin besteht ein elementarer Zusammenhang im Hinblick auf die Finanzierung der Renten, aber auch im Hinblick auf eine erfolgreiche Gesellschaftspolitik.
Jetzt komme ich zum Thema Arbeitsmarkt und zu dem, was die große Koalition in diesem Zusammenhang tut. Der Arbeitslosenversicherungsbeitrag wird um 2 Prozentpunkte gesenkt. Herr Fuchtel, zur Souveränität der CDU/CSU sollte es auch gehören, anzuerkennen, dass, wenn die Bundesagentur für Arbeit dieses Jahr keinen Zuschuss braucht und sie letztes Jahr nur einen sehr geringen benötigt hat, dies die Reformdividende einer vernünftigen rot-grünen Arbeitsmarktpolitik ist. Sie sollten die Souveränität haben, dies anzuerkennen; denn Sie profitieren in der großen Koalition davon. Da sieht man: Arbeitsmarktreformen brauchen manchmal Zeit und haben zum Beispiel in diesem Fall Erfolg; das möchte ich an dieser Stelle feststellen.
Dann möchte ich darauf eingehen, was getan werden muss, wenn das so bleiben soll. Man muss der Ehrlichkeit halber sagen: Dass die Bundesagentur in Zukunft keinen Zuschuss mehr braucht, hat mit einer schwierigen Maßnahme zu tun. Wir haben entschieden: Die maximale Bezugsdauer wird beim Arbeitslosengeld I von 32 Monate auf 18 bzw. zwölf Monate gekürzt. Noch heute wettert Herr Rüttgers dagegen.
Aber wenn Sie es befürworten, die Bundesagentur für Arbeit ohne einen Zuschuss im Haushalt zu balancieren, dann war auch diese unpopuläre Maßnahme richtig. Es geht letztlich um Steuergeld, das ansonsten falsch eingesetzt würde. Es ist vernünftig, dass diese unpopuläre Maßnahme getroffen wurde. Das ist eine zweite erfolgreiche Maßnahme, die wir unter Rot-Grün beschlossen haben und auf die Sie, Herr Müntefering, aufbauen können. Ich möchte das heute ausdrücklich feststellen.
- Ich freue mich über Applaus aus der SPD an dieser Stelle; das ist auch selbstverständlich.
Jetzt komme ich zum Thema Hartz IV. Was war das für eine Diskussion über die Kostenexplosion im Bereich Hartz IV? Man muss einmal genauer hinschauen: 2004, also vor der Reform, haben sich - das hat uns der Arbeitsminister vorgerechnet - die Ausgaben für die Sozialhilfe und die alte Arbeitslosenhilfe auf 38,6 Milliarden Euro summiert. Wenn man davon ausgeht, dass wir in 2005 und auch heute mehr Leistungsempfänger haben, und diese Zahlen nach den Bestimmungen der alten Rechtslage hochrechnet, kommt man für Bund, Länder und Gemeinden auf Ausgaben in Höhe von ungefähr 43 Milliarden Euro. Die tatsächlichen Ausgaben nach der neuen Gesetzgebung lagen in 2005 bei 44 Milliarden Euro. Die Behauptung einer Kostenexplosion ist also nicht richtig,
auch wenn die Höhe der Kosten ein Problem ist.
Das Argument der Kostenexplosion wird benutzt, um eine Missbrauchsdebatte führen zu können. Ich muss Ihnen sagen: Daran erkennt man die tiefe Spaltung der Koalition in einer der wichtigsten politischen Fragen, die wir in Deutschland zu lösen haben. Diejenigen, die die Missbrauchsdebatte forcieren, zielen darauf, Einschnitte durchzusetzen. Das kommt stark aus dem Bereich der Union. Damit hat die SPD natürlich ein großes Problem. Auch wenn sich Herr Beck in dieser Sache entsprechend geäußert hat, weiß ich, dass der Minister entschieden gegen diese Missbrauchsdebatte argumentiert.
Hier wird sehr deutlich: Sie haben zwei ganz unterschiedliche Konzepte in Bezug auf das Thema, wie wir mit der Langzeitarbeitslosigkeit umgehen sollten. Es ist für das Land ein Problem, dass Sie an dieser Stelle nicht richtig zusammenkommen und deswegen keine erfolgreichen Lösungen vorschlagen können.
Ich muss in diesem Zusammenhang ergänzen - denn ich will nicht behaupten, dass, wenn wir 44 Milliarden Euro für diesen Bereich ausgeben, dies keine Steigerung und dies in Ordnung sei -: Aber wenn wir in der Arbeitsmarktpolitik Erfolg haben, dann erreichen wir auch eine Senkung der Ausgaben in diesem Bereich. Aber Erfolg hat man nicht, wenn man einfach Leistungen streicht.
Zum Abschluss komme ich auf den Kern der Sache zu sprechen. Die große Koalition hat sich jetzt zu einem Kompromiss durchgerungen, der den hundertprozentig falschen Akzent setzt. Sie haben entschieden: Wenn dieses Jahr die Mittel für das Arbeitslosengeld II nicht reichen, dann ziehen wir dafür die Eingliederungshilfen heran. So kann man argumentieren; Frau Winterstein von der FDP hat dies vorgeschlagen. Ich halte es für die falsche, alte deutsche Arbeitsmarktpolitik,
Transferzahlungen zu gewährleisten und billigend keine Fördermittel auszugeben.
Wir müssen wissen: Fördern und Fordern gehören zusammen. Aber auch Fordern muss ein Angebot beinhalten. Herr Fuchtel, wenn Sie zugestehen, -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin!
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- ich komme zum Schluss -, dass es zu wenig Eingliederungsgespräche und zu wenig Angebote gibt, dann ist der Vorwurf des Missbrauchs haltlos und der Mangel an Fördern Ihre politische Fehlentscheidung. Damit kommen wir in Zukunft nicht weiter.
Frau Lehn, ich weiß, dass Sie mir an dieser Stelle zustimmen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, Sie sprechen auf Kosten der Redezeit Ihres Kollegen.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mein allerletzter Satz. - Ich muss eines noch sagen: Die Kollegin Lehn hat gemeint, die Opposition sei in drei unterschiedliche Lager gespalten. Wissen Sie, was das Problem ist? Diese Regierung ist in Bezug auf die Arbeitsmarktpolitik in zwei tief gespaltene Lager auseinander gefallen. Das ist das Problem für die Arbeitsmarktpolitik in Zukunft in Deutschland.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Claudia Winterstein.
Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Frau Hajduk, ich denke, Sie haben mich da vorhin völlig falsch verstanden. Es bestehen in dieser Frage insofern zwischen uns überhaupt keine Differenzen, im Gegenteil: Ich habe das angeprangert und habe gesagt, ich halte es für fatal, wenn eine Summe in andere Bereiche geschoben wird, die dort überhaupt nicht hingehört. Ich habe mich dagegen ausgesprochen, dass diese 1,1 Milliarden Euro, wenn sie denn dann mit einem Sperrvermerk versehen werden, für andere Bereiche verwendet werden. Da haben Sie mich völlig falsch verstanden.
Um das noch einmal deutlich zu machen: Wir haben vorhin davon gesprochen, dass wir eine Summe von 3,5 Milliarden Euro für richtig halten; das ist die Summe, die wir im letzten Jahr in diesem Bereich ausgegeben haben. Insofern wollen wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen. Wir haben festgestellt, dass in diesem Jahr 1,1 Milliarden Euro ausgegeben worden sind und dass wir mit dieser Summe auch in Zukunft auskommen werden.
In Bezug auf das, was Sie hinsichtlich der Eingliederungshilfen gesagt haben, habe ich gesagt, ich halte es nicht für richtig, dass man in diesem Bereich einen Sperrvermerk vorsieht und diesen Betrag letztendlich für andere Dinge verwendet und eventuell entstandene Löcher damit ausfüllt. Das war der entscheidende Punkt.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Kollegin Winterstein, an dem einen Punkt will ich zugestehen - so habe ich das auch verstanden -, dass Sie von einer Deckungsfähigkeit zwischen den Mitteln für die Eingliederungshilfen und denen für das Arbeitslosengeld II nichts halten. Das nehme ich zur Kenntnis und das deckt sich auch mit meiner Erinnerung. Aber Sie haben ja parallel einen Kürzungsvorschlag für die Eingliederungsmittel eingebracht. Das war mein Punkt. Da haben wir eine Differenz. Sie wollen, dass in diesem Bereich insgesamt Einsparmöglichkeiten realisiert werden; wir wollen zweierlei: Wir wollen, dass das Fördern gelingt, weil wir davon ausgehen, dass dann beim Arbeitslosengeld II in der Folge viel mehr eingespart wird, da die Leute wieder in Beschäftigung kommen. Das hat ja auch das durchgeführte Benchmarking mit anderen Ländern gezeigt und der Bundesrechnungshof hat gesagt: Die Hauptschwierigkeit bei der Bundesagentur - sie hieß damals noch „Bundesanstalt“ - liegt in der Qualität der Vermittlung; das muss verbessert werden. Die große Koalition betätigt in dieser Frage gerade die Bremse; ich will ja noch nicht sagen, sie legt den Rückwärtsgang ein. Aber eine deutliche Bremswirkung ist es schon, weil die diesbezüglichen Vorstellungen von CDU/CSU und SPD sehr weit auseinander gehen. Das zeigt auch, dass wir bei der Arbeitsmarktpolitik leider eine Zukunft vor uns haben, von der ich mir nicht viel verspreche.
Die FDP hat in dieser Frage ein ganz anderes Konzept als die Grünen; das kann ja auch so stehen bleiben.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden bei diesem Einzelplan über rund die Hälfte des Bundeshaushalts. Ich finde, es ist sinnvoll, einige Zahlen und Fakten zur Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Erinnerung zu rufen. Wir haben natürlich immer noch zu viele Arbeitslose in Deutschland - das macht es notwendig, im Bereich Arbeit und Soziales noch viel Geld auszugeben -, aber wir haben ausweislich der Maizahlen, die uns vorliegen, 350 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahresmonat. Das ist der stärkste Rückgang in einem Mai seit der Wiedervereinigung. Wir haben bei den Jüngeren einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um 85 000 gegenüber dem Vorjahresmonat. Die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt ist gegenüber dem Vorjahresmonat um 6 000 gestiegen. Wir haben den Rückgang der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten fast gestoppt. Es ist allerdings keine gute Nachricht, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unter 26 Millionen liegt. Diese negative Entwicklung müssen wir nicht nur stoppen, sondern wir müssen in diesem Bereich zu einem Aufwuchs kommen. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Denn wir haben einen bemerkenswert hohen Zuwachs an offenen Stellen. Im Jahresvergleich stieg die Zahl der offenen Stellen um 83 000 auf 405 000. Wenn man die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt betrachtet, zeigt sich: Wir sind noch lange nicht am Ziel. Aber diese große Koalition ist nach sieben Monaten auf dem richtigen Weg in der Arbeitsmarktpolitik und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Wir haben eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, mit denen wir diese Entwicklung in der Zukunft flankieren werden. Ich will nur auf den neu geschaffenen Gründungszuschuss verweisen, der dafür sorgen wird, dass wir mit weniger Geld sehr viel effektiver Existenzgründungen fördern können, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.
Wir haben auch festzustellen, dass wir im so genannten Hartz-IV-Bereich, mit dem SGB II-Änderungsgesetz und dem SGB-II-Fortentwicklungsgesetz eine ganze Menge geschafft haben. Wir können realistischerweise davon ausgehen, dass wir durch eine Konzentration der Hilfe auf diejenigen, die diese Hilfe wirklich brauchen, und durch eine Verbesserung im organisatorischen Bereich vom nächsten Jahr an knapp 4 Milliarden Euro im Jahr einsparen werden. Wir erreichen dies nicht durch Kahlschlag, sondern, wie gesagt, durch die Konzentration der Hilfe auf diejenigen, die sie wirklich brauchen. Das ist unser Anspruch. Da stehen wir an der Seite der gesamten Bundesregierung.
Heute vor einem Jahr - da stimmen sogar Kollege van Essen und andere Freie Demokraten zu - war ein guter Tag für Nordrhein-Westfalen.
Denn der nordrhein-westfälische Landtag hat Jürgen Rüttgers zum Ministerpräsidenten gewählt. Heute, ein Jahr später, hat die Unionsfraktion eine gute Nachricht für den Bundesfinanzminister Steinbrück: Bei der Bekämpfung der Haushaltsrisiken im Bereich Arbeit und Soziales stehen wir voll an Ihrer Seite und werden Sie dabei unterstützen, Herr Bundesfinanzminister.
Das bedeutet auch, dass wir uns nicht auf dem Erreichten ausruhen. Wir haben uns vorgenommen, dass wir im Herbst dieses Jahres ein Kombilohnmodell vorlegen werden. Es ist ganz selbstverständlich, dass wir uns in diesem Zusammenhang beispielsweise mit der Zuverdienstregelung beschäftigen müssen, die es in unserem Sozialsystem, insbesondere beim Arbeitslosengeld II, gibt. Man muss feststellen, dass es im Moment in diesem System relativ unkompliziert ist - das wird auch gerne in Anspruch genommen -, zum Arbeitslosengeld II ein wenig hinzuzuverdienen. Aber es gibt aufgrund des von uns geschaffenen Transfersystems zu wenige Anreize, über geringfügige Beschäftigung - beispielsweise 400-Euro-Jobs - hinaus in Vollzeitarbeit zu kommen.
Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung haben wir die Situation, dass viele Leistungen, die die Sozialhilfeempfänger früher bekommen haben, deutlich ausgeweitet wurden. Wir haben also keinen Kahlschlag gemacht, sondern wir haben in vielen Bereichen eine deutliche Leistungsausweitung durchgeführt. Diesen Punkt, Frau Kollegin Hajduk, bitte ich doch zur Kenntnis zu nehmen: Es geht nicht um die Kostenexplosion. Als Sie noch an der Regierung waren, haben Sie sich bei den Kosten im Vergleich zum Ansatz um einen zweistelligen Milliardenbetrag verschätzt.
Das machen wir jetzt anders. Jetzt rechnen wir solide, auch wenn das zu schwierigen Einsparoperationen führt. Das ist der Unterschied zu früher.
Wir werden uns im Rahmen des Kombilohnmodells und der Neuordnung des Niedriglohnbereichs auch mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir die Zuverdienstregelungen so gestalten können, dass es für die Betroffenen sinnvoll ist, nicht nur ein wenig hinzuzuverdienen, sondern durch eigene Anstrengungen aus dem System des Transferbezugs herauszukommen. Das werden wir unaufgeregt und zielorientiert machen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Brauksiepe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollege Kurth?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Aber gerne. Denn gleich kann er nicht mehr so lange reden, weil die Kollegin Hajduk dies schon vor ihm getan hat. Bitte.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Brauksiepe, Sie bringen mich dazu, zu fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass von den gut 800 000 Menschen, die zum Arbeitslosengeld II hinzuverdienen, immerhin die Hälfte, nämlich mehr als 400 000, nach Erhebungen der BA tatsächlich mehr als 400 Euro verdient. Diese Menschen verdienen sehr wohl über die Geringfügigkeitsgrenze hinaus.
Stimmen Sie mir auch zu, dass es bei der früheren Arbeitslosenhilfe einen Freibetrag beim Zuverdienst von 165 Euro gab und dass jetzt beim Arbeitslosengeld II erst bei einem Zuverdienst von 400 Euro ein Freibetrag von 160 Euro erreicht wird, wir also das Niveau der Zuverdienstmöglichkeiten gerade einmal gehalten und keineswegs unmäßig ausgedehnt haben, damals übrigens - daran darf ich Sie erinnern - mithilfe einer Intervention der Grünen?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege Kurth, ich denke, wir stimmen in der Feststellung überein, dass es einen hohen Zuwachs sowohl bei Bedarfsgemeinschaften als auch bei so genannten Aufstockern gibt. Es muss uns doch, wie ich finde, gemeinsam darum gehen, diejenigen zu unterstützen, die auf die Stunde bezogen wenig verdienen, und nicht diejenigen, die die Möglichkeit haben, die Anzahl ihrer Arbeitsstunden zu reduzieren, und sich dann das fehlende Geld vom Staat holen. Es muss dazu kommen, dass sich jeder fragt: „Was kann ich selber tun, um eigene Hilfebedürftigkeit zu reduzieren und abzubauen?“, und nicht: „Wie viel darf ich dazuverdienen, damit ich weiterhin Geld vom Staat erhalte?“ Darum geht es doch.
Wir brauchen uns nicht über Zahlen zu streiten, vielmehr muss es um das Ziel gehen. Es geht doch nicht darum, zu verhindern, dass einer etwas dazu verdienen kann, sondern darum, die Zuverdienstmöglichkeiten so zu gestalten, dass ein Anreiz für die Menschen besteht, reguläre Arbeit aufzunehmen.
Etwas anderes, Herr Kurth, ist doch auch klar: Wenn die Bundesagentur 405 000 offene Stellen meldet - Sie lesen doch auch diese Meldungen - und zugleich davon ausgeht, dass ihr nur ein Drittel der offenen Stellen gemeldet werden, dann müsste es 1,2 Millionen Stellen geben, die zu besetzen sind. Diese müssten auch von Menschen besetzt werden können, die jetzt als Aufstocker Transferleistungen vom Staat bekommen, obwohl sie ohne diese Transferleistungen auskommen könnten. Das ist jedenfalls unsere Überzeugung. Deswegen arbeiten wir auch an diesem Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es geht also nicht darum, dass man bei denen kürzt, die mit den Leistungen gemäß Regelsatz auskommen müssen. Diese sind nicht hoch; das ist wahr. Es geht vielmehr darum, dass wir die Schwachen, die wirklich der Hilfe bedürfen, von denjenigen trennen, die, obwohl sie eigentlich, wie es die Bundeskanzlerin schon in ihrer Regierungserklärung gesagt hat, stark genug sind, sich als Schwache verkleiden. Das kann sich dieser Sozialstaat nicht leisten. So ein Verhalten werden wir auch in Zukunft bekämpfen müssen. Darauf werden sich unsere Maßnahmen konzentrieren. Wir stehen auf der Seite derjenigen, die durch Steuern und Beiträge das erwirtschaften, was diejenigen brauchen, die sich selbst nicht helfen können und deshalb auch die entsprechende Hilfe von uns bekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Lassen Sie mich noch auf ein paar Dinge aus dem Rentenbereich zu sprechen kommen. Dieser macht ja den größten Block im Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus. Wir haben da mit vielen Horrormeldungen zu tun gehabt. Wir können auch hier feststellen: Wir haben durch eine klare Politik zur Stabilisierung des gesetzlichen Rentensystems beigetragen. Niemand würde sich wünschen, in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit bei völlig leeren Rentenkassen die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das war aber die Situation, die wir vorgefunden haben. Wir haben eine Reihe von Maßnahmen ergriffen und werden sie in den nächsten sechs Monaten auch auf den Gesetzgebungsweg bringen, um zu einer weiteren Stabilisierung beizutragen.
Wir werden im Übrigen durch eine gesetzliche Klarstellung dafür sorgen, dass den Unternehmen die Abführung der Sozialversicherungsbeiträge erleichtert wird. Auch das ist eine notwendige Maßnahme. Wir werden in diesem Jahr auch noch das Gesetzgebungsverfahren auf den Weg bringen, mit dem die gesetzliche Lebensarbeitszeit verlängert wird, um zu einem Renteneintritt mit 67 Jahren zu kommen. Wir tun das nicht, weil wir die Leute ärgern wollen, sondern weil es angesichts der demografischen Entwicklung notwendig ist. Wir gehen hier keinen populären Weg, aber die große Koalition hat, wie ich finde, ein seriöses Konzept vorgelegt, während sich die komplette Opposition in diesem Haus bei dieser Frage in die Büsche geschlagen hat. Das ist doch die Wahrheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, was haben Sie, nachdem die von Ihnen mitgetragene Regierung bis acht Tage vor dem Stichtag nichts getan hat, um den Rentenbericht vorzulegen, versucht, zu skandalisieren, dass die neue Regierung den Bericht nicht bis zum Stichtag vorgelegt hat. Als wir ihn dann vorgelegt und diskutiert haben, ist Ihnen von den Grünen nichts zu diesem Thema eingefallen. Als wir einen solide vorbereiteten Bericht vorgelegt haben, ist gar nichts von Ihnen gekommen, nachdem Sie vorher Zeter und Mordio geschrien haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist ja schon erstaunlich, wie bei Ihnen die Diskussion zur Frage Rente mit 67 verläuft. Der Kollege Kolb hat mit einigen anderen Getreuen auf dem FDP-Bundesparteitag einen Antrag mit dem Ziel vorgelegt, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen. Der FDP-Parteitag hat diesen Antrag des Kollegen Kolb und anderer abgelehnt. Die Begründung - vorgetragen vom Bundesvorsitzenden Westerwelle - lautete, das wäre nur eine fette Rentenkürzung. Der Antrag ist abgelehnt worden. Lieber Herr Kollege Kolb, ich war kürzlich auf einer Veranstaltung, auf der zur Rente mit 67 so wie bei Ihnen in der FDP argumentiert worden ist. Das war der DGB-Kongress. Das, was Guido Westerwelle zum Nein zur Rente mit 67 sagt, höre ich hier sonst nur von Ursula Engelen-Kefer.
Das ist wirklich ein tolles Paar, das sich da in der Rentenpolitik gefunden hat.
In einer Agenturmeldung war zu lesen: Guido Westerwelle und Dirk Niebel warnten erfolgreich vor einem derartigen Beschluss, weil er die FDP in Mithaftung für das Vorhaben von Arbeitsminister Franz Müntefering nehmen würde, das letztlich auf Rentenkürzung hinausliefe. Der Kollege Kolb mahnte vergeblich die FDP zur Ehrlichkeit. - So ist es, Herr Kollege Kolb.
Sie haben es versucht, aber mit Ihrem Versuch, Ehrlichkeit in Ihre Partei zu bringen, sind Sie leider gescheitert. Deswegen seien Sie ganz sicher, Herr Kollege Kolb: Wir werden solchen populistischen Versuchungen widerstehen. Wir werden weiter eine solide Rentenpolitik machen. Wir werden die gesetzliche Rente so fortentwickeln, dass sie nicht die alleinige, so bedeutende Säule wie zurzeit bleibt, aber dass sich die Menschen auf diese Säule der Alterssicherung verlassen können. Das ist kein populärer Weg, aber wir werden ihn gemeinsam im Interesse der Menschen gehen, die diesen Weg mit uns gehen wollen.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brauksiepe, auf die Rentenfrage komme ich im Laufe meiner Rede selbstverständlich zurück. Ich will aber zunächst einmal wiederholen, was schon gesagt worden ist. Wir reden über 46 Prozent des Bundeshaushaltes, wenn wir über den Einzelplan 11 diskutieren. Es ist noch nicht gesagt worden, dass die Ausgaben in diesem Bereich in 2006 um 4 Prozent ansteigen - in absoluten Zahlen sind das 4,8 Milliarden Euro - und diese somit deutlich stärker als das Bruttoinlandsprodukt steigen, für das in diesem Jahr ein Plus von 1,6 Prozent erwartet wird. Die Konsequenz daraus ist - das will ich an den Beginn meiner Rede stellen -, dass die Sozialstaatsquote, also das Verhältnis der Sozialausgaben zum Bruttoinlandsprodukt, wie in den letzten Jahren auch weiter ansteigen wird. Schon in 2005 hatten wir einen Rekord, als die Sozialstaatsquote knapp über 33 Prozent lag. Nur in der DDR war sie höher gewesen. 2006 wird sie nach den gegebenen Daten erneut ansteigen müssen. Dass wir vor diesem Hintergrund in Deutschland trotzdem über Sozialabbau reden, gehört meines Erachtens zu den Ungereimtheiten der sozialpolitischen Diskussion in unserem Lande.
Aus diesen Zahlen und Trends ergibt sich ganz unmittelbar und zwingend, dass die Ausgabenentwicklung in den Bereichen Rente - wir haben hier 77,5 Milliarden Euro im Bundeshaushalt - und Hartz IV - da sind es 38,3 Milliarden Euro - für das Scheitern oder das Gelingen der Operation Haushaltssanierung ganz entscheidend sein wird. Um es vorwegzunehmen, Herr Minister Müntefering: Anlass zur Hoffnung besteht aus unserer Sicht bei der derzeitigen Politik der Bundesregierung nicht. Sie werden scheitern; denn - das ist mein Vorwurf an Sie - Sie handeln zu spät, Sie handeln nicht entschieden genug und Sie handeln ohne eine klare Vorstellung davon, wohin Sie eigentlich wollen. Leitlinie Ihres Handelns ist nämlich der erreichbare Kompromiss, der kleinste gemeinsame Nenner der großen Koalition, aber nicht das, was im Interesse unseres Landes eigentlich geschehen müsste.
Das will ich Ihnen an den Beispielen Rente und Hartz IV kurz erläutern. Sie haben mit dem Kunstgriff des Vorziehens der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge die Rentenversicherung für dieses Jahr stabilisiert. Trotz eines Defizits von 6,1 Milliarden Euro ist damit die Liquidität gesichert. Sie werden auch 2007 einen Teil des dann entstehenden Defizits kompensieren können. Aber schon 2008 ist der einmalige Liquiditätsgewinn weggeschmolzen und nur ein zusätzlicher Zuschuss von 600 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt kann dann einen Anstieg des Beitrags über die jetzt schon zum 1. Januar 2007 vorgesehene Erhöhung auf 19,9 Prozent hinaus verhindern. Es lastet also erheblicher Druck auf der Rentenkasse, Herr Müntefering. Aber was machen Sie? Sie lehnen eine kurzfristige Beendigung der Frühverrentung, die die Rentenkasse entlasten würde, ab.
Sie schwächen die Rentenkasse, indem Sie die Beitragszahlungen für Hartz-IV-Empfänger um 2 Milliarden Euro kürzen. Sie machen ein Gesetz, nach dem Rentenkürzungen selbst für den Fall ausgeschlossen sind, dass die beitragsrelevanten Entgelte sinken sollten. Das ist ein Verstoß gegen das Grundgesetz der umlagefinanzierten sozialen Sicherung. Sie verschieben die Finanzierung der laufenden Defizite auf künftige Generationen; denn, Herr Müntefering, vom Nachholfaktor weiß man bisher nicht mehr, als dass er nicht vor 2010 wirksam wird.
Sie kündigen eine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre an - Herr Brauksiepe, jetzt komme ich darauf zu sprechen -, unternehmen aber nichts, um die Beschäftigung Älterer am Arbeitsmarkt zu fördern.
Deswegen haben diejenigen in unserer Partei Recht, die sagen, dass das auf eine Rentenkürzung, auf höhere Abschläge für Zeiten, in denen die Menschen arbeitslos sind, hinausläuft. Ich füge hinzu: Wenn man diese Erhöhung des Renteneintrittsalters in der von Ihnen vorgesehenen Form vornimmt, das heißt, wenn man zahlreiche Ausnahmen vorsieht, zum Beispiel bezüglich der beitragsfreien Zeiten für Angehörige belastender Berufe, dann kann man es gleich ganz sein lassen, weil die Entlastung am Ende gegen null geht.
Darüber haben wir auf unserem Parteitag offen diskutiert und am Schluss eine entsprechende Entscheidung getroffen.
An Leistungskürzungen - Herr Brauksiepe, das ist ein Punkt, bei dem Sie zuhören sollten -,
die bei schwacher Konjunktur das Defizit allein begrenzen könnten, trauen Sie sich nicht heran, obwohl sie Ihnen vom Sachverständigenrat nahe gelegt wurden. Die Frage ist, ob man bei den arbeitsmarktbedingten Erwerbsminderungsrenten jährlich 1,7 Milliarden Euro einsparen will oder nicht. Müssen Teilerwerbsgeminderte - wir stellen uns dieser Frage; Sie sollten das auch tun - wirklich volle Erwerbsminderungsrenten erhalten?
Der Sachverständigenrat weist auch darauf hin, dass bei den Hinterbliebenenrenten jährlich 4,5 Milliarden Euro eingespart werden könnten, wenn diese Renten erst ab dem 60. Lebensjahr und nicht bereits ab dem 45. Lebensjahr gezahlt würden. Die Frage ist, ob es noch dem Bild moderner Eigenverantwortlichkeit entspricht, wenn Regelungen, die auf die Gesellschaftsverhältnisse von vor 40 Jahren zugeschnitten sind, weiterhin gelten. Der Sachverständigenrat jedenfalls weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich hierbei um eine versicherungsfremde Leistung handelt, die durch den Bundeszuschuss bisher nicht abgedeckt ist.
Ich warne davor, Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu verkünden - Herr Brauksiepe, Sie haben das getan -; denn an dieser Front gibt es allem Schönreden zum Trotz weiterhin keine Entwarnung. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung - das ist das Maß der Dinge, wenn wir über die Sicherung der sozialen Systeme reden - unterschreitet weiterhin Monat für Monat das Vorjahresniveau. Nach ersten, vorläufigen Hochrechnungen lag die Anzahl der Arbeitsplätze im März bei 25,91 Millionen. Das waren erneut 88 000 Arbeitsplätze weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Das entspricht einem Verlust von zwar durchschnittlich nur noch 1 700 Arbeitsplätzen pro Kalenderwoche; einen überragenden arbeitsmarktpolitischen Erfolg kann ich darin aber nicht sehen.
Ich habe heute gehört, dass die Allianz 5 000 Beschäftigte entlassen will. Ich sage Ihnen: Die Deutsche Bank kauft die Berliner Bank auch nicht, um dort Arbeitsplätze zu schaffen.
Herr Brandner, es ist absehbar, dass dieser Trend weitergeht und auch die Insolvenzen bei den kleinen Betrieben sind im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber dem Vergleichszeitraum um 9 Prozent gestiegen. Das heißt, dass wir bei großen wie bei kleinen Betrieben von einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung weit entfernt sind.
Ich will noch etwas zu Hartz IV sagen. Herr Brandner, auch hier steuern Sie zu spät und zu wenig entschieden gegen. Im Haushaltsvollzug des Jahres 2005 sind die Kosten klar angestiegen. Nach den Zahlen des ersten Quartals ist bereits klar, dass die vorgesehenen Gelder auch 2006 nicht reichen werden. Herr Brandner, deswegen bleibt Harzt IV das Haushaltsrisiko Nummer eins. Ihre Planung lässt vollkommen offen, wie Sie im Jahr 2007 eine Reduktion der Leistungsausgaben auf 20,6 Milliarden Euro erreichen wollen.
Mit dem SGB-II-Änderungsgesetz und dem SGB-II-Fortentwicklungsgesetz werden Sie das jedenfalls nicht erreichen. Wenn Sie mir das nicht glauben, dann sollten Sie es wenigstens Herrn Rappe glauben, unserem früheren Kollegen und heutigen Ombudsmann, der klipp und klar gesagt hat, dass das nicht so schnell gehen wird, wie Herr Müntefering glaubt.
Wir brauchen eine grundlegende Reform. Das sagen auch einige aus den Reihen der großen Koalition. Was heißt das? Man muss nicht nur an den Missbrauch herangehen. Das ist zwar auch ein Thema, auf das der Bundesrechnungshof hinweist. Am Ende ist das Leistungsvolumen von heute aber das Ergebnis gewollter Entscheidungen des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber muss andere Entscheidungen treffen. Er muss prüfen, ob er die Leistungsvoraussetzungen wieder dem Niveau annähern will, das vor der Reform geherrscht hat, beispielsweise im Bereich der Sozialhilfe. Der Gesetzgeber muss auch den grundsätzlichen Konstruktionsfehler beseitigen, nämlich die ungeklärte Kompetenzverteilung zwischen Bundesagentur, Kommunen und Arbeitsgemeinschaften.
Wenn beides nicht geleistet wird, ist das keine grundlegende Reform. Ohne eine grundlegende Reform, die hoffentlich im Herbst kommen wird - ich hoffe, dass die Schritte dann nicht so halbherzig sein werden wie bisher -, wird die Konsolidierung im Bereich Hartz IV nicht gelingen können.
Insgesamt kann man sagen: Ohne einen durchschlagenden Erfolg am Arbeitsmarkt werden wir die Probleme im Bereich der sozialen Sicherung nicht in den Griff bekommen, werden die Haushaltsrisiken, die sich aus dem Einzelplan 11 ergeben - ich habe versucht, das an den Beispielen Rente und Hartz IV deutlich zu machen -,weiterhin als Damoklesschwert über der Haushaltskonsolidierung hängen. Dazu braucht es aber eine vernünftige Arbeitsmarktpolitik mit einer Steuerreform und mit Änderungen der Arbeitsmarktrahmenbedingungen. Wenn Sie dies verweigern - ich sehe hier keinen Konsens in der großen Koalition -, wird es keine echten Erfolge geben können.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Kolb!
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. - Der Einzelplan 11 bleibt auf der Agenda. Schon im Herbst werden Sie zeigen müssen, ob Sie wirklich bereit sind, hier nachzubessern oder nicht. Wir werden das mit Interesse beobachten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Klaus Brandner (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Oberstes Ziel der Koalition ist die Schaffung von mehr Beschäftigung in Deutschland. Das ist keine Frage nur eines einzelnen Politikbereiches, sondern eine Gesamtaufgabe für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung.
Wir dürfen der Opposition heute einmal ganz klar zur Kenntnis geben, dass sich die Perspektiven für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung in Deutschland deutlich aufgehellt haben.
Wir haben ein dynamisches Wachstum. Damit werden wir von unseren europäischen Nachbarländern wieder als Konjunkturlokomotive wahrgenommen. Wir sollten uns das von der FDP mit ihrer Risikodebatte, Herr Kolb, nicht kleinreden lassen.
Mich freut es - das sage ich hier ganz deutlich -, wenn die OECD und einige Institute sagen, dass dieses Wachstum von der Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr nicht nachhaltig gebremst wird. Die OECD prognostiziert für das nächste Jahr ein Wachstum von 1,6 Prozent in Deutschland. Das ist ermutigend und setzt Kräfte frei.
Was ein positiver Schwung in den Köpfen alles zu bewirken vermag, das erleben wir zurzeit ganz konkret in den Stadien, auf den Straßen und auf den Plätzen in Deutschland. Wir brauchen diese Aufbruchstimmung und, wenn es sein darf, auch ein wenig Euphorie statt ständiges Lamentieren, dass dies oder jenes nicht schnell genug geht.
Dies möchte ich auch als Hinweis an die Wirtschaftsverbände richten, die wieder einmal in unnachahmlicher Art ein zu geringes Reformtempo beklagen. Gerade ihnen möchte ich sagen: Machen Sie erst einmal vor Ihrer Haustür Platz, machen Sie Ihre Hausaufgaben! Sorgen Sie lieber für die Einhaltung Ihrer Zusagen, zum Beispiel im Rahmen des Ausbildungspakts! Damit können Sie Freude auslösen. Damit können Sie jungen Menschen eine Perspektive schaffen. Eines lassen Sie sich heute ganz klipp und klar sagen: Wir werden Ihnen den Gefallen nicht tun, Sie anschließend öffentlich über Fachkräftemangel klagen zu lassen, wenn Sie sich heute nicht verantwortlich an der Ausbildungsfront zeigen. Politik ist kein Ausputzer für eigene Versäumnisse. Das muss in einer Haushaltsdebatte über arbeitsmarktpolitische Fragen deutlich gesagt werden.
Wir haben eine positive Stimmung in diesem Land. Wir haben mit unserer Politik, wie ich finde, erheblich dazu beigetragen: mit dem Wachstumspakt mit Investitionen in Höhe von 25 Milliarden Euro, mit dem Innovationspakt mit Investitionen in Höhe von 6 Milliarden Euro, mit der Verbreiterung der Gewerbesteuerbasis und mit der Förderung der Ganztagsschulen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Auf dem Arbeitsmarkt kommt diese Entwicklung - Kollege Brauksiepe hat sehr detailliert darauf hingewiesen - allmählich an. Unsere Politik ist in diesem Bereich erfolgreich. Im Mai dieses Jahres ist die Zahl der Arbeitslosen saisonbereinigt um 93 000 zurückgegangen. Auch die Zahl der Erwerbstätigen steigt wieder an, um 10 000 im letzten Monat, Herr Kolb.
Man kann einwenden, es gehe alles nicht schnell genug. Es müssen aber auch alle Beteiligten mitmachen. Ich will das sagen, ohne auf die gesamtwirtschaftliche Verantwortung der Unternehmen und deren Gewinne hinzuweisen. Mittlerweile sollten alle in diesem Land wissen, dass eine Angebotspolitik zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht allein dazu dienen sollte, die Unternehmensgewinne zu steigern, sondern auch dazu, für mehr Arbeitsplätze zu sorgen und bestehende Arbeitsplätze zu erhalten. Das, was wir gerade über die Allianz und andere gehört haben, ist ein nicht willkommener Akt. Das muss an dieser Stelle einmal deutlich gesagt werden.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: die kommunalen Investitionen. Die finanzielle Entlastung durch den Bund hat erheblich dazu beigetragen, dass die Gewerbesteuereinnahmen in weiten Teilen des Landes sprudeln. Insofern haben nun auch die Kommunen einen gewissen Spielraum, diese zusätzlichen Einnahmen nicht nur zum Sparen und Entschulden zu nutzen, sondern sie auch für kommunale Investitionen und damit zur Förderung von Wachstum und zur Stärkung der Binnennachfrage einzusetzen. Deshalb fände ich es richtig, wenn die Kommunen diese Mehreinnahmen für mehr Investitionen nutzen würden. Diejenigen, die auf kommunaler Ebene Verantwortung tragen, fordere ich auf: Nehmen Sie Ihre wachstumspolitische Verantwortung auch in Ihrem eigenen Interesse wahr!
Lassen Sie mich etwas zum Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sagen. Waltraud Lehn, unsere Berichterstatterin, hat darauf hingewiesen, dass dieser Haushalt von besonderer Relevanz ist. Er macht 46 Prozent des gesamten Bundeshaushalts aus. Damit setzen wir sozialpolitische Prioritäten. Deshalb bin ich sehr irritiert, wenn ich zur Kenntnis nehmen muss, dass der Haushalt für Arbeit und Soziales von vielen allein unter dem Aspekt des Sparens betrachtet wird. An dieser Stelle nimmt die Diskussion, wie wir es auch heute wieder erleben konnten, mitunter bizarre Konturen an. Da werden einerseits die Leistungen beim Regelsatz oder bei den pauschalierten Einmalzahlungen gekürzt und andererseits die Arbeitssuchenden unter Generalverdacht gestellt, und das alles nur, weil man sparen möchte.
Um es an dieser Stelle klipp und klar zu sagen: Das ist und wird kein Ansatz der SPD werden. Wir sagen Nein zur allgemeinen Diffamierung der Arbeitssuchenden. Wir sagen Nein zur ideenlosen Kürzung von Leistungen. Und wir sagen Nein zur weiteren Verunsicherung der Menschen in unserem Land.
Für die SPD sind die Arbeitsmarktpolitik und die Sozialpolitik mehr als nur Debatten über Kosten und Missbrauch. Wir stehen für bessere und schnellere Vermittlung und für bessere und schnellere Qualifizierung der Arbeitssuchenden. In diesem Zusammenhang will ich betonen: Wer morgen mehr Innovationen haben möchte, muss die Menschen heute qualifizieren. Diese Binsenweisheit sollten alle beachten, die die Mittel, die für die Qualifizierung zur Verfügung stehen, für zweifelhafte Kombilohnprojekte ausgeben wollen. Die Qualifizierung der Menschen ist für den nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit allemal besser als die Dauersubventionierung von Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor.
Dies gilt im Übrigen auch für das Arbeitslosengeld I. Wir freuen uns, dass die Vermittlung von Arbeitslosen deutlich verbessert worden ist und dass die Bundesagentur für Arbeit Überschüsse erzielt. Auch das ist ein Ergebnis unserer Reformpolitik und ihrer erfolgreichen Umsetzung durch die Bundesagentur für Arbeit.
An dieser Stelle gilt allen Beschäftigten der BA und der Arbeitsgemeinschaften sowie den Aktiven in den Optionskommunen mein Dank dafür, dass sie diesen komplizierten Umbauprozess mit so viel Engagement begleiten. Denn gerade sie sorgen dafür, dass die Menschen gar nicht erst in die Langzeitarbeitslosigkeit entlassen werden. Es war schon immer unser erklärtes Ziel, dafür zu sorgen, dass die Vermittlung schnell erfolgt und dass diese schnelle Vermittlung zu Effizienzgewinnen führt und dadurch Beitragssenkungen möglich werden.
In der letzten Legislaturperiode haben wir die dafür notwendigen Reformen vorbereitet. Jetzt setzen wir sie fort. Ich möchte ganz deutlich sagen, dass die Senkung der Lohnnebenkosten für uns auch weiterhin ein Ziel - ich betone: ein Ziel - bleibt, um die Wirtschaft von Kosten zu befreien und den Arbeitnehmern netto mehr in der Tasche zu verschaffen. Das ist unzweifelhaft ein positiver Beitrag zur Schaffung von mehr Wachstum und Beschäftigung. Es ist allerdings irritierend, dass die ersten Erfolge in der Arbeitsmarktpolitik von Einzelnen genutzt werden, um weitere Beitragssenkungen zu fordern. Hierfür brauchen wir zunächst eine solide Finanzbasis; einmalige Überschüsse reichen nicht aus.
Klar ist - damit bin ich wieder beim Thema Qualifizierung -: Auch für Arbeitslosengeld-I-Empfänger müssen wir mehr, bessere und teilweise auch längere Qualifizierungsmaßnahmen auf den Weg bringen.
Deshalb fordern wir die BA auf, mehr für die Qualifizierung dieser Menschen zu tun, und zwar schon im ersten Jahr ihrer Arbeitslosigkeit. Es kommt darauf an, dass die Betreuungskunden schon im ersten Jahr ihrer Arbeitslosigkeit die erforderlichen Qualifizierungsangebote erhalten. Hier darf nicht an der falschen Stelle gespart werden. Es muss sichergestellt werden, dass Langzeitarbeitslosigkeit von vornherein vermieden wird.
Ich möchte unsere Position zur gegenwärtigen Spardebatte auf den Punkt bringen: Wir müssen sparen und wir müssen alles tun, um nicht gewollte Leistungsmitnahmen zu vermeiden. Aber im Zentrum unserer Bemühungen muss die qualitative Arbeitsmarktpolitik stehen: bessere Vermittlung und bessere Qualifizierung.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der in der öffentlichen Debatte eine Rolle spielt: die Grundrevision, von der auch Herr Fuchtel heute Morgen einige Facetten angesprochen hat. Besonders aus den Reihen der Länder kommt die Forderung nach einer solchen Generalrevision von Hartz IV. Für mich ist es schon erstaunlich, wer hierbei populistisch über Land zieht und durch die Medien geistert. Das sind dieselben Herren, die die gegenwärtigen Organisationsstrukturen im Vermittlungsausschuss erst eingeführt haben.
Jetzt, ein Jahr nach der Einführung, wollen sie alles über Bord werfen und sich aus der gemeinsamen Verantwortung stehlen.
Richtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir in der Arbeitsmarktpolitik sowohl bei den Organisationsstrukturen als auch bei weiteren Reformmaßnahmen keine Schnellschüsse gebrauchen können. Was die FDP fordert - die Abschaffung der Arbeitsagenturen -, ist nichts anderes als eine weitere Verunsicherung der Menschen in diesem Land. Aber auch die Debatte, wer denn nun den Hut aufhat, sollten wir sehr sorgfältig führen. Wir sollten die Ergebnisse der Evaluation abwarten; dann können wir zielgenau einzelne Absprachen treffen, Kollege Fuchtel.
In diesem Zusammenhang will ich klar sagen: Ich finde es gut, dass Sie dem Minister die volle Unterstützung zugesichert haben für eine sachpolitische Auseinandersetzung; denn was uns heute an Daten vorliegt, ist viel zu wenig, um jetzt schon bewerten zu können, wer die Arbeitsvermittlung besser oder schöner oder noch effizienter betreiben kann. Wir sind darauf angewiesen, zunächst einmal eine solide Datenbasis zu erarbeiten, aufgrund derer wir entscheiden können, wer die Arbeitsmarktpolitik letztlich effizienter voranbringen kann. Deshalb bitte ich darum, dass man diesen Prozess in aller Sorgfalt angeht und am Ende nicht ideologisch entscheidet, sondern seine Entscheidung unter Berücksichtigung der in den ersten Jahren gewonnenen Erkenntnisse trifft.
Zur Rente werden wir noch vieles sagen müssen; mir ist die Zeit ein bisschen weggelaufen.
- Ihnen auch. - Deshalb will ich nur sagen: 78 Milliarden Euro für die verschiedenen Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung sind ein Posten, der die Fantasie vieler anregt und sie fragen lässt, ob da nicht etwas gestrichen oder gekürzt werden kann. Als verantwortungsvoller Sozialpolitiker will ich an dieser Stelle deutlich sagen: Da kann man nur den Kopf schütteln. An der gefundenen Klarheit in der Rentenpolitik darf man nicht herumbasteln; denn man muss wissen, wofür es den Bundeszuschuss gibt, nämlich zur Finanzierung nicht beitragsgedeckter Ausgaben.
Ich will zum Schluss klar sagen: Die Rentnerinnen und Rentner in diesem Land sollten sich auf die Rente verlassen können; sie haben ihre Ansprüche hart erarbeitet.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege!
Klaus Brandner (SPD):
Hier zu kürzen würde bedeuten, dass wir nicht mehr bereit wären, diese Arbeitsleistung ausreichend anzuerkennen. Das ist mit uns nicht zu machen. Wer sein Leben lang hart gearbeitet hat, hat das Recht auf eine auskömmliche, verlässliche Rente im Alter. Rentner sind für uns keine Manövriermasse. Dabei soll es bleiben.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Kornelia Möller, Fraktion Die Linke.
Kornelia Möller (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bleibe dabei: Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz. Hartz IV muss weg.
Statt Arbeitsplätze zu schaffen, treten Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, eine Missbrauchskampagne gegen Menschen los, die Ihre Politik erst ins Abseits gestellt hat. Welch ein Hohn!
Ich freue mich natürlich, zu hören, dass sich der Kollege Brandner davon distanziert.
Aber, Herr Kollege Brandner, auch ich kenne - um auf Ihre Rede zurückzukommen - den schönen Spruch: Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast.
Ich finde, Sie sollten das hier in diesem Hause außen vor lassen und nicht erzählen, die BA gibt weniger aus, die BA hat Überschüsse, wenn Sie nicht gleichzeitig sagen, dass die Leistungen um zwei Drittel gekürzt worden sind.
Mein Eindruck ist, dass ein unqualifiziertes Aus-dem-Bauch-heraus-Handeln, ohne Fakten zu berücksichtigen, weiter Einzug in die Arbeit dieser Koalition hält. Ich finde, der „Spiegel“ vom 12. Juni 2006 hat Recht. Er nennt die Arbeit der großen Koalition einen „Schmalspurbetrieb im Bundestag“, bei dem es vorrangig um das große Freizeitangebot in Berlin, die Segelmöglichkeiten und nette Wanderungen zu gehen scheint.
Nicht, dass ich Ihnen das Segeln neiden würde, Herr Runde. Aber ich habe gestern mit einer allein erziehenden Mutter gesprochen, die ihren Kindern wieder sagen musste: In diesem Monat fällt das Kino aus. Das tut weh. Diesen Zustand muss Politik ändern.
Es kann nicht sein, dass über Schicksale Politiker und Politikerinnen entscheiden, von denen manche augenscheinlich jeden Bezug zur Realität verloren haben
und die für einen Cappuccino im Nobelrestaurant mehr bezahlen, als ein Jungerwachsener am ganzen Tag für Nahrung ausgeben kann.
Jetzt zu einem aus dem Hause der CDU-Scharfmacher. In einem Interview vom 30. Mai 2006 in der „Mittelbayerischen Zeitung“ las ich, dass Sie, Herr Brauksiepe, eine nachhaltige, verantwortungsbewusste Haushaltspolitik im Auge hätten. Es mag ja sein, dass Sie etwas im Auge haben, etwas, das Sie blind macht für die Würde arbeitsloser Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, etwas, das Sie blind macht für die Wichtigkeit der Ankurbelung der Binnennachfrage und für eine zukunftsweisende Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik ist es jedoch nicht, die Sie im Auge haben.
Seit 1999 hat Rot-Grün Steuerschenkungsgesetze für Großindustrie und Spitzenverdiener verabschiedet, die unsere Volkswirtschaft jährlich über 20 Milliarden Euro kosten. Aus vollem Hals haben Sie angekündigt: So werden Arbeitsplätze entstehen. Nur, wo sind die Millionen Arbeitsplätze? Und wo sind die Millionen Euro, die Sie den Konzernen geschenkt haben? Doch manche sind unbelehrbar. Aus den Reihen von CDU und CSU ist immer wieder zu hören, dass die gemachten Steuergeschenke nicht reichen; Pläne für weitere Schenkungen liegen bereits in schwarz-roten Schubladen.
Sie haben gänzlich übersehen, dass in diesem Land die klein- und mittelständischen Unternehmen circa 60 Prozent der Arbeitsplätze und circa 70 Prozent der Ausbildungsplätze schaffen. Doch statt die klein- und mittelständischen Unternehmen zu unterstützen, indem Sie Gesetze verabschieden, die die Binnennachfrage und Kaufkraft stärken, schwächen Sie weiter die Binnennachfrage, von der diese Unternehmen abhängig sind. Sie, meine Damen und Herren der großen Koalition, kommen mir vor wie Zauberlehrlinge.
Um Ihnen fachlich unter die Arme zu greifen, schlagen wir, die Linksfraktion im Bundestag, zur verfahrenen Arbeitsmarktpolitik von Rot-Grün, fortentwickelt durch Schwarz-Rot, folgende Alternativen vor: die Nachfrage nach Arbeit stärken, Maßnahmen zur Stärkung der Binnennachfrage und damit der Kaufkraft etablieren. Schauen Sie dabei in unseren Antrag für einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro plus und für die Bündelung von Mitteln der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik für versicherungspflichtige Arbeitsplätze! Denn so kann Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert werden, und zwar auf dem von uns vorgeschlagenen Mindestlohnniveau.
Sehen Sie in unser Zukunftsinvestitionsprogramm und schauen Sie sich unser Steuerkonzept an: Wiedereinführung der Vermögensteuer, Veränderung der Erbschaftsbesteuerung, Erhöhung des Spitzensteuersatzes und Veränderungen in der Unternehmensbesteuerung. Kommen wir zur Etablierung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors! Praktische Erfahrungen finden Sie beispielsweise auch in Mecklenburg-Vorpommern, wo 600 Schulsozialarbeiter wertvolle Erziehungsarbeit leisten.
Natürlich muss der Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, wie in Skandinavien erfolgreich praktiziert, auch hier wieder ausgebaut werden. Wir fordern eine gerechte Verteilung von Arbeit und in diesem Zusammenhang auch Arbeitszeitverkürzung und Überstundenabbau; denn das schafft Arbeitsplätze und darüber hinaus auch Lebensqualität.
Wir fordern eine einheitliche bundesgesetzliche Regelung für die Weiterbildung. Natürlich muss sich eine geförderte berufliche Weiterbildung an ihrer Qualität und nicht daran messen lassen, ob sie billig ist.
Die gegenwärtige Praxis, die Kosten der Arbeitslosigkeit in immer größerem Maße auf die Allgemeinheit zu schieben, ist indiskutabel. Ich freue mich, auch aus Ihrem Munde gehört zu haben - von der Kollegin Lehn und anderen -, dass auch Sie das so sehen. Deshalb müssen wir mittels Gesetzesinitiativen vor allem die großen Unternehmen in die finanzielle Verantwortung nehmen, die zum Beispiel nicht ausbilden oder die infolge einer unterlassenen betrieblichen Weiterbildung, aus Gründen der Verlagerung ins Ausland oder trotz günstiger Ertragslage Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen. Noch einmal: Nur durch eine starke Binnennachfrage werden Arbeitsplätze geschaffen.
Tun Sie endlich etwas dafür!
Soziale Gerechtigkeit beginnt und endet da, wo der Mensch und die Menschenwürde das Maß aller Dinge sind. Das gilt auch für Sie, für Herrn Müntefering und für Frau Merkel.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit etwas Grundsätzlichem beginnen. Wir reden hier über einen Einzelplan, der nicht nur 45 Prozent des Gesamthaushalts ausmacht, sondern durch den für Millionen von Menschen, die ihren Lebensunterhalt zumeist nicht, nicht vollständig, nicht mehr oder vorübergehend nicht aus eigener Arbeit oder Vermögen bestreiten können, nämlich für Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose und zum Teil auch Menschen mit Behinderungen, auch sozialstaatliche Leistungsgarantien gegeben werden. Man muss sich in Erinnerung rufen: Fast jede Person in Deutschland ist auf diese sozialstaatlichen Leistungsgarantien angewiesen. Für die meisten gilt das spätestens aufgrund der Rente im Alter, für viele gilt das aber auch einmal oder häufiger aufgrund von Arbeitslosigkeit während ihres Erwerbslebens.
Wegen dieser elementaren Bedeutung ist das Sozialstaatsprinzip ebenso wie das Rechtstaatprinzip als fundamentales Prinzip im Grundgesetz verankert. Ich glaube, in einer Zeit und einem Klima, in dem leichtfertig verfassungsmäßige Grundsätze wie etwa auch das Existenzminimum infrage gestellt werden, ohne dass die Hintergründe bekannt oder politisch thematisiert werden, muss man einmal grundsätzlich an diese Tatsachen erinnern.
Beispiele für dieses Infragestellen sind Legion, und zwar vorwiegend von der Union. Zum Beispiel stellt der Haushaltsexperte Kampeter den Regelsatz einfach einmal so freihändig infrage.
Nun sind - das will ich hier insgesamt gerne zugestehen - sozialstaatliche Garantien nicht in Stein gemeißelt und natürlich immer auch Gegenstand von politischen Verhandlungen, bei der die Finanzbasis des Staates und seine Stabilität mitberücksichtigt werden müssen. Die Menschen, die aktuell oder möglicherweise in Zukunft auf diese sozialstaatlichen Garantien angewiesen sind, können aber erwarten, dass ihre Abgeordneten, ihre Vertreterinnen und Vertreter hier auf einer rationalen Grundlage nüchtern und vor allen Dingen tatsachengestützt über die Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips reden und verhandeln. Genau das geschieht im Moment nicht.
Herr Kauder von der Union unterstellt den Arbeitslosen, sie wollten den ganzen Tag im Bett liegen. Herr Müller von der CSU
möchte alle morgens zum Appell antreten lassen.
Meine Damen und Herren von der Union, halten Sie diese Ansätze für vertretbar? Sie bedenken dabei nicht, welche Folgen das auch für die Demokratie, für die Gesellschaft und für die Wahrnehmung in der Gesellschaft hat.
Was sollen etwa Kinder von Langzeitarbeitslosen denken, die mitbekommen, dass ihre Eltern auf Beratungstermine warten müssen und unter Umständen keine oder schlechte Angebote bekommen, sich aber gleichzeitig anhören müssen, Arbeitslose lägen den ganzen Tag im Bett? Was sollen diese Personen von ihren Vertreterinnen und Vertretern im Parlament halten?
- Herr Kauder hat indirekt angedeutet, dass die Arbeitslosen den ganzen Tag im Bett lägen.
Es wird auch nicht dadurch besser, dass Herr Beck den Eindruck erweckt, im Rahmen des bestehenden Regelsatzes gäbe es noch Einsparpotenziale und man könnte auf das eine oder andere verzichten. Zur Redlichkeit gehört auch, nicht so zu tun, als gäbe es an dieser Stelle noch Spielräume.
Frau Lehn, auch Sie haben diese Argumentation vertreten. Die Sache wird aber nicht dadurch besser, dass man auf diejenigen verweist, die legale Mittel nutzen, um Steuern zu sparen oder zu verkürzen. Ich frage mich, wo ich eigentlich bin, wenn der Gesetzgeber von diesem Pult aus die Bürgerinnen und Bürger, die das Gesetz zu ihren Gunsten nutzen, auffordert, dies nicht zu tun.
Wir sind der Gesetzgeber. Wenn wir bestimmte Möglichkeiten der Steuerverkürzung nicht wollen, dann müssen wir eben die Gesetze entsprechend ändern,
statt den Bürgerinnen und Bürgern vorzuschreiben, dass sie als Bettelmönche herumlaufen sollen.
Zur Redlichkeit gehört auch - das ist die Basis der Politik -, den Hintergrund der so genannten Missbrauchs- bzw. Schmarotzerdebatte zu betrachten. Sehr interessant fand ich eine Meldung, die erst gestern von der Bundesagentur für Arbeit bekannt gegeben wurde. Die Bundesagentur und die Job-Center haben 3,2 Millionen Datensätze verglichen. Ich kann Ihnen sagen, wie viele Missbrauchsfälle bei dem in diesem Umfang bisher einmaligen Datenabgleich aufgedeckt worden sind. Es sind insgesamt 22 900 Fälle, in denen Betrug oder eine Straftat wegen falscher Angaben vermutet worden ist. Das ist noch nicht einmal 1 Prozent der Leistungsbezieher.
Es wird für Sie noch bitterer, meine Damen und Herren von der großen Koalition. Sie glauben, bei den Missbrauchsfällen wahnsinnig viel einsparen zu können. Das Volumen der Rückforderungen von zu Unrecht gezahlten Leistungen beträgt aber nicht einmal 36 Millionen Euro. Das bewegt sich im Verhältnis zu den Gesamtausgaben im Promillebereich.
Das macht auf dramatische Weise deutlich, dass Sie in eine völlig falsche Richtung steuern. Sie konzentrieren sich auf eine Missbrauchsdebatte, obwohl der eigentliche Skandal darin besteht, dass das Fördern ausbleibt. Herr Brandner, Sie haben Ihre guten Absichten erklärt und dargestellt, was Sie tun wollen.
Aber ich frage Sie: Warum gibt es immer noch zahllose 1-Euro-Jobs? Warum führen Sie keine Umstellung auf die Deckungsfähigkeit von aktiven und passiven Leistungen durch, um mit den Mitteln des Arbeitslosengeldes II auch sozialversicherungspflichtige Jobs zu schaffen? Warum ändern Sie nicht die Strukturen hinsichtlich der Qualifikation?
Nicht der Missbrauch ist ein Skandal, sondern die Tatsache, dass die Fördermittel von Ihnen eingefroren werden und nicht mit der notwendigen Vehemenz - dazu ist auch vom Minister wenig zu hören; vielleicht können Sie gleich noch etwas dazu sagen - darauf hingewiesen wird, dass wir nicht nur eine Mehraufwandsentschädigung, sondern Förderung wollen und dass wir den Menschen in Arbeitslosigkeit eine realistische Perspektive bieten wollen. Wir wollen aber keine ziellose Missbrauchsdebatte, die weder in unserem Sinne, noch im Sinne der Menschen in diesem Land etwas bringt.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Meckelburg von der CDU/CSU-Fraktion.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mich stört an der Debatte, Herr Kurth, dass die gesamte Diskussion über das Arbeitslosengeld II und alle damit verbundenen Instrumente und Möglichkeiten von Ihnen und auch den Linken auf die Frage des Missbrauchs und die vermeintliche Absicht der großen Koalition reduziert wird, Menschen in Armut zu bringen.
Es ist aber Unsinn, die Debatte darauf zu reduzieren.
Es geht doch darum, den Prozess, den wir über politische Grenzen hinweg angefangen haben, fortzusetzen und an den notwendigen Stellen Kontrollen durchzuführen. Ich werde darauf gleich näher eingehen.
Herr Brandner, Ihre Feststellung, dass eine Totalrevision mit Ihnen nicht möglich ist, und der Hinweis des SPD-Vorsitzenden Beck, dass das bei der früheren Sozialhilfe nicht üblich war und jetzt nicht notwendig ist, weil das Ganze gesetzlich geregelt ist, bringen uns nicht weiter. Wir werden auch weiterhin über eine ganze Reihe von Fragen zu sprechen haben.
Ich sage das mit Blick darauf, dass wir gemeinsam eine Menge erreicht haben. Wir haben festzuhalten: Auf dem Arbeitsmarkt gab es im Mai einen Rückgang um 350 000 Arbeitslose. Die Bundesanstalt erhält das erste Mal seit 21 Jahren keinen Bundeszuschuss mehr. Finanzielle Verbesserungen eröffnen uns an einer ganz entscheidenden Stelle, an der wir bisher nicht weitergekommen sind - die Lohnzusatzkosten sollen wirklich einmal unter 40 Prozent liegen -, Spielräume. Das setzt sich fort.
Das ist ein Ziel, das wir als Union wirklich durchhalten werden. Wir haben ja auch nicht locker gelassen, als es in der internen Auseinandersetzung darum ging, die 1,8 Milliarden Euro zu finden, diese aber nicht aus den Beitragsmitteln zu finanzieren. Wir haben die feste Absicht, eine Blockade zu beseitigen, die die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert, nämlich bei den Lohnzusatzkosten tatsächlich unter 40 Prozent zu kommen.
Wir haben jetzt die Chance, nicht nur - was gemeinsam beschlossen worden ist - von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent Arbeitslosenversicherungsbeitrag zu kommen, sondern möglicherweise sogar darüber hinaus Senkungen vornehmen zu können, weil sich die Einsparungen bei der Bundesanstalt erhöht haben.
Ich finde, wir haben eine Menge auf den Weg gebracht. Wir haben uns auch nicht vor schwierigen Fragen, etwa der Rente mit 67, gedrückt. Der Minister hat das in einer unpopulären Zeit - sage ich einmal - unpopulär durchgesetzt. Das ist eine Botschaft, die rüberkommt.
Wir haben bei der Rente auch festgelegt, dass es keine Senkung geben wird, haben aber gleichzeitig gesagt, wir müssen im nächsten Jahr den Beitragssatz auf 19,9 Prozent erhöhen.
Wir haben vor allem - das muss man immer wieder sagen - an den Stellen, wo die Arbeitsmarktpolitik gar nichts bewegen kann, wo nämlich der Arbeitsmarkt selbst beteiligt ist, eine Reihe von Programmen auf den Weg gebracht. Ich erinnere an das 25-Milliarden-Euro-Programm, das wir in der großen Koalition gemeinsam auf den Weg gebracht haben, was aber insgesamt, weil es den Staat immer nur prozentual betrifft, bis zu 100 Milliarden Euro Investitionen nach sich ziehen kann. Das bedeutet, dass wir den Mittelstand mehr bewegen können. Das bedeutet, dass wir den privaten Haushalt als Arbeitgeber stärker nach vorn bringen können. Dies halte ich für ein ganz wichtiges Ziel. Darin liegt noch viel Potenzial.
Die Förderung von Forschung und Entwicklung und die Gebäudesanierungsprogramme - all das sind Vorhaben, die in den nächsten vier Jahren auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet sind, die dort Bewegung hineinbringen und genau dort Arbeitsplätze schaffen, wo wir manchmal mit der Arbeitsmarktpolitik nicht weiterkommen.
Lassen Sie mich jetzt noch auf das Versprochene sozusagen in der zweiten Halbzeit eingehen. Wir haben, unabhängig davon, ob wir darüber sprechen, dass wir eine Totalrevision von Hartz oder kleinere Veränderungen brauchen, einfach festzustellen, dass es gar nicht anders geht, als im Herbst darüber weiter zu sprechen.
Wir haben in den ersten sieben Monaten dieses Jahres viel geleistet. Der Haushalt 2006 ist sozusagen der Abschluss. Wir wissen aber, dass die Haushaltsberatungen für 2007 unmittelbar bevorstehen und dass wir auch da drei Lesungen haben werden und dass wir vereinbart haben, im weiteren Verfahren über viele Dinge zu sprechen.
Wir haben uns vorgenommen, über die Eingliederungshilfen insgesamt, über die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu sprechen. Das ist dringend notwendig. Das ist viel zu unübersichtlich. Da muss Klarheit hinein und die Spreu vom Weizen getrennt werden. Das, was funktioniert, muss richtig weitergeführt werden. Wo etwas nicht funktioniert, muss man auch den Mut haben, zu sagen, das geht nicht.
Wir haben schon an zwei Stellen Korrekturen vorgenommen. Die Personal-Service-Agenturen sind praktisch nicht mehr da - ich sage es einmal so -, mit Ausnahme von drei bis vier Bezirken, in denen das funktioniert. Bei der Ich-AG haben wir eine bessere Lösung gefunden; diesen Weg werden wir weitergehen müssen.
Wenn wir über Kombilohn, Mindestlohn und diesen ganzen Themenbereich diskutieren, will ich einmal der politischen Diskussion sozusagen für die zweite Halbzeit noch ein paar Vorlagen geben.
- Ich weiß nicht, ob wir das alles mit Ihnen schneller hinbekommen hätten, mit den Voraussetzungen, die Sie uns finanziell erlaubt hätten.
Wenn wir über Kombilohn und Mindestlohn sprechen, dann kann man doch nicht über diese Fragen diskutieren, wenn man nicht parallel über die Frage Arbeitslosengeld und Hinzuverdienst redet.
- Und Mindestlohn. Das habe ich gerade gesagt. Das wurde ja vereinbart. Ich will nur sagen, worüber wir dann auch sprechen müssen.
Wir müssen in diesem Zusammenhang auch über die Regelungen betreffend den Hinzuverdienst reden. Wir dürfen doch nicht vielen Menschen dadurch, dass ein bestimmter Hinzuverdienst im Rahmen des Sozialtransfers erlaubt ist, einen Korridor eröffnen und anschließend heißt es: Mein Kombilohn besteht aus dem Arbeitslosengeld plus dem, was ich hinzuverdienen kann, und das ist es. Darüber müssen wir eine Diskussion in der Gesellschaft führen.
Ein Kombilohn besteht für mich jedenfalls aus Lohn auf dem ersten Arbeitsmarkt plus ein bisschen Zusatztransfer. Aber viele Menschen scheinen noch nicht so weit zu sein. Oft wird nur danach gefragt, was einem staatlicherseits zusteht und wie viel man bei Sozialtransfer hinzuverdienen darf. Ziel muss aber sein, eine Politik zu betreiben, die der Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt Vorfahrt gibt. Das ist die wichtigste Aufgabe, die wir erfüllen müssen.
Wir müssen außerdem über das offensichtliche Problem des Aufstockens reden. Jemand, der Anspruch auf Arbeitslosengeld I hat, kann es auf das Niveau des Arbeitslosengeldes II aufstocken, wenn das Arbeitslosengeld I niedriger ist. Das kann man sozialpolitisch noch vertreten. Jemand, der einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt hat und nicht genügend verdient, kann ebenfalls auf das ALG-II-Niveau aufstocken. Aber das hat Formen angenommen, die vermuten lassen, dass es bei der gegenwärtigen Mentalität zu Missbrauch kommt. Wir, der Gesetzgeber, haben hier offenbar etwas produziert, über dessen Richtigkeit wir nachdenken sollten. Genau das ist gemeint, wenn wir über eine Revision reden.
Zum Schluss möchte ich noch eine Brücke schlagen, damit wir das in der großen Koalition gemeinsam schaffen. Der Chef der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, sieht dies genauso. Er sagt:
Das Verbleiben in der Arbeitslosigkeit muss unattraktiver werden im Vergleich zu einer Beschäftigungsaufnahme - und zwar insbesondere im Hinblick auf solche Arbeitsverhältnisse, die auch die registrierte Arbeitslosigkeit verringern.
Er fügt hinzu, dass das Arbeitslosengeld II nicht als Grundsicherung für diejenigen gedacht sei, „die kein Beschäftigungsinteresse haben“. Darüber muss man doch offen reden dürfen, ohne dass man sich dauernd den Vorwurf zuzieht, man wolle nur kürzen. Wir müssen überprüfen, ob die Regelungen funktionieren, egal ob im Rahmen einer Totalrevision oder in einem länger dauernden Prozess. Zielrichtung muss sein, mehr Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Einen ersten Schritt hat die große Koalition gemacht. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg und werden gemeinsam genügend Kraft tanken, um auch die strittigen Themen anzugehen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Franz Müntefering.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zuerst beim gesamten Parlament sowie insbesondere beim Haushaltsausschuss und beim Fachausschuss für die gute Zusammenarbeit bedanken. Wir haben manche Stunde darauf verwandt. Aber ich glaube, es hat sich gelohnt. Wir haben einen guten, überzeugenden und zukunftsfähigen Haushalt vorgelegt. Wir wissen, dass wir in den nächsten Jahren über die richtigen Entscheidungen heftig zu streiten haben. Aber ich denke, die Debatte lohnt sich.
Ich bin über die Argumente von der linken und der rechten Seite ein bisschen enttäuscht. Ich frage mich, warum wir überhaupt eine solche Debatte führen. Entweder verstehen Sie nicht oder Sie wollen nicht verstehen oder ich habe mich missverständlich ausgedrückt; das kann natürlich sein. Ich will das - ganz bescheiden - offen lassen. Ich bin jedenfalls ein bisschen verwundert. Die Qualität einer Opposition kann man immer daran erkennen, ob auf die Argumente der Regierung eingegangen wird oder ob einfach Reden gehalten werden, die man schon seit einem halben Jahr kennt. Ich denke jedenfalls, wir sind ein ganzes Stück weitergekommen.
Diese große Koalition hat auch zum Bereich Arbeit und Soziales ein schlüssiges, vernünftiges und belastbares Konzept vorgelegt. Wir sind mit der Umsetzung dieses Konzeptes in der Zeit. Manche sprechen mich an und sagen: Ihr müsst viel schneller machen. Diesen sage ich: Das geht nicht; denn wir müssen Zeit haben, nachzudenken und die Entscheidungen sorgfältig vorzubereiten. Manche Wissenschaftler warnen mich vor Aktionismus und empfehlen, abzuwarten; es kläre sich alles von selbst. Diesen sage ich: Es klärt sich nicht alles von selbst. Es kommt darauf an, dass wir das richtige Tempo und den richtigen Rhythmus haben, wenn es darum geht, die Dinge zu entscheiden.
Ich will ein paar Punkte ansprechen, von denen ich meine, dass man sich mit ihnen sehr gut sehen lassen kann:
Die Arbeitslosenzahl liegt um etwa 350 000 unter den Zahlen von vor einem Jahr. Das ist kein Grund für Euphorie. Wir haben auch keine Jubelgesänge angestimmt. Aber 350 000 sind auch keine Kleinigkeit. Bei den arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren sind es 85 000 weniger. Bei den über 50-Jährigen sind es etwa 50 000 weniger. Es bewegt sich was in Deutschland. Das ist nicht zufällig. Das ist lange vorbereitet worden, auch von dieser Koalition vorbereitet worden.
Das 25-Milliarden-Euro-Programm war eine mutige Sache. Es hat Impulse gegeben. Wenn man sich die Zahlen bei der KfW anschaut, stellt man fest: eine Steigerung um 46 Prozent in den ersten Monaten unter anderem für Maßnahmen, mit denen Instandhaltung oder energetische Gebäudesanierung gefördert worden ist. Da bewegt sich was. Das Programm ist für dieses Jahr fast ausgebucht. Im nächsten Jahr werden wir es ebenfalls zur Verfügung haben, auch begleitend zur Erhöhung der Mehrwertsteuer, deren Problematik uns bewusst ist, der wir aber mit dem Programm, das wir auf den Weg gebracht haben, vernünftig begegnen.
Finanzen: Wir haben einen Arbeitsmarkt. Der eine Arbeitsmarkt hat das Arbeitslosengeld I und das Arbeitslosengeld II. Beides gehört zum Arbeitsmarkt. Nun sage ich Ihnen einmal, wie die Situation im Februar war und wie sie sich jetzt darstellt. Im Februar waren wir zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit der Meinung, dass die Bundesagentur in diesem Jahr ein Plus von 1,8 Milliarden Euro machen wird. Sie macht aber jetzt ein Plus von 5 Milliarden Euro, vielleicht 6 Milliarden Euro, vielleicht auch mehr. Unter dem Strich kommt sie sozusagen um 4 Milliarden Euro besser durch das Jahr, als wir alle miteinander im Februar geglaubt haben.
Den Zahlbetrag für das Arbeitslosengeld II haben wir auf 24,4 Milliarden Euro geschätzt; mehr kann man zu Beginn des Jahres nicht tun. Es ist ein Rechtsanspruch. Jetzt stellen wir fest: In den ersten Monaten ist mehr ausgegeben worden. Wenn das auf der Höhe der ersten Monate bliebe, würden wir mehr Geld brauchen. Aber wir haben inzwischen Gesetze gemacht, das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz und das SGB-II-Änderungsgesetz. Wir wollen im zweiten Halbjahr an dieser Stelle noch etwa 600 bis 700 Millionen Euro sparen.
Wir schätzen aber, dass es nicht dabei bleibt, sondern dass wir irgendwo bei 25,5 Milliarden Euro landen. Wir würden an der Stelle also 1,1 Milliarden Euro mehr ausgeben. Um dies abzusichern, sperren wir 1,1 Milliarden Euro von den 10 Milliarden Euro, die wir für Verwaltungskosten und Eingliederungshilfen an die Argen und die ZKT, die Optionskommunen, gegeben haben. Die haben also nicht 10 Milliarden Euro zur Verfügung, sondern 8,9 Milliarden Euro. Ob sie im Laufe des Herbstes die 1,1 Milliarden Euro noch zur Verfügung haben werden, wird sich zeigen, je nachdem, wie sich die Dinge an der Stelle entwickeln. Im letzten Jahr standen 10 Milliarden Euro für Verwaltung und Eingliederung zur Verfügung. Davon sind etwa 6,5 bis 7 Milliarden Euro ausgegeben worden. Wir stellen ihnen für dieses Jahr also 8,9 Milliarden Euro zur Verfügung.
Ich weiß, wie schwierig das ist. Manche der Argen können das Geld zu 100 Prozent gebrauchen und vernünftig ausgeben. Das sollen sie möglichst auch können. Wir wollen sie nicht ausbremsen. Aber es gibt auch ganz viele, die weniger ausgeben. Wir werden im September noch einmal schauen, wie man das zwischen denen, die vorgeprescht sind, und denen, die noch nicht so viel Aktivität gezeigt haben, ausgleichen kann. Was wir da miteinander vereinbart haben, ist, finde ich, eine vernünftige Sache.
Für KdU, Kosten der Unterkunft, werden wir als Bund etwa 200 oder 300 Millionen Euro mehr ausgeben, weil es mehr Bedarfsgemeinschaften und höhere Wohnungskosten gibt, als wir gedacht haben.
Machen wir einmal einen Strich darunter - Vergleich Februar und jetzt -: Beim Arbeitslosengeld I stellt sich die Situation um 4 Milliarden Euro günstiger dar. Für das Arbeitslosengeld II müssen wir wenigstens 1,1 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stellen. Beim Eingliederungstitel von 10 Milliarden Euro stellt sich das Ganze um 1,1 Milliarden Euro günstiger dar, weil wir sperren. Etwa 300 Millionen Euro mehr sind für KdU zu veranschlagen. Jetzt frage ich: Wo ist da das Drama?
In einem flexiblen, atmenden Markt werden sich im Verlaufe des Jahres - das werden wir erleben - die Dinge verändern. Das ist auch keine Schande. Darüber kann man offen sprechen. Ich finde, dass wir in diesem Haushalt eine gute Lösung gefunden haben.
Lassen Sie mich etwas zu den Sozialversicherungsbeiträgen sagen. Auf der Grundlage dessen, was wir jetzt machen, werden wir im nächsten Jahr folgende Sätze haben: 19,9 Prozent bei der Rentenversicherung, 4,5 Prozent bei der Arbeitslosenversicherung, 13,2 - 13,3 Prozent bei der Krankenversicherung. Das sind zusammen 37,6 Prozent. Die Frage ist natürlich: Was ist mit der Krankenversicherung? Wie lösen wir die Probleme? Das wird man in den nächsten Wochen zu klären haben. Dazu kommen noch 2,6 Prozent, nämlich 1,7 Prozent für die Pflege und 0,9 Prozent, die die Arbeitnehmer separat bezahlen. Das heißt, die Arbeitnehmer finanzieren noch 2,6 Prozent zusätzlich.
Wir haben in der Koalition vereinbart, dauerhaft unter 40 Prozent zu bleiben. Das werden wir auch tun. Ich persönlich sage hier ganz klar: Ich hätte nichts dagegen, wenn wir da eine zusätzliche Anstrengung auf uns nehmen könnten.
Wir hatten zu Beginn der deutschen Einheit eine Sozialversicherungsquote von etwa 35 bis 36 Prozent. Damals haben wir alle miteinander den Fehler gemacht, Kosten, die man anders hätte finanzieren müssen, über die Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren.
Diese Beurteilung aus heutiger Sicht teilen wir alle. Deshalb sollten wir uns bemühen, bei der Senkung der Lohnnebenkosten noch ein Stück weiterzukommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Müntefering, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hajduk?
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Ja.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte, Frau Hajduk.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Minister, vor dem Hintergrund, dass Sie hier erläutert haben, wie die Kostenentwicklung bzw. Kostenprognose im Haushalt zu beurteilen ist, möchte ich Sie fragen, wie Sie vorankommen wollen, wenn Sie bei den Leistungen für Verwaltung und Eingliederung bei den Arbeitsgemeinschaften 1,1 Milliarden Euro sperren wollen. Wie bringen Sie dieses angebliche Einsparpotenzial bei der Verwaltung mit der Tatsache überein, dass jüngst kritisiert wurde, dass nach über sieben Monaten mit bis zu einem Drittel der betroffenen Arbeitslosen - das sind häufig Langzeitarbeitslose - keinerlei Eingliederungsgespräche geführt oder im Zusammenhang mit möglichen Angeboten und Programmen schlicht keine Eingliederungsvereinbarungen getroffen wurden? Ich sehe da einen Widerspruch, wenn Sie sagen, gerade mit Blick auf die Minderausgaben vom Vorjahr, auch dieses Jahr würde man mit weniger als dem geplanten Geld auskommen können.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Ich widerspreche Ihnen da ausdrücklich nicht. Ich wäre froh, wenn das Geld für den Zweck ausgegeben würde, für den es vorgesehen ist. Aber die Lebenswirklichkeit ist anders. Im letzten Jahr sind von 10 Milliarden Euro für Verwaltung und Eingliederung 6,5 bis 7 Milliarden Euro ausgegeben worden. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind rechnerisch 1,1 Milliarden Euro nicht ausgegeben worden. Wenn man das mit drei multiplizieren würde - was man nicht darf -, wäre man bei 3,3 Milliarden Euro. Wir kürzen aber an dieser Stelle nicht um 3 Milliarden Euro, sondern sperren 1,1 Milliarden Euro. Das halte ich für verantwortbar. Ich glaube, dass wir im Verlauf des Jahres sehen werden, dass wir damit gut leben können. Dann werden wir für das nächste Jahr wieder miteinander darum zu streiten haben, was wir dort an Mitteln zur Verfügung stellen. Jedenfalls will ich nicht, dass an dieser Stelle gezielt zulasten der Arbeitslosen gespart wird. Aber die Lebenswirklichkeit ist so, wie ich sie beschrieben habe, und darauf haben wir uns in diesem Haushalt eingestellt.
Ein Wort zur Rente. Das Problem in den Haushalten insgesamt besteht seit Jahrzehnten darin, dass die Prognosen, die wir für die Zukunft stellen, relativ zuversichtlich und optimistisch sind. Frau Hajduk - Sie haben das angesprochen -, wir haben in der Vergangenheit schon gemeinsam erlebt, dass die Prognosen in Bezug auf Lohnsummen und Wachstum für kommende Jahre günstiger waren, als es letztendlich der Lebenswirklichkeit entsprach. Am Ende des Jahres waren dann immer die Wirtschaftsweisen die Weisen und die Politiker die Dummen. Das war in vielen Jahren der Fall. Deshalb müssen wir in den kommenden Jahren sehr genau hinschauen, um möglichst nah an die Lebenswirklichkeit heranzukommen.
Wir haben in dieser Koalition die Prognosen für die nächsten Jahre um 0,5 Prozent nach unten korrigiert. Ob das genug ist, wird man sehen. Ich bin sehr dafür, dass wir uns ehrlich machen. Es ist auch eine Aufgabe des Haushaltshausschusses, auf die niedergelegten Prognosen für die nächsten Jahre zu achten. Denn wenn man das Jahr mit Illusionen beginnt, darf man sich nicht wundern, wenn man im Verlauf des Jahres nachsteuern muss.
Ich bin dafür, dass wir, auch wenn das anstrengend ist, hart am Wind segeln, und zwar jetzt und nicht erst in ein paar Jahren, um möglichst nah an die Tatsachen heranzukommen.
Ich will zu diesem Bereich etwas sagen, was mir ganz wichtig ist. Wir müssen die betriebliche Rente und die Riesterrente stärken. Im Lande muss ein Bewusstsein dafür entstehen, dass ein Rentenniveau von 46 Prozent bis 2020 und 43 Prozent bis 2030 nicht mehr dem Wohlstand von heute entspricht und dass man den Wohlstand nur halten kann, wenn man zusätzlich spart. Es muss selbstverständlich werden, dass die jungen Leute, die einen Beruf ausüben, eine solche zusätzliche Altersvorsorge betreiben.
Deshalb mein Appell an die Tarifparteien - beim letzten Tarifvertrag in der Metallindustrie wurde in dieser Beziehung etwas Gutes beschlossen -: In den nächsten Jahren muss die Debatte über die Beteiligung der Arbeitnehmer am Gewinn und am Kapital auf die Idee fokussiert werden, die betriebliche Altersvorsorge zu stärken und zu verbessern. Das müssen sie miteinander hinbekommen. Wir von der Politik müssen diese Linie unterstützen. Dies ist ein vernünftiger Weg, den man in den nächsten Jahren miteinander gehen kann.
Nur als Stichwort - einige Kollegen haben es schon angesprochen -: Ich halte die Zurückhaltung, die derzeit noch auf dem Ausbildungsmarkt herrscht, nicht nur für schade, sondern für fast skandalös.
Die jungen Leute, die jetzt aus den Schulen kommen, müssen eine Chance haben. Die Einstellung, die manche - auch große - Unternehmen vermitteln, indem sie sagen: „Wir bilden nicht aus, weil wir die Auszubildenden in drei Jahren nicht einstellen können“, ist falsch. Wer ausgebildet ist, hat eine größere Chance. Man kann die Zahl der Ausbildungsplätze in den Unternehmen nicht an der Zahl der Arbeitnehmer messen, die die Unternehmen selbst nach drei Jahren benötigen. Sie müssen vielmehr allen eine Chance geben. Zwei Drittel der jungen Menschen, die arbeitslos sind, sind ohne Ausbildung. Wer keine Ausbildung hat, hat fast keine Chance.
Deshalb appelliere ich von hier aus noch einmal an alle diejenigen, die dabei mithelfen können: Sorgt dafür, dass die jungen Leute eine Chance haben!
Den jungen Leuten sage ich: Versucht, nicht nur an dem speziellen Interesse festzuhalten, das ihr habt! Es gibt sicher auch andere Ausbildungen, die für euch infrage kommen.
Im Stakkato der Zeitplan: Jetzt geht es um den Haushalt 2006. Noch vor der Sommerpause werden wir Eckpunkte zur Initiative 50 plus vorlegen. Wir wissen, dass wir die Verantwortung dafür haben, dass die 50- und 55-Jährigen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr so abgeschoben werden, wie das in den vergangenen Jahren der Fall war. Wir werden im Herbst eine Debatte über den Niedriglohn, den Mindestlohn und den Kombilohn, über Mini- und Midijobs führen und darüber, wie das alles zusammenpasst.
In diesem Zusammenhang werden wir natürlich auch eine Diskussion über das Verhältnis dieses Themas zum Bereich des Arbeitslosengeldes II zu führen haben. Denn es ist klar: In der allgemeinen, öffentlichen Debatte besteht die Gefahr, dass das Arbeitslosengeld II in die „Sozialhilferisierung“ - wenn ich das Wort einmal gebrauchen darf - abrutscht. Das Arbeitslosengeld II ist ein Instrument, das sich auf den Arbeitsmarkt orientiert. Diejenigen, die es erhalten, sollen auf den Arbeitsmarkt. Sie sollen sich nicht dauerhaft mit dem Arbeitslosengeld II einrichten. Wir wollen das nicht. Wir wollen vielmehr, dass es für sie Impulse gibt, auf den Arbeitsmarkt zu kommen. Wir müssen aufpassen, dass an dieser Stelle Bewegung entsteht.
Herr Kurth hat hier sehr lange über angeblichen Missbrauch in diesem Zusammenhang gesprochen. Es fällt mir leicht, darauf einzugehen. Mich können Sie damit nicht gemeint haben; ich spreche nicht davon. Wenn Sie das, was da stattfindet, nicht wollen, dann müssen Sie helfen, das Gesetz zu verändern. Das habe ich getan und das tue ich auch. Wenn man Missbrauch nicht will, dann muss man entsprechenden Gesetzesänderungen auch zustimmen. Dann darf man sie nicht auch noch bekämpfen, wenn sie auf der Tagesordnung stehen.
Da wird noch einiges zu tun sein.
Wenn jemand seit fünf Jahren mit einem anderen Menschen in einem Haus bzw. auf einem Flur zusammenwohnt und sie gemeinsame Kinder haben, aber sagt: „Eine Partnerschaft besteht bei uns nicht; wir wollen als zwei Bedarfsgemeinschaften anerkannt werden“, dann sage ich dazu: Das ist doch Wahnsinn. Es muss doch möglich sein, zu sagen: Das müsst ihr beweisen. Das ist die Umkehr der Beweislast. Dies ist übrigens keine Schnüffelei. Dies werden wir zu Ende führen. Dazu muss man mal ein deutliches Wort sagen; das kann doch nicht sein.
Wenn ein Selbstständiger sagt: „Ich habe in den letzten Monaten nicht genug Geschäfte gemacht und bitte darum, meine Einkünfte mit Arbeitslosengeld II aufzufüllen“ und ihm wird eine Beschäftigung angeboten, die er aber mit der Begründung ablehnt, dass er seine gesamte Arbeitszeit für die Akquisition im Rahmen seines Betriebes benötige, dann muss man sich fragen: Ist das Sinn der Veranstaltung, die wir da machen? Darüber müssen wir sprechen. Wir werden Wege finden, das ein Stück weit zu korrigieren.
Ich will abschließend feststellen: Das, was ich zu diesem Haushalt gesagt habe, klingt zuversichtlich; ich weiß das. Ich will aber ausdrücklich festhalten: Wir werden in den nächsten Jahren erhebliche Schwierigkeiten haben, mit unseren finanziellen Herausforderungen klarzukommen. Ich stehe voll hinter dem Finanzminister. Wir werden nicht von der Linie abgehen, Art. 115 des Grundgesetzes und die Maastrichtkriterien zu erfüllen. Denn wir dürfen und wir können uns das nicht leisten. Das wäre insgesamt für dieses Land schlecht.
Deshalb sage ich: Das wird riesige Herausforderungen mit sich bringen, und zwar für alle Bereiche und nicht nur für diesen Etat, der nun einmal im Haushalt einen großen Raum einnimmt. Für dieses Jahr haben wir eine gute, reelle und insgesamt akzeptable Leistung in diesem Haushalt für diesen Bereich aufgestellt.
Wir werden in den nächsten Jahren auf allen Ebenen zusätzliche Anstrengungen brauchen; das kann man schon heute absehen. Deshalb sage ich: Die Anstrengungen werden auch in den nächsten Jahren bleiben. Aber ich bin ganz sicher: Wir werden in dieser Koalition gemeinsam vernünftige Wege finden, um unsere Ziele zu erreichen. Das erste Ziel ist, die Menschen in Arbeit zu bringen - das ist das Wichtigste überhaupt -, ihnen eine Chance zu geben, dass sie arbeiten können. Dann werden sich viele Probleme bei den sozialen Sicherungssystemen, insbesondere bei der Rentenversicherung, lösen.
Ich bin mit dem, was wir in dieser Koalition bis jetzt erreicht haben, hoch zufrieden. Ich sage noch einmal: Das Konzept stimmt. Wir liegen voll im Zeitplan. Wir werden in diesem Herbst nach einer intensiven Diskussion weitere wichtige Schritte tun.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner zu diesem Einzelplan hat der Kollege Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bundesminister Franz Müntefering hat bereits die Weichenstellungen dargelegt, die wir in der Koalition in den vergangenen sieben Monaten vorgenommen haben, um Arbeit für die Menschen in Deutschland zu schaffen und soziale Sicherung zu garantieren. Auch ich möchte unterstreichen: Diese Koalition, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Spitze und mit Vizekanzler Franz Müntefering, hat die richtigen Weichenstellungen für eine Belebung des Arbeitsmarkts und die soziale Sicherung der Menschen vorgenommen. Ich glaube, es ist beachtlich, welche gesetzlichen Maßnahmen wir in diesen sieben Monaten in diesem Parlament verabschiedet haben. Dabei hat es zwar viele kontroverse Diskussionen gegeben. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir in vielen Bereichen in großer Einigkeit die Grundlagen dafür geschaffen haben, dass unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest gemacht werden können und dass vor allen Dingen die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland gesteigert werden kann.
Dazu zählen auch die Regelungen zum Arbeitsmarkt, besonders das jüngst verabschiedete Fortentwicklungsgesetz zu Hartz IV. Wir müssen Arbeit für die Menschen schaffen und diese in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. Darüber hinaus müssen wir unterscheiden zwischen denen, die sich nicht selber helfen können und die unserer Unterstützung bedürfen, und denen, die es sich möglicherweise in einer sozialen Hängematte bequem machen wollen. Dies kann nicht sein und dafür haben wir klare Regelungen geschaffen.
Folgendes ist aber ebenso entscheidend - das kam bei der heutigen Debatte über den Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vielleicht ein wenig zu kurz -: Wir werden nur dann Arbeitsplätze in Deutschland schaffen können, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessert werden. Hier hat die Regierung bereits einige Maßnahmen eingeleitet. Der Effekt ist in einigen Bundesländern verstärkt festzustellen, wie zum Beispiel in Bayern. Dort wurde mittlerweile eine Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erreicht. Das ist auch ein Signal an ganz Deutschland.
Darüber hinaus werden wir die Wettbewerbsfähigkeit unseres Standorts mit Änderungen im Steuerrecht und einer wettbewerbsfähigen Unternehmensbesteuerung stärken. Viele andere Länder können für uns dafür Vorbild sein.
Heute ist ja bereits von Vorrednerinnen und Fragestellern die Frage der Standortwahl bzw. der Wohnortwahl und der damit verbundenen Besteuerung unter moralischen Gesichtspunkten angesprochen worden. Ich bin der Meinung, es müsste für uns ein Ansporn sein, bei uns ein wettbewerbsfähiges Steuerrecht zu schaffen, weil dann die Unternehmen ihre Steuern in Deutschland zahlen.
Das kann man nicht unter moralischen Gesichtspunkten sehen. Aber offensichtlich gibt es in diesem Bereich eine starke Doppelmoral. Ich möchte jetzt die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Linken oder der PDS-Fraktion oder der WASG oder der SED - die wechseln ja die Namen so häufig, dass im Vergleich dazu ein Chamäleon fast ein uniformes Tier ist -
fragen, wieso dann die SED-Millionen nach Österreich verschoben worden sind. Das muss ich Sie schon fragen.
Dass gerade Sie auf diese Weise moralisch über andere urteilen, ist meines Erachtens fehl am Platze.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Straubinger, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, trotz der folgenden namentlichen Abstimmung etwas mehr Ruhe zu bewahren und Ihre Aufmerksamkeit dem Kollegen Max Straubinger zu widmen, der Wichtiges zu sagen hat.
Bitte schön, Herr Straubinger.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Danke schön, Herr Präsident.
Ich glaube, es ist vor allen Dingen entscheidend, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes stärken. Da haben wir sicherlich noch einige Baustellen zu bearbeiten.
Es geht aber noch um einen anderen Punkt; auch das ist heute bereits angeklungen. Natürlich beklagen wir den Verlust jedes Arbeitsplatzes, sowohl in kleinen als auch in großen Unternehmen. Aber bei den Entscheidungen der Unternehmen geht es darum, den Bestand dieser Unternehmen für die Zukunft zu sichern. Wenn sie in der Zukunft nämlich nicht bestehen könnten, dann hätten wir noch eine weit höhere Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Dies zu verhindern, muss unsere gemeinsame Aufgabe sein.
Ich möchte mich auch mit einem der beiden Änderungsanträge der Linken auseinander setzen, der vordergründig den Eindruck vermittelt, man brauche nur nach Geld zu rufen und es dann zu verteilen. Wenn dieser Antrag für den Bundeshaushalt wirksam würde, dann hätten wir Mehrausgaben in Höhe von 2 Milliarden bis 3 Milliarden Euro. Sie sagen natürlich nicht, woher das Geld kommen soll.
Allein die Forderung, die Regelsätze auf 420 Euro zu erhöhen, würde Mehrkosten von über 2 Milliarden Euro verursachen. Ich bin überzeugt, dass es mit dieser Regelung noch viel uninteressanter würde, gering bezahlte Tätigkeiten in unserem Lande aufzunehmen. Das kann es nicht sein. Beim Arbeitsamt meines Wahlkreises haben sich 300 ALG-II-Bezieher freiwillig für eine landwirtschaftliche Tätigkeit gemeldet. 64 davon haben die Arbeit angetreten. Aber einen Tag später sind nur noch 20 übrig geblieben. Man muss sich also durchaus fragen, ob hier eine Arbeitswilligkeit vorhanden ist. Wir müssen uns verstärkt darum bemühen, dass es Anreize zur Arbeitsaufnahme gibt.
In dem Änderungsantrag der Linken wird weiterhin gefordert, dass die Asylbewerber in unserem Land sofort an allen Leistungen unseres Sozialstaates teilhaben sollen. Ich bin davon überzeugt, dass man dies den Beitragszahlern und den Steuerzahlern, also denjenigen, die tagtäglich zur Arbeit gehen und vielleicht nur ein geringes Einkommen haben, in keiner Weise zumuten kann. Unsere Bürgerinnen und Bürger würden eine Ausweitung des Berechtigtenkreises mit Sicherheit nicht mittragen.
Sie fordern zusätzlich unabhängige Sozialberatungsstellen. Das bedeutet aber: Sie unterstellen letztendlich unseren staatlichen Sozialberatungsstellen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit bzw. den Argen, dass sie nicht objektiv beraten bzw. Ratsuchende nicht unterstützen. Diese Forderung in Ihrem Antrag ist unerträglich.
Ich bin überzeugt: Diese Koalition ist auf einem guten Weg. Der Herr Bundesminister hat bereits sehr viele wegweisende Maßnahmen besonders im Bereich der Rente dargestellt. Ich spreche mich dafür aus, dass bei der Rente die private Vorsorge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestärkt wird. Ich wünsche mir auch, dass das Wohneigentum bei der Förderung hinsichtlich der privaten Vorsorge einen besonderen Stellenwert bekommt.
Wir werden mit unseren Vorschlägen den Sozialstaat weiter festigen und im Sinne der Hilfebedürftigen in unserem Land weiter ausbauen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 11 - Bundesministerium für Arbeit und Soziales - in der Ausschussfassung. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/1867? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1866. Zu diesem Änderungsantrag ist namentliche Abstimmung beantragt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarte abgegeben? - Noch nicht.
Ich glaube, jetzt haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarte abgegeben. Ich schließe den Wahlgang und bitte, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: Abgegebene Stimmen 569. Mit Ja haben gestimmt 49, mit Nein 520, Enthaltungen keine. Der Änderungsantrag der Fraktion Die Linke ist abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzelplan 11 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 11 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.13 auf:
a) Einzelplan 17
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
- Drucksache 16/1324 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Frank Schmidt
Dr. Ole Schröder
Otto Fricke
Roland Claus
Anna Lührmann
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes
- Drucksache 16/1889 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Krista Sager, Kai Boris Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinder fördern und Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken - Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung ausweiten
- Drucksache 16/1673 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Außerdem rufe ich die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf:
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Lazar, Irmingard Schewe-Gerigk, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rechtsextremismus ernst nehmen - Bundesprogramme Civitas und entimon erhalten, Initiativen und Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit langfristig absichern
- Drucksache 16/1498 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Diana Golze, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Fortführung und Verstetigung der Programme gegen Rechtsextremismus
- Drucksache 16/1542 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Karin Binder, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Elterngeld sozial gestalten
- Drucksache 16/1877 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteilte als erster Rednerin das Wort der Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion.
Ina Lenke (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die finanzpolitischen Entscheidungen der großen Koalition - Mehrwertsteuererhöhung, Erhöhung der Steuern auf Benzin, die Senkung der Altersgrenze für die Beziehung von Kindergeld von 27 auf 25 Jahre; demnächst fallen auch noch höhere Kosten für die Gesundheit an - wirken sich sehr negativ auf Familien aus. Den Eltern wird das Geld aus der rechten Tasche herausgenommen und ihnen wird in die linke Tasche weniger gegeben.
Die hohe Verschuldung des Haushaltes 2006 ist - das wissen wir alle - nicht generationengerecht. Ich zeige Ihnen noch einmal das „Sparbuch“ der FDP. Wir haben viele Vorschläge gemacht, wie in diesem Haushalt Einsparungen vorgenommen werden könnten. Es wäre besser gewesen, Sie hätten sie übernommen, selbst wenn es nur einige gewesen wären.
Was wir heute erleben, kann als Tauschgeschäft zulasten von Familien in Deutschland beschrieben werden. Das Gesetz zur Einführung des Elterngeldes, über das wir heute beraten, soll die familienfreundliche und kinderfreundliche Politik der großen Koalition postulieren. Das ist aber nur ein Baustein, der allein nicht greifen wird. Die Forderung nach einer bundesweit qualitativ guten Kinderbetreuung hat für viele Familien und Eltern einen höheren Stellenwert als die Zahlung eines Elterngeldes für die Dauer von zwölf Monaten, wenn die anschließende Kinderbetreuung fehlt. Ohne anschließende Kinderbetreuung wird das Elterngeld nur ein nettes Starterpaket für Familien sein. Danach schnappt die Kinderbetreuungsfalle zu.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits im April dieses Jahres einen Antrag dazu eingebracht. Was wir brauchen, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist eine Allianz für Familien mit Wahlfreiheit bei der Lebensgestaltung und mehr Freiraum für Familien mit Kindern.
Die bisherige Organisation der staatlichen Kinderbetreuung ohne Markt und Wettbewerb hat zu starren Öffnungszeiten geführt, die zu den flexiblen Arbeitszeiten, die wir heute haben, überhaupt nicht passen. Das ist in den neuen Bundesländern etwas anders. Wir schauen manches Mal sehr neidisch dorthin. Wer als Mutter aus dem Büro zum Kindergarten hastet,
weil dieser mittags pünktlich schließt, kennt den Druck, dem Eltern tagtäglich ausgesetzt sind.
Frau von der Leyen, wenn Ihr Ziel der Dreiklang aus guter Infrastruktur, familienfreundlicher Arbeitswelt und passgenauen finanziellen Leistungen sein soll, dann hätten Sie heute neben dem Konzept zum Elterngeld ein Konzept zur Anschlussbetreuung vorlegen müssen.
In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, endlich einen Kinderbetreuungsgipfel einzuberufen. Die Bundesregierung, die Bundesländer, die kommunalen Spitzenverbände und Kommunen haben sich lange genug gegenseitig den schwarzen Peter zugeschoben, und das auf dem Rücken der jungen Eltern.
Ein Wort zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der die Forderung nach mehr Kinderbetreuung enthält. Damit kommen Sie zwei Legislaturperioden zu spät.
Sie haben in der rot-grünen Bundesregierung anscheinend geschlafen und wachen erst in der Opposition auf.
Die FDP-Bundestagsfraktion erwartet von der Bundesregierung, dass die gesamte Familienförderung auf den Prüfstand gestellt wird. Sie muss vereinfacht und transparent werden. Obwohl in Deutschland mehr als 100 Milliarden Euro für Leistungen für Familien ausgegeben und erbracht werden, haben wir in Europa eine der niedrigsten Geburtenraten.
Frau von der Leyen, ich sage auch für mich persönlich: Die ersten Informationen zum Elterngeld klangen sehr viel versprechend. Denn der Idee einer Lohnersatzleistung für Berufstätige stehe ich grundsätzlich positiv gegenüber. Doch ein Paradigmenwechsel in der Familienpolitik ist das nicht.
Weshalb?
Erstens. Teilzeit in der Erziehungszeit wird zu zwei Dritteln auf das Elterngeld angerechnet. Das Ergebnis ist, dass wir nur eine scheinbare Wahlfreiheit haben. Denn kaum jemand wird für ein Drittel des Nettolohnes in der Elternzeit arbeiten gehen wollen.
Zweitens. Das Elterngeld als Lohnersatzleistung: Dieses Prinzip wird oft durchbrochen. Festbeträge werden als Mindestelterngeld gezahlt. Bei ALG-II-Empfängerinnen greift das Elterngeldprinzip - Sie nennen es: Entlohnung, um das Kind zu Hause zu betreuen - nicht. Ob das richtig ist und damit richtigerweise in dieses Gesetz aufgenommen wurde, wage ich zu bezweifeln.
Drittens. Unverheiratete Paare mit Kindern sowie Alleinerziehende werden durch dieses Gesetz nur mit 600 Euro beglückt, während Ehepaare zusätzlich zu den je 300 Euro monatlich in den Genuss der Vorteile aus dem Ehegattensplitting kommen.
Wir haben die Kritik gehört, dass es als Ergebnis des Elterngeldes zu Einsparungen bei ärmeren Familien kommt. Mit welcher Begründung greift bei der Geburt des zweiten Kindes innerhalb von 24 Monaten eine neue Elterngeldberechnung? Warum orientieren Sie sich nicht an der Arbeitsplatzgarantie von 36 Monaten, die Frauen die Rückkehr in den Beruf absichern soll?
Hinsichtlich der Stichtagsregelung kritisieren viele Eltern eine fehlende Übergangsregelung. Die Geringverdienerregelung - ich hätte sie Ihnen gern vorgelesen, aber die Zeit reicht dafür nicht aus - ist derart bürokratisch, dass man sich wirklich darüber kaputtlachen kann.
Der Prozentsatz erhöht sich von 67 Prozent um 0,1 Prozent für je 2 Euro, um die das maßgebliche Einkommen den Betrag von 1 000 Euro unterschreitet, auf bis zu 100 Prozent. Dazu wird es extra ein Buch mit 40 bis 50 Seiten geben müssen, damit die Leute diese Regelung überhaupt verstehen. Ich will nur ganz kurz darauf hinweisen: Für Personen mit der Steuerklasse V ist das ganz schrecklich. Eine Frau mit Steuerklasse V erhält nur 630 Euro Elterngeld pro Monat, während eine Frau mit Steuerklasse III 1 020 Euro bekommt.
Wir werden uns in den Beratungen sehr mit Ihrem Antrag und Ihrem Konzept des Elterngeldes auseinander setzen. Aber eines ist schon heute klar: Ohne verlässliche Kinderbetreuung gibt es in der Familienpolitik keinen Paradigmenwechsel.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundesfamilienministeriums hat für das nächste Jahr einen Aufwuchs von 1 Milliarde Euro bekommen. Das ist ein Quantensprung. Als ich die Debatten der letzten Tage verfolgt habe, habe ich wahrgenommen, dass diese Mehrausgaben in Höhe von 1 Milliarde Euro für das Elterngeld teilweise von Kritik begleitet wurden. Den Kritikern sei gesagt: Allein durch den Rückgang der Geburtenrate haben die Finanzminister dieses Landes seit dem Jahre 1997 stillschweigend weit über 1 Milliarde Euro gespart, und zwar deswegen, weil weniger Kindergeld gezahlt werden musste. Von kindbezogenen Sozialleistungen, Freibeträgen und Ausbildungskosten will ich gar nicht erst sprechen. Da kommen Milliardenbeträge zusammen. Aber um welchen Preis? Es geht um die Lebensoptionen und Zukunftsvorstellungen einer Gesellschaft. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, die richtigen Schwerpunkte zu setzen. Das erfordert haushaltspolitisch einen Kraftakt. Aber das ist die richtige und zeitgemäße Investition.
Zu den Zahlen: Das Erziehungsgeld hat im Jahre 2005 - das sind die jüngsten Zahlen, die vorliegen - rund 2,9 Milliarden Euro gekostet. Für das Jahr 2007 sind die Ausgaben für das Elterngeld mit 3,5 Milliarden Euro beziffert; wir liegen also unter Soll. In 2008 sind 4,4 Milliarden Euro eingeplant, weil sich in diesem Jahr das auslaufende Erziehungsgeld und das Elterngeld überlagern. Das ist aber ein Einmaleffekt. Ab 2009 betragen die Kosten für das Elterngeld, wie verabredet, 3,9 Milliarden Euro.
Weil ich des Öfteren die Kritik gehört habe, das Gesamtvolumen des Elterngeldes könne steigen, sage ich Ihnen: Sollte es in späteren Jahren tatsächlich steigen, wäre das das Beste, was diesem Land passieren kann. Denn das würde bedeuten, dass mehr Kinder geboren werden und ihre Eltern Arbeit haben.
Herr Westerwelle hat gestern darauf hingewiesen, dass jedes Kind gleich viel wert ist. Da hat er völlig Recht. Aber das Elterngeld ist keine kindbezogene Leistung.
Es ist kein Kindergeld, sondern eine elternbezogene Leistung.
Es berücksichtigt den Umstand, dass junge Menschen, die ein Kind bekommen und sich für ihr Kind Zeit nehmen, im Vergleich zu ihren Berufskollegen Einkommen verlieren.
Die Einführung des Elterngeldes verdeutlicht, dass Kinder nicht nur ein großes Glück für ihre Eltern und Geschwister sind, sondern auch ein großer Gewinn für dieses Land. Wenn sich - aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr alle Menschen für Kinder entscheiden, aber alle auf die nachwachsenden Generationen bauen, dann können auch alle aus Steuermitteln dazu beitragen, dass der Einkommensverlust der Eltern am Anfang der Erziehungszeit ausgeglichen wird.
Herr Gysi hat gestern von den Besserverdienenden gesprochen. Ich möchte darum bitten, auch in diesem Zusammenhang erst einmal die Realität zur Kenntnis zu nehmen:
98 Prozent aller Frauen, die sich im 30. Lebensjahr befinden - im Durchschnitt bringen Frauen in Deutschland in diesem Alter ihr erstes Kind zur Welt -, haben Nettoeinkommen, die unterhalb der Obergrenze liegen, die für die Förderung durch das Elterngeld vorgesehen ist. So gering sind eben die Einkommen am Anfang des Berufslebens. Dennoch werden die Kinder in diesem Alter geboren. Durch das Elterngeld wird dieser Einkommenseinbruch abgefangen. Das ist richtig.
Ich bin froh, dass es uns - auch dank der breiten Unterstützung aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik - gemeinsam gelungen ist, das Elterngeld auf den Weg zu bringen. Es wird allen Eltern nützen, die sich im ersten Lebensjahr ihres Kindes Zeit für ihr Neugeborenes nehmen und auf Einkommen verzichten. Die Einführung des Elterngeldes ist aber auch ein klares Signal, dass es von der Gesellschaft akzeptiert ist, Kontakt zum Berufsleben zu halten und später in den Beruf zurückzukehren.
Grundsätzlich sind Eltern zunächst einmal selbst für die Sicherung des Lebensunterhalts der Kinder verantwortlich. Nur dann, wenn sie dies nicht selbst schaffen, ist das die Aufgabe des Sozialstaates, allerdings nicht die des Elterngeldes. Deshalb ist es konsequent, die Kernleistung auf ein Jahr zu begrenzen.
Das Elterngeld wird an Vater oder Mutter für maximal 14 Monate gezahlt. Sie können diesen Zeitraum frei untereinander aufteilen. Allerdings können von einem Elternteil höchstens 12 Monate in Anspruch genommen werden, die zwei weiteren Monate sind für den anderen Partner reserviert. Das hat enorme Diskussionen ausgelöst. Aber diese Diskussionen haben Sinn gemacht.
Sie haben nämlich die längst überfällige Debatte über die Rolle des Vaters in der Kindererziehung ausgelöst und die Frage nach seiner Möglichkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Mittelpunkt gerückt. Die Partnermonate sind eine echte Option; das heißt, man kann sie nehmen oder es lassen. Ersetzt wird nur ausfallendes Einkommen, und zwar zu 67 Prozent, maximal 1 800 Euro. Damit stärken wir auch den Vätern den Rücken, die sich Zeit für ihr eigenes Kind nehmen wollen. Das wird zu einem Umdenken in der Arbeitswelt führen.
Das ist auch gewollt; denn in einer modernen Gesellschaft werden Kinder ihre Väter im Alltag genauso brauchen wie ihre Mütter.
Damit erweitert sich die Interpretation des so viel genutzten Begriffs der Wahlfreiheit. Die Möglichkeit, bei den Kindern zu sein oder zu arbeiten, diese Wahlfreiheit müssen beide Geschlechter haben.
Echte Wahlfreiheit kommt vor allem den Kindern zugute; denn sie haben mehr von beiden Elternteilen.
Frau Lenke, das Elterngeld steht nicht alleine; das ist völlig richtig. Ebenso wichtig ist die Kinderbetreuung. Beides muss Hand in Hand gehen. Wenn man sich Länder anschaut wie Schweden, wo das Elterngeld vor rund 10 Jahren eingeführt worden ist, muss man feststellen, dass die Kinderbetreuung damals auch dort noch sehr lückenhaft war. Erst das Elterngeld und die Diskussion darüber haben den entscheidenden Schub zu einem flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung gebracht, von dem wir alle wissen, wer für ihn die primäre Verantwortung hat. Es war ganz interessant, in den letzten Wochen und Monaten zu beobachten, wie diese Diskussion inzwischen auch bei uns eingesetzt hat, und zwar mit voller Vehemenz. Es wird gar nicht mehr darüber diskutiert, ob wir überhaupt Kinderbetreuung brauchen, sondern nur noch, wie und wann wir sie für alle Kinder ermöglichen können.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau von der Leyen, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? - Die Frau Kollegin Haßelmann würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Ich habe nur noch vier Minuten und noch den ganzen Einzelplan vor mir.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Zeit wird gestoppt.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Dann ist es gut.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Haßelmann.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau von der Leyen, Sie vermitteln uns gerade die Vorzüge des Elterngeldes,
auch in Bezug auf die gerechte Verteilung von Elternarbeit und Erziehungsarbeit zwischen Frauen und Männern. Sie haben innerhalb der CDU/CSU ja sehr lange gebraucht, bis Sie das erkannt haben.
Meine Frage ist: Wieso unterscheiden Sie bei der vorgesehenen Regelung zwischen arbeitenden Eltern, die sich die Erziehung teilen wollen - sie sollen 14 Monate Anspruch haben, nämlich 12 plus zwei -, und Arbeitslosengeld II beziehenden Eltern, die sich die Erziehung teilen wollen und nur 12 Monate lang Elterngeld bekommen? Empfinden Sie diese Regelung nicht als zutiefst ungerecht?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Die Kernzeit ist frei aufteilbar, wie immer man es möchte. Das gilt für alle. Der 13. und 14. Monat sind eine echte Option. Ich sagte es bereits: Man kann sie nehmen oder es lassen. Das heißt, es gibt für niemanden 300 Euro Mindestelterngeld - für niemanden -, der diese Zeit nicht nimmt, und es wird in der Tat nur ausfallendes Einkommen ersetzt. Wenn kein Einkommen ausfällt, dann wird im 13. und 14. Monat auch kein Einkommen ersetzt.
Die Kernzeit von 12 Monaten bleibt unangetastet.
Ich war beim Thema Kinderbetreuung. Dazu will ich noch ankündigen, dass ich den Bericht zum Stand des Ausbaus der Kinderbetreuung Mitte Juli der Öffentlichkeit vorstellen werde.
Meine Damen und Herren, ich komme nun zum Einzelplan 17 insgesamt. Er orientiert sich an den Istergebnissen des Jahres 2005. Ab 2007 möchten wir auf Empfehlung der Berichterstatter des Haushaltsausschusses die Ausgaben für die Bereiche Familien-, Senioren- und Gleichstellungspolitik in einem Titel zusammenführen. Das entspricht einem sehr modernen Ansatz der Haushaltsführung. Es gibt dem Haus vor allem mehr Flexibilität und kommt unseren Schwerpunkten zugute.
Drei der Schwerpunkte möchte ich noch herausgreifen. Ein Schwerpunkt ist das Programm „Frühe Hilfen“. Wir werden gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen Modelle entwickeln, um frühzeitig Kindern in prekären Familiensituationen zu helfen. Wir möchten ein Frühwarnsystem einrichten, um diese Kinder rechtzeitig zu finden und gezielt Hilfe in die Familien hineinzutragen. Die Strukturen dafür haben wir bereits: Hebammen, Familienhelfer, Kinderärzte, Geburtshelfer, Kinder- und Jugendhilfe. Es gilt jetzt, sie effizienter zu vernetzen. Das Projekt „Frühe Hilfen“ ist im Kinder- und Jugendplan veranschlagt und wird mit Verabschiedung des Haushalts starten.
Der zweite Schwerpunkt ist die Stärkung des Zusammenhaltes der Generationen. Das Programm „Mehrgenerationenhäuser“ steht gewissermaßen in den Startlöchern. Ich denke, wenn die Familien kleiner und bunter werden und wir den Kreislauf des Gebens und Nehmens zwischen den Generationen mehr denn je brauchen werden, dann sind Mehrgenerationenhäuser, wenn auch nicht die einzige, aber eine sehr zeitgemäße Antwort darauf. Sie schaffen Räume, wo sich die Generationen im Alltag helfen und wo sie Kompetenzen austauschen können. Aber sie schaffen in einer modernen Gesellschaft auch einen „Marktplatz für Dienstleistungen“, die insbesondere Familien entlasten, und stellen als Marktplatz für bürgerschaftliches Engagement eine Drehscheibe dar.
Bis zum Jahr 2010 soll es in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt ein Mehrgenerationenhaus geben, insgesamt 439. Wir stellen aus Bundesmitteln 98 Millionen Euro zur Verfügung. Gleich nach Verabschiedung des Haushalts 2006 wird eine Servicestelle eingerichtet. Die erste Ausschreibungs- und Förderwelle wird noch 2006 erfolgen, eine zweite Welle im Jahr 2007.
Dritter und letzter Schwerpunkt ist das Thema „Toleranz und Demokratie“. Dieser Tage während der WM präsentiert sich Deutschland als ein weltoffenes, tolerantes Land,
in dem Menschen ganz vieler Kulturen friedlich zusammenleben. Das soll so bleiben. Wir wollen demokratisches Verhalten und ziviles Engagement in unserem Land nachhaltig stärken. Themen wie Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und jede Form von Extremismus dürfen keine Chance haben.
Die bisherigen Programme laufen plangemäß 2006 aus. Aber wie in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, wird die Bundesregierung ab 2007 mit einem neuen Programm den Weg zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie sowie gegen Rechtsextremismus konsequent weitergehen. Im Rahmen der Aufstellung des Haushalts 2007 planen wir mit einem gleich hohen Betrag wie in 2006.
Abschließend darf ich zusammenfassen: Ich denke, der Haushalt des Einzelplans 17 setzt die richtigen Schwerpunkte für Kinder, für Eltern und für den Zusammenhalt der Generationen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Verehrter Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Rängen und zu Hause! Enttäuschend, Frau Ministerin von der Leyen! Ich habe Ihnen mehrfach versprochen - und ich halte mich an Versprechen - sowohl Ihre Worte als auch Ihre Taten einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen. Die Einführung des Elterngeldes als Lohnersatzleistung ist prinzipiell eine positive Entwicklung in der Familienpolitik und findet unsere Unterstützung. Aber eine Neuorientierung in der Familienpolitik darf nicht aus einer Umverteilung von Arm nach Reich bestehen.
Deshalb bekräftige ich mit Nachdruck unsere Forderung: Das Gesetz zur Einführung eines Elterngeldes muss weiter sozial ausgestaltet werden.
Mit dem Elterngeld soll die berufliche Eigenständigkeit der Frauen gestärkt und gesichert werden, die Väter sollen für die Betreuung von Kindern in die Pflicht genommen werden. Deshalb ist das Elterngeld weder eine Kinderförderung noch eine Kinderprämie. Ich erwähne das an dieser Stelle, weil das in den Medien immer gerne vermengt wird. Das Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung; sie beträgt zwei Drittel des bisherigen Nettolohns.
Etwas mehr Mühe bedarf es schon, die gut verpackten Unzulänglichkeiten im Elterngeldgesetz herauszufinden. Frau von der Leyen, das Elterngeldkonzept ist eine familien- und sozialpolitische Mogelpackung zulasten der Einkommensschwachen, der Alleinerziehenden und der Empfänger von Arbeitslosengeld II.
Darüber verlieren Sie in der Öffentlichkeit allerdings kein Wort. Diese Unehrlichkeit wird mit Aussprüchen gepaart wie „Eins zu null für die Familien: Das Elterngeld kommt“
oder „Heute ist ein guter Tag für Familien“.
Das zeigt, wie arrogant Macht sein kann. Der zuletzt zitierte Satz hat mich doch stark an den Ausspruch des Sachverständigen Hartz erinnert, der bei der Vorstellung seiner Gesetzesinitiativen gesagt hat: Ein guter Tag für Arbeitslose. - Was daraus geworden ist, können wir alle hier unumwunden sehen.
Es gab Nachbesserungen und Verschärfungen zulasten der Betroffenen. Ein solcher Satz ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen und an Zynismus kaum zu überbieten.
Petitionen, die von mehr als 10 000 Bürgerinnen und Bürgern mitgetragen werden und Unmengen an Briefen, Mails und Stellungnahmen belegen, dass der Umfang der Regelungen zum Elterngeld schon jetzt Unsicherheit bei den Eltern hervorruft. Sie aber, Frau von der Leyen, gehen wie immer charmant lächelnd darüber hinweg, obwohl diese Ungerechtigkeiten nach wie vor auf der Tagesordnung sind.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Wunderlich, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kressl?
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Aber gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Kressl.
Nicolette Kressl (SPD):
Herr Kollege Wunderlich, ich finde sehr interessant, dass Sie darauf hinweisen, dass es mehrere tausend Petitionen zum Elterngeld gibt. Ich hoffe, es ist Ihnen bewusst, dass alle diese Petentinnen und Petenten wollen, dass sie das Elterngeld so schnell wie möglich bekommen. Ich bitte Sie dringend, hier nicht den Eindruck zu erwecken, als sei die Anzahl dieser Petenten ein Indiz dafür, dass sie mit unserer Regelung unzufrieden sind. Das Gegenteil ist der Fall.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Sie dürfen aber nicht übersehen, dass ein sehr großer Prozentsatz gerade die Stichtagsregelung anprangert.
Darauf komme ich nachher noch zu sprechen. Es wird aber auch kritisch gefragt: Was ist mit dem Elterngeld? Wieso werde ich schlechter gestellt? Warum bekomme ich nicht die Leistungen, die andere bekommen? - Man muss die Petitionen und die Schriftstücke auch einmal lesen.
Diese Fragen stellt sich zum Beispiel ein Empfänger von ALG II, der bisher 24 Monate lang 300 Euro monatlich an Erziehungsgeld bekam und jetzt plötzlich nur noch 12 Monate lang 300 Euro Elterngeld erhält, ohne dabei die Aussicht auf Arbeit zu haben.
- Ja. Sie selbst sagen aber, der Grundbetrag werde als Anerkennung für die Erziehungsleistung gezahlt.
Die Anerkennung der Erziehungsleistung von Empfängern des Arbeitslosengeldes II scheint also weniger wert zu sein. Das gilt auch für die Erziehung der Kinder, die vor dem 1. Januar 2007 geboren wurden bzw. werden.
Das Elterngeld gibt jungen Müttern - ich zitiere unsere Ministerin - einen Schonraum, sich ohne finanziellen Druck Zeit für ihr Neugeborenes zu nehmen.
- Frau Humme, ich kenne Ihre Meinung. - Am stärksten benachteiligt ist doch die allein erziehende Empfängerin von ALG II. Sie kann sich noch nicht einmal auf die Ausnahmeregelung, die Möglichkeit der Verlängerung, berufen. Das haben Sie vorhin ja noch einmal ausgeführt, Frau von der Leyen. Ich frage Sie: Wie muss sich diese Betroffene fühlen?
Ich wiederhole es mit Nachdruck: Das Elterngeld bleibt sozial unausgewogen. 15 Prozent aller jungen ostdeutschen Mütter sind arbeitslos und suchen eine Beschäftigung, finden aber keine. Mit dem Elterngeldgesetz wird ihnen zusätzlich die Hälfte der sozialen Sicherheit, nämlich die Hälfte der Leistungen nach dem gegenwärtigen Bundeskindergeldgesetz, genommen. Zusätzlich erhöht die Regierung ab Januar 2007 die Mehrwertsteuer, ohne auch nur im Geringsten über Ausgleichsleistungen nachzudenken. Eins zu null, Frau von der Leyen. Ich frage mich nur: Für wen?
Ein Wort zur Stichtagsregelung; ich habe das schon angesprochen. Ich frage Sie: Ist die Erziehungsleistung von Eltern, deren Kinder vor dem 1. Januar 2007 geboren wurden bzw. werden, weniger wert als die der Eltern, deren Kinder nach dem 1. Januar 2007 geboren werden?
Wir haben immer angemahnt, dass Frauen, die bereits schwanger sind - Frau von der Leyen, ich gehe einmal davon aus, dass Sie wissen, wie lange eine Schwangerschaft dauert; das weiß sogar ich -, nicht wissen, was ab dem 1. Januar 2007 auf sie zukommt. Sie haben sich Zeit genommen. Das Thema war in der Diskussion, aber es kam keine Information, wann was passiert. Jetzt aber soll das Gesetz ruckzuck vor der Sommerpause beschlossen werden, ohne jede Übergangsregelung für Sonder- und Extremfälle.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Wunderlich, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kucharczyk von der SPD?
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Ja.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte.
Jürgen Kucharczyk (SPD):
Herr Kollege Wunderlich, teilen Sie die Auffassung, dass die Zielsetzung von Kindergeld und Elterngeld unterschiedlich gelagert ist?
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Ja. Vom Kindergeld rede ich hier auch nicht.
Jürgen Kucharczyk (SPD):
Aber Sie verwechseln scheinbar etwas.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Nein, ich verwechsele nichts.
Jürgen Kucharczyk (SPD):
Es hört sich so an.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Gucken Sie in die Statistik und fragen Sie im Ministerium nach!
Frau von der Leyen, was hindert Sie in Ihrem Demokratieverständnis daran, ein Wahlrecht zwischen der bisherigen Regelung und dem Elterngeld einzuräumen?
Beim Mindestelterngeld fordern wir mit allem Nachdruck eine Anhebung und Nachbesserung. Greifen Sie aber dabei nicht wieder, wie es bislang immer wieder geschehen ist, den Ärmsten in die Tasche!
- Mein Gott, Frau Humme, Sie wissen ja schon selber nicht mehr, was Sie tun.
Aber was soll man von der Regierung auch anderes erwarten? Bei der satten Mehrheit in allen Gremien und Ausschüssen ist Kritik im Grunde aussichtslos; sie wird abgebügelt.
- Doch, der kommt noch. Die Frage ist nur, bei wem.
Wenn Sie immer wieder halbherzig auf unsere Nachbarländer verweisen, zum Beispiel auf Schweden, dann können Sie das nicht einfach aus dem Kontext herausreißen.
Erwähnen Sie bitte alles. In Schweden ist das Elterngeld nämlich eine Versicherungsleistung, in Deutschland ist es steuerfinanziert. Sie verschweigen, dass die finanzielle Unterstützung hier immer wieder vom Geldbeutel der Eltern abhängig gemacht wird. - Eins zu null für die Familie. Fragt sich nur, für welche.
Wie klingt denn Ihr ständig zitierter Dreiklang zur Familienpolitik, Frau von der Leyen? Bei dem vorliegenden Gesetzesentwurf ist es gegenwärtig für mich bestenfalls eine Kakophonie. Selbstredend macht das Elterngeld allein noch keine gute Familienpolitik aus. Es muss darum gehen, gesellschaftliche Verantwortung für Familien mit zu übernehmen. Notwendig ist eine kostenlose und hochwertige Ganztagsbetreuung für Kinder und Jugendliche.
Das ist nicht nur eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern ein bildungspolitisches Muss.
Elternschaft muss lebbar werden. Das heißt auch, über Arbeitszeitverkürzung und das neue Leitbild der partnerschaftlichen Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit zu reden.
Noch eine Bemerkung zu den so genannten Papa-Monaten.
Ich schlage das Wort „Wickelvolontariat“ - Originalton Ramsauer - zur Wahl des Unwortes 2006 vor. So wie Sie derzeit Familienpolitik betreiben, Frau von der Leyen, wird sie nicht zu einer stärkeren Familienfreundlichkeit führen.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schmidt von der SPD-Fraktion.
Dr. Frank Schmidt (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wunderlich, es ist wirklich verwunderlich, dass Sie Funktion und Sinn des Elterngelds offensichtlich nicht verstanden haben. Denn obwohl Sie einerseits sagen, dass eine Lohnersatzleistung - was es nun einmal ist - richtig ist, sprechen Sie andererseits davon, dass es eine Transferleistung sein soll. Das passt nicht zusammen.
Sie haben offensichtlich nicht verstanden, um was es geht und welche Zielrichtung wir verfolgen.
Aber ich möchte jetzt auf den Haushalt für Familien, Senioren, Frauen und Jugend zu sprechen kommen, den wir heute beraten. Dieser Haushalt zeichnet sich gegenüber fast allen anderen Einzelplänen dadurch aus, dass so gut wie keine Kürzungen vorgenommen wurden. Dies ist eine klare Zielsetzung der Koalition, die ihre Gründe hat: Wir wollen eine konsequente und - das ist für die Opposition sicherlich etwas weniger problematisch - eine solide finanzierte Fortentwicklung der Familienpolitik. Das ist ein Markenzeichen auch dieser Koalition.
Im Übrigen leben wir - auch darauf muss an dieser Stelle hingewiesen werden - in einer gewissen Kontinuität. Uns Sozialdemokraten freut es natürlich besonders, dass dies eine konsequente Fortentwicklung der erfolgreichen Politik von Renate Schmidt darstellt. Ich will zwei Beispiele für diese Kontinuität anführen.
Zum einen gibt es schon an 564 Standorten 308 Teilnehmer an lokalen Bündnissen für Familien. Das ist ein Erfolg. Das zeigt: Es ist ein erfolgreiches Programm. Wir haben es gestartet. Es wird fortgeführt und das ist gut so.
Was uns Sozialdemokraten bei der Familienpolitik ebenfalls freut, ist die Tatsache, dass das Tagesbetreuungsausbaugesetz heute von allen, auch von unseren neuen Freunden, wie es so schön heißt, gern hervorgehoben und nach außen hin positiv dargestellt wird. Das freut uns; denn es zeigt, dass das Gezocke, das es einmal darum gegeben hat - das hat uns wirklich lange Nächte gekostet -, nun von Erfolg gekrönt ist. Es ist ein gutes Gesetz. Die Ausgestaltung wird die Koalition vornehmen.
Wichtig ist auch, dass mit dem Haushalt 2006 einige Akzente gesetzt werden. Wir sind zum einen, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, den Kurs im Bereich des Zivildienstes in vollem Umfang weitergefahren, und zwar so, wie wir es mit dem Haushalt 2005 begonnen haben.
Sicherlich wird dies von dem einen oder anderen in der Opposition nicht so gesehen. Das liegt an der anderen politischen Ausrichtung. Aber es ist eine klare Willenserklärung der Koalition, diesen Weg fortzusetzen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, all denjenigen ein herzliches Dankeschön zu sagen, die in unserem Land Zivildienst leisten und damit einen ganz wichtigen, elementaren Beitrag für unser Gemeinwesen leisten. Er ist gar nicht wegzudenken; das wissen wir. Deshalb ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle.
Was auch festgestellt werden muss, ist die Tatsache, dass wir insbesondere die Förderung von Kindern und Jugendlichen weiter verstetigt haben. Der Kinder- und Jugendplan ist mit einem leichten Anwachsen - das hat Frau Ministerin von der Leyen eben schon gesagt - weiter verstetigt worden. Wir haben das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr weiter ausgebaut.
Es ist eine klare Aussage dieser Koalition, dass wir hier eine Priorität setzen. Das ist auch gut so.
Ich möchte einen weiteren Bereich anführen, in dem wir unsere Programme fortführen. Entimon und Civitas, die Programme gegen Rechtsextremismus, werden sowohl in diesem Jahr als auch in den nächsten Jahren auf gleichem Niveau wie in 2005 fortgeführt. Auch dazu hat es schon eine klare Aussage der Koalition gegeben.
Diese Aussage ist maßgeblich für zwei Anträge vonseiten der Grünen und der Linken, die heute auch zur Debatte stehen. Darin wird etwas gefordert, was die Koalition schon längst umgesetzt hat. Damit sind diese Anträge gegenstandslos. Die Regierung braucht keine Nachhilfe, wenn es um den Einsatz gegen rechts geht.
Nach der Statistik vom April dieses Jahres waren im vergangenen Jahr rund 814 Straftaten politisch rechts motiviert. Wir werden daher keineswegs nachlassen, auf diesem Gebiet entschieden tätig zu werden. Die mobilen Einsatzteams, die Opferberatungsstellen und die Netzwerkstellen, zum Beispiel im Programm Civitas, aber auch die vielen Projekte vor Ort, gerade auch im Osten, leisten eine herausragende Arbeit. Wir sind es uns, unserer Gesellschaft, Europa und der Welt schuldig, dass wir hier aktiv und demonstrativ tätig werden. Das werden wir auch weiterhin tun.
Noch ein paar Worte zur Weiterentwicklung der Familienpolitik. Die SPD-Bundestagsfraktion hat hierzu eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die, von Nicolette Kressl und Bärbel Dieckmann geleitet, bis zum Ende dieses Jahres konkrete Vorschläge vorbereiten wird, wie die Kinderbetreuung in unserem Land ausgebaut und finanziert werden kann. Dies, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist eine andere Vorgehensweise, als wir es heute gehört haben, Frau Lenke, auch eine andere Vorgehensweise, als es dem einen oder anderen Antrag hier im Parlament entspricht.
Wir sind der Meinung, dass es nicht richtig ist, mit fadenscheinigen Anträgen - ohne Sicherstellung der Finanzierung und ohne klare Beachtung der Verfassungsstruktur in diesem Lande - Erwartungen bei Eltern zu wecken, die man nicht einmal ansatzweise befriedigen kann.
Wir erwarten von Ihnen konkrete Vorschläge, aus denen hervorgeht, wie so etwas umgesetzt werden kann, und nicht wohl meinende Anträge, in denen noch nicht einmal ansatzweise die Finanzierung erwähnt wird.
Es ist zwar das Vorrecht der Opposition, Dinge zu fordern, die die Regierung nicht einhalten kann. Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, müssen dann damit rechnen, dass solche Anträge wie der vorliegende hier keine Mehrheit finden. Das ist auch gut so; denn wir wollen, dass die zukünftige Familienpolitik praxistauglich und voll durchfinanziert ist. Wir werden entsprechende Vorschläge machen. Das sind wir den Eltern in diesem Lande schuldig. Wir dürfen keine Erwartungen wecken, die wir nicht erfüllen können.
Zum Schluss meiner Ausführungen zum Einzelplan 17, den wir heute verabschieden, ein Dankeschön von mir, dem Hauptberichterstatter im Haushaltsausschuss, an die Kolleginnen und Kollegen sowie an Sie, Frau Ministerin, für die gute Zusammenarbeit.
- Ich finde es schön, dass auch die CDU/CSU applaudiert. Es hat Gründe, dass ich das erwähne. - Frau Ministerin, wir Sozialdemokraten finden es gut, dass Sie einen Beitrag dazu leisten, dass die Union endlich in der familienpolitischen Realität ankommt; das ist wichtig.
Dazu kann jeder einen Beitrag leisten.
Ein Dankeschön meinerseits auch an Ihre beiden Staatssekretäre sowie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses, Frau Ministerin. Alle Berichterstatter haben erlebt, wie informativ und schnell im Haushaltsausschuss gearbeitet worden ist. Deswegen ein Dankeschön meinerseits an die Mitberichterstatter. Das macht Mut und Hoffnung, dass die bald anstehenden Haushaltsberatungen 2007 in gleicher Weise ablaufen werden.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Fokus der heutigen Debatte steht das Elterngeld. In eine Sitzungswoche, in der wir über die Finanzen reden, passt das gut. Es ist aber auch höchste Zeit, erstmalig über den Gesetzentwurf zum Elterngeld zu beraten; denn er soll nach der Sommerpause beschlossen werden - apropos: Herr Wunderlich, es gibt übrigens zuvor noch eine Fachanhörung - und das Gesetz soll 2007 in Kraft treten. Bislang konnten sich junge oder werdende Eltern kein Bild über die Regelung machen. Ein Bild über die Arbeitsweise dieser Koalition konnte man sich sehr wohl machen. Sie haben monatelang darüber gestritten. Es ging zwischen den beiden Koalitionsfraktionen hin und her wie bei einem Pingpongspiel. Letztendlich kam ein kritikwürdiger Gesetzentwurf heraus, ein Entwurf, der sozial unausgewogen und vor allem wenig stringent ist.
Das ist mehr als bedauerlich; denn das Elterngeld an sich ist sehr unterstützenswert, genauso wie die damit verfolgten Ziele.
Da die Ziele in dieser Debatte bislang noch nicht deutlich genug benannt worden sind, werde ich es tun. Das erste Ziel muss sein, durch finanzielle Förderung einen Beitrag zur Sicherung des Lebensstandards in der ersten Erziehungsphase zu leisten und gleichzeitig mit einer klar begrenzten Bezugszeit im Anschluss einen Erwerbsanreiz zu setzen. Das Ziel des Elterngeldes ist also, dass Mütter und Väter möglichst schnell in den Beruf zurückkehren. Gerade weil sich viele junge Mütter und Väter das wünschen und darauf angewiesen sind, ist ein solches Instrument wichtig. Aber das alleine reicht nicht. Wir brauchen nicht nur das Elterngeld - eine gute Idee -, sondern vor allem auch eine Betreuungsinfrastruktur. Aber hier haben wir in Deutschland die größten Defizite.
Ohne eine ausreichende Betreuungsinfrastruktur wird das Elterngeld nicht wirken. Es wird komplett ins Leere laufen. Gerade an diesem entscheidenden Punkt haben Sie bislang versagt.
Beim Thema Ausbau des Betreuungsangebots spielen Sie auf Zeit. Die vielen kleinen Punkte, die Sie angesprochen haben, zeigen mir nur, dass Ihnen ein familienpolitisches Gesamtkonzept fehlt. Das vermisse ich bei allem, was Sie sagen. Sie haben uns bislang keinen familienpolitischen Weg in das 21. Jahrhundert aufgezeigt. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen machen in unserem vorliegenden Antrag deutlich, wie es gehen kann. Mit unserer Idee einer Kinderbetreuungskarte zeigen wir auf, wie man verbindlich und zeitnah eine Regelung zum Ausbau des Betreuungsangebots veranlassen kann. Durch einen Rechtsanspruch und eine zweckgebundene Geldleistung sichern wir nicht nur den Ausbau des Kinderbetreuungsangebots vor Ort, sondern schaffen auch die Rahmenbedingungen für das Gelingen des Elterngeldes.
Sie von der FDP kritisieren uns und sagen, das reiche nicht. Ich frage Sie: Warum haben Sie sich bei der Abstimmung über den Entwurf eines Tagesbetreungsausbaugesetzes nur enthalten und nicht mit uns gestimmt? Es wäre doch besser gewesen, wenn Sie hier mehr Willen gezeigt hätten, anstatt nur zu kritisieren.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Deligöz, Sie erlauben die Zwischenfrage der Kollegin Lenke. - Bitte schön, Frau Lenke.
Ina Lenke (FDP):
Frau Deligöz, wenn vom Bund ein Gesetz gemacht wird, das nur die Kommunen belastet, dann ist unsere Enthaltung sehr gerechtfertigt. Ich habe die Sorge, dass im Bundestag wieder Gesetze und Regelungen formuliert werden, die andere bezahlen müssen. Deshalb war unsere Enthaltung sehr notwendig. Ich frage Sie, ob Sie diese Argumentation verstehen.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Lenke, ich verstehe sie nicht. Ich verstehe sie auch deshalb nicht, weil wir Politikerinnen und Politiker politische Antworten geben müssen.
Die politische Antwort an diesem Punkt Kinderbetreuung ist, dass der Bund über das Kinder- und Jugendhilferecht - § 24 des SGB VIII - für die Betreuungsinfrastruktur zuständig ist.
Wir sind zuständig. Deshalb können auch nur wir diese Gesetze machen.
Wenn wir in diesem Land etwas bewegen wollen, wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir zu dieser Verantwortung stehen und können uns nicht davor drücken. Anstatt unzählige Argumente dafür aufzuzählen, dass wir das nicht können, sollten wir nach Wegen suchen, wie es uns gelingen kann. Von Ihnen kam bisher kein Vorschlag dazu.
Wir haben einen Vorschlag. Er ist verfassungsrechtlich möglich. Er ist zeitnah umsetzbar. Er ist vor allem so gestrickt, dass wir ihn auch finanzieren können. Wir wollen das über die Umwandlung des Ehegattensplittings in ein Individualsplitting finanzieren.
Das Geld wollen wir dafür verwenden, den Eltern mehr Nachfragemacht zu verleihen sowie die Kommunen und die Länder vor Ort zu stärken, die Kinderbetreuung auszubauen. Das kann uns gelingen, wenn der politische Wille da ist. Diesen politischen Willen vermisse ich an diesem Ort.
Das Gleiche gilt für den Betreuungsausbau: Wenn der politische Wille da ist, dann kann es uns gelingen. Aus Ihren Reden, Frau von der Leyen und Herr Singhammer - ich könnte auch noch andere nennen -, höre ich immer wieder heraus: Sie wollen es. Aber warum tun Sie es dann nicht? Wenn Sie der Überzeugung sind, dass wir mehr Angebote für Kinderbetreuung brauchen, dass es in dem Bereich qualitative und quantitative Defizite gibt, warum dann diese Abwartetaktik? Warum führen Sie den Rechtsanspruch nicht sofort ein? Wovor haben Sie Angst? Warum tun Sie es nicht einfach, sondern reden nur darüber?
Zurzeit ist es sehr angesagt, auf die WM Bezug zu nehmen. Das mache ich auch. Ich bringe es mit einem Beispiel auf den Punkt. Sie können nicht die WM fordern und planen, gleichzeitig aber darauf verzichten, Stadien zu bauen, in der Hoffnung, dass irgendjemand irgendwo ein paar Stadien bauen wird. Das wird nicht reichen. Wenn Sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wollen und dafür Anreize geben wollen, dann müssen Sie auch die Grundlage dafür schaffen, nämlich die Infrastruktur ausbauen. Daran müssen wir uns messen lassen.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Kinderfrühförderung sind die beiden entscheidenden Herausforderungen für die Zukunft. Wer diesen Wettbewerb meistern will, der muss nicht nur gut aufgestellt sein, sondern der muss auch handeln. So weit sind wir in Deutschland nicht. Was Sie hier bieten, überzeugt ganz und gar nicht.
Noch ein Letztes zum Elterngeld. Es ist in der Tat so, dass Transferempfänger schlechter gestellt werden. Das kann man vielleicht begründen, indem man sagt: Die verkürzte Bezugsdauer ist Politik; wir wollen das so. - Aber was Sie nicht begründen können - bisher fehlen die richtigen Antworten darauf -, ist, wie es eigentlich kommt, dass die einen das Geld für 14 Monate und die anderen das Geld nur für zwölf Monate erhalten, auch wenn sich die Eltern, Vater und Mutter, diese Zeit teilen. Warum Studierende und Transferempfänger das Geld nur für zwölf Monate bekommen, während alle anderen es für 14 Monate bekommen, habe ich nicht verstanden. Das ist auch nicht hinnehmbar.
Apropos 14 Monate. Ursprünglich waren für die Bezugsdauer zwölf Monate vorgesehen: zehn plus zwei. Dann haben einige Traditionalisten gesagt: Das ist Teufelswerk. Das ist eine Einmischung in die Familie, Wickelvolontariat! - Jetzt sind es plötzlich zwölf plus zwei Monate und schon verkaufen Sie uns die 14 Monate als eine umsichtige Lösung.
Was ist der qualitative Unterschied? Selbst die Ministerin hat in der Ausschusssitzung gesagt: Qualitativ gibt es da keinen Unterschied. - Der einzige Unterschied - das sage ich Ihnen - sind die Kosten für die zusätzlichen zwei Monate von 750 Millionen Euro - Geld, das Sie nicht haben,
Geld, das Sie woanders viel besser investieren könnten. Sie müssen uns auch noch erklären, woher Sie das Geld nehmen.
Aber das ist so sagenhaft teuer, dass es nicht mehr als umsichtige Lösung bezeichnet werden kann.
- Das hat die Ministerin in der Ausschusssitzung gesagt; Sie können es im Protokoll nachlesen. Wenn das nicht stimmt, hat sie in diesem Punkt die Unwahrheit gesagt.
Die zwei zusätzlichen Monate dienen einzig dazu, dass die CSU keinen Gesichtsverlust erleidet. Das kostet den Steuerzahler 750 Millionen Euro.
Noch ein Letztes zur Übergangsregelung. Es ist wahr: Die Eltern machen sich Sorgen; denn wenn ihr Kind am 31. Dezember auf die Welt kommt, erhalten sie die neue Leistung nicht, während sie sie erhalten, wenn das Kind am 1. Januar auf die Welt kommt.
Das ist ungerecht gegenüber einem Teil der Eltern; denn die Kinder sind im Prinzip gleichaltrig.
Denken Sie doch einmal über das Antragsmodell nach! Warum kann nicht eingeführt werden, dass Eltern bis zu einem gewissen Zeitraum auf Antrag die neue Leistung erhalten, wenn sie dadurch besser gestellt werden?
Sie wollen doch etwas bewegen und umsteuern; dann müssen Sie dafür auch etwas tun.
Was Sie uns zurzeit in Sachen Elterngeld bieten, ist nicht die kopernikanische Wende. Es könnte jedoch ein Schritt in die richtige Richtung sein, aber nur, wenn Sie es nicht vermasseln, wozu Sie allerdings gerade auf dem besten Wege sind.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit Ministerin von der Leyen hat die Familienpolitik neuen Schwung bekommen.
Innerhalb von nur wenigen Monaten unter der neuen Bundesregierung hat die Familienpolitik so oft in den Schlagzeilen gestanden wie fast nie zuvor. Herr Kollege Schmidt von der SPD, es ist erfreulich: statt Gedöns Topthema. Spitze ist das!
Wir haben in der großen Koalition gemeinsam zwei große Schritte vorwärts gemacht: Schritt Nummer eins war die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten, Schritt Nummer zwei ist das Elterngeld, das jetzt eingebracht wird. Es war nicht immer leicht, weil es in der Familienpolitik oft um grundsätzliche Themen geht, die nicht so leicht pragmatisch anzugehen sind wie Themen in anderen politischen Gebieten. Trotzdem bedurfte es keiner unvergesslichen Nachtsitzungen, sondern wir haben das Thema im Regelfall in intensiven Nachmittagssitzungen gemeinsam bewältigt und sind zu guten Ergebnissen gelangt.
Familien und Eltern können sich freuen, weil das Elterngeld hilft, Familie und Beruf deutlich besser zu vereinbaren. Wir als Union sind zufrieden, weil das Elterngeld bürgerliche und leistungsorientierte Strukturen enthält, an denen uns besonders gelegen war.
Einige Punkte, die die Handschrift der Union zeigen:
Die Einführung des Mindestelterngeldes für alle Familien war deshalb besonders wichtig, weil damit das Prinzip der Wahlfreiheit durchgesetzt wurde und wir eine staatliche Gängelung bei einem bestimmten Familienmodell vermieden haben. Wie die Eltern ihre Kinder in den ersten zwölf bzw. 14 Monaten betreuen, ist ihre eigene Entscheidung. Erstmals bekommt jede Familie im ersten Lebensjahr des Kindes 300 Euro monatlich, und zwar ausnahmslos. Das ist ein erheblicher Fortschritt. Die traditionelle Alleinverdienerfamilie erhält damit ebenso Unterstützung wie die Familien, in denen beide Partner erwerbstätig sind.
Wir haben - anders als ursprünglich geplant; das ist richtig, Frau Deligöz - durchgesetzt, dass das Elterngeld zwei Monate länger ausgezahlt wird, zwölf plus zwei Monate. Ich weiß nicht, was daran kritikwürdig sein soll. Es ist ein Erfolg. Auf der einen Seite bemängeln Sie, dass dieser Zeitraum noch zu kurz sei und zu wenig ausgegeben werde,
auf der anderen Seite beklagen Sie, dass durch die zwei zusätzlichen Monate die Bundeskasse strapaziert werde. Ich meine, dass da ein gewisser Widerspruch besteht, den Sie auflösen sollten.
Das Bonussystem ist gut. Wir haben auch die Alleinerziehenden, die ohne Rückhalt durch eine verlässliche Partnerschaft unter hohem persönlichem Einsatz für ihre Kinder sorgen, nicht aus dem Blick verloren. Die Familiensituation unter erschwerten Bedingungen verdient Schutz. Deshalb haben wir auch dem Elterngeld für 14 Monate zugestimmt.
Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Geringverdienerkomponente. Wir wollten Menschen mit wenig Einkommen nicht Menschen mit Transfereinkommen gleichsetzen, weil für uns der Grundsatz gilt: Arbeit muss sich immer lohnen. Deshalb haben wir eine besondere Geringverdienerkomponente eingebaut. Sie macht es möglich, dass sich Arbeit aufgrund eines Zuschlages lohnt.
Dann war uns als Union der Geschwisterbonus wichtig. Wir haben durchgesetzt, dass eine Aufstockung zum Mindestelterngeld erfolgen wird, wenn innerhalb von 24 Monaten nach der Geburt des ersten Kindes ein weiteres Kind geboren wird. Wir hoffen, dass dieser Geschwisterbonus dazu beiträgt, dass die Mehrkinderfamilie wieder zahlreicher wird.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Aber gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Lenke.
Ina Lenke (FDP):
Das ist sehr nett, Herr Singhammer. Vielen Dank.
Herr Singhammer, ich habe eine Frage: Warum haben Sie als Zeitraum für die Gültigkeit des Geschwisterbonus 24 und nicht 36 Monate vorgesehen? Denn in diesen 36 Monaten haben Frauen, die zu Hause zu bleiben, gesetzlich eine Arbeitsplatzsicherheit, also einen Anspruch auf Rückkehr in den Beruf. Warum haben Sie sich für 24 Monate entschieden?
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Singhammer, wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie das Elterngeld mit dem Ziel des Erwerbsanreizes einkommensabhängig gestalten. Das Ziel ist, dass Frauen möglichst schnell in die Erwerbstätigkeit zurückkehren. Deshalb wird der Anspruch um ein Jahr gekürzt. Könnten Sie mir erklären, wie das dazu passt, dass Sie die Gültigkeit der Geschwisterregelung doch wieder auf 36 Monate erhöhen wollen? Denn damit konterkarieren Sie natürlich das Ziel, dass Frauen möglichst schnell in die Erwerbstätigkeit zurückkehren. Damit ermöglichen Sie keine Anreize. Oder wollen Sie gar keine Erwerbsanreize setzen? Denn das wäre die konsequente Antwort auf das, was Sie gerade gesagt haben.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Deligöz, ich denke, es ist unbestritten, dass eine neue Situation gegeben ist, wenn innerhalb eines kurzen Zeitraums - dazu zähle ich 24 oder auch 36 Monate - ein zweites Kind kommt, und sich dann für Mütter und auch für Väter neue Fragen stellen. Eine Folgekinderregelung macht absolut Sinn.
Wir können damit in dieser Betreuungsphase, in der zwei kleine Kinder vorhanden sind, besondere Angebote machen. Ich glaube, das ist unbestritten und hat mit einem scheinbaren Widerspruch in der Argumentation, wie Sie es formulieren, wirklich nichts zu tun.
Wir können heute mit Genugtuung den Gesetzentwurf zum Elterngeld einbringen. Wir sind uns gleichzeitig aber auch bewusst, dass damit der Anfang für eine ganze Reihe weiterer Initiativen für die Familien gemacht werden muss. Über die Frage „Was kommt nach dem Elterngeld?“ ist schon diskutiert worden.
Ich denke, wir brauchen vor allem eine Bündelung der familienpolitischen Maßnahmen. Derzeit existieren in Deutschland rund 145 unterschiedlichste Leistungen - Sie haben richtig gehört - für Familien. Zur einen Hälfte sind dies Steuererleichterungen, zur anderen Hälfte direkte Zahlungen. Die Gesamtsumme beträgt, je nachdem welchen Maßstab man anwendet, rund 85 Milliarden Euro. Diese 145 unterschiedlichen Leistungspakete können auch bei wohlwollender Betrachtung nicht das Prädikat „transparent, durchschaubar und übersichtlich“ erhalten.
Deshalb macht es Sinn, die Leistungen der Familien zu bewerten, dann zusammenzufassen, zu bündeln und zu konzentrieren.
Wenige breite, große und übersichtliche Straßen der Familienförderung statt eines Gestrüpps von verästelten Wegen sollte das Ziel sein. Ich denke, es macht Spaß, in der Familienpolitik zu klotzen, statt mit vielen Einzelmaßnahmen zu kleckern.
Der Zugewinn und die Ersparnis an Bürokratiekosten sollten dann allerdings ausnahmslos den Familien zufließen. Die Einrichtung einer solchen Familienkasse neuen Typs, wie sie im Koalitionsvertrag formuliert wurde, ist in der Tat eine Herkulesaufgabe, eine große Herausforderung. Deshalb bedarf es einer großen Koalition.
Diese großen Vorhaben können aber nicht im luftleeren Raum, ohne Werte, realisiert werden. Ohne ein Familienbild, ohne ein Koordinatensystem, ohne einen Kompass in der Familienpolitik wächst die Gefahr des Scheiterns. Deshalb sage ich auch an dieser Stelle: Wir werden es nicht zulassen, dass bestimmte Lebensentwürfe verächtlich gemacht werden. Wir werden es insbesondere nicht zulassen, dass Frauen und Mütter, die sich für eine bestimmte Zeit ausschließlich der Kindererziehung widmen, als spießig oder verzopft dargestellt werden.
Und wir werden es auch nicht zulassen, dass Frauen, die den Großteil ihres Lebens für die Kindererziehung eingebracht haben, im Nachhinein mitleidig belächelt werden
und dass gesagt wird, sie hätten eine falsche Lebensentscheidung getroffen. Wir wollen, dass weder den klassischen Alleinverdienerfamilien noch den Familien, in denen beide Partner erwerbstätig sind, der Respekt versagt wird.
Lassen Sie mich noch Folgendes hinzufügen: Für mich bedeutet Familie auch, dass sich die Eltern untereinander zu ihrer Verantwortung bekennen und ihren Kindern im Zusammenleben Geborgenheit und Orientierung geben. Ehe und Familie sind für das Kindeswohl von entscheidender Bedeutung. Es gibt ein Idealbild und es gibt die Realität. Wir wissen alle, dass das Ideal und die Realität nicht immer deckungsgleich sind. Das kann aber nicht bedeuten, dass wir auf ein Leitbild verzichten, und das kann ebenfalls nicht bedeuten, dass wir das Leitbild ständig der Realität anpassen müssen. Denn sonst müssten wir das Leitbild alle 14 Tage ändern. Das, denke ich, möchte niemand.
Familie ist die Grundlage unseres Staates. Dieser Satz hat nichts an seiner Bedeutung eingebüßt. Lassen Sie mich ein einziges Zitat in dieser Rede bringen, das allerdings nicht von der Deutschen Bischofskonferenz und auch nicht von der EKD, sondern von einem deutschen Wochenmagazin namens „Spiegel“ stammt, der vor wenigen Wochen formuliert hat: „Ohne Familie verlernt die Gesellschaft schlichtweg die Liebe.“ Gemeint ist: Die Familie vermag die notwendige Ursubstanz einer Solidargemeinschaft am besten zu schaffen. Darum geht es; darum ist die Familie wichtig und deshalb wollen wir sie fördern.
Ich bin überzeugt, dass in Zeiten, in denen die Finanzkraft und auch der Zuständigkeitshunger des Staates nicht weiter wachsen werden
und die Sehnsucht nach emotionaler Wärme und Beziehung zunehmen wird, die Familie eine neue Bedeutung gewinnen wird. Ich meine, dass die Familie vor einer Renaissance steht. Wir werden alles tun, um die politischen Rahmenbedingungen für die Familie günstig zu gestalten.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion.
Sibylle Laurischk (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Anfang möchte ich mich an eine der beiden Damen der Bundesregierung, die jetzt anwesend sind, nämlich Frau Böhmer, und erst in zweiter Linie an Frau von der Leyen wenden. Frau Böhmer hat als Integrationsbeauftragte schon in der gestrigen Generaldebatte vernommen, dass Spracherwerb gerade auch von den Vertretern der SPD und der Union als ein wichtiges Thema im Rahmen der Integrationsarbeit gesehen wird. Ich halte diese Auffassung von Union und SPD auch für richtig. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren von der großen Koalition, dann sollten diesen Forderungen auch Taten folgen.
Weil - so die Verlautbarung - die Mittel für die Sprachintegration im Jahr 2005 nicht voll abgerufen wurden, wählt die Bundesregierung jetzt einen geringeren Ansatz. Ich empfehle Ihnen die Pressemitteilung der Integrationsbeauftragten Frau Böhmer vom 3. Mai 2006 zur Lektüre. In den dort verkündeten Eckpunkten zur Entwicklung der Integrationskurse können Sie nachlesen, dass die Integrationskurse mit 600 Deutschstunden nicht ausreichend sind.
Frau Böhmer meint, dass diese Anzahl von 600 Stunden auf 900 Stunden angehoben werden muss, um eine entsprechende Wirksamkeit zu entfalten. Sie empfiehlt eine Anhebung des Stundensatzes, der an die Sprachkursträger gezahlt wird, von 2,05 auf 3 Euro. Frau Böhmer empfiehlt darüber hinaus, dass ein sozialpädagogisches Konzept zur Begleitung der Jugendlichen umgesetzt wird. Das halte ich mit Blick auf die Erhöhung der Arbeitsmarktchancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund für dringend geboten.
Mir scheint es angesichts der Vielfalt von Fragen in diesem Feld sinnvoll zu sein, das Thema Integration und Migration unter parlamentarischer Begleitung in einer Enquete zur Integration und Migration zu diskutieren.
Union und SPD wollen auch mehr für die Familie tun. Es bleibt aber ein wohl gehütetes Geheimnis - ich denke, das wird eine zentrale Diskussion der kommenden Jahre sein -, wie dies mit einer drastischen Mehrwertsteuererhöhung, die vor allem die Familien treffen wird, gelingen soll.
Union und SPD wollen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und streichen das Erziehungsgeld. Das bedeutet, dass sich einkommensschwache Familien, in denen viele Kinder geboren werden, demnächst schlechter stehen werden als bisher. Die Problematik hinsichtlich der ALG-II-Empfänger ist hier schon angesprochen worden.
Das Elterngeld ist nach meinem Dafürhalten keine Zukunftsvision, sondern dient dem Schaufenster. Das erklärte Ziel des Elterngeldes soll die Erhöhung der Geburtenzahl in Deutschland sein, besonders bei gut ausgebildeten Frauen. Was wird aber passieren? Den gut ausgebildeten Frauen hilft das Elterngeld nur wenig; denn das Angebot an Kinderbetreuung bleibt auf dem heutigen Niveau. Eine Entscheidung für ein Kind werden diese Frauen nicht aufgrund des Elterngeldes treffen. Die Geburtenrate wird sich nach meiner Einschätzung nicht erhöhen.
Neben dieser grundsätzlichen Erwägung ist zudem die Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs fraglich. Es ist schon paradox, dass demnächst diejenigen Familien, die wenig oder gar nicht bedürftig sind, eine wesentlich höhere staatliche Transferleistung erhalten werden als die bedürftigen Familien. Für mich ist es mit dem Sozialstaatsgebot unserer Verfassung nicht vereinbar, wenn eine solche Leistung aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wird.
Um nicht missverstanden zu werden: Eine Lohnersatzleistung Elterngeld kann sinnvoll sein, wenn die anderen Rahmenbedingungen für Familien stimmen, wenn also die Kinderbetreuung im Anschluss gewährleistet wäre. Eine solche Lohnersatzleistung darf nach meinem Dafürhalten ordnungspolitisch aber nicht aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden. Eine Sozialleistung - um eine solche handelt es sich bei dem Elterngeld - darf niemals mit abnehmender Bedürftigkeit ansteigen. Dies ginge nur, wenn eine solche Leistung beitragsfinanziert wäre.
Überhaupt ist die Frage, was mit unserer Verfassung möglich ist, interessant. In neuester Zeit wird Art. 6 des Grundgesetzes, in dem der besondere Schutz von Ehe und Familie verankert ist, stark diskutiert. Verblüffend ist schon, was alles in den Art. 6 hineininterpretiert wird, wenn es um den Diskussionspunkt Ehegattensplitting geht. Zumindest erscheint mir innerhalb der Union der Vorschlag von Herrn Pofalla familienpolitisch und programmatisch interessanter zu sein als der Vorschlag von Frau von der Leyen, ein Elterngeld einzuführen.
Das Ehegattensplitting in aktueller Form ist ehefreundlich. Wir brauchen aber auch ein Steuerrecht, das kinder- und familienfreundlich ist.
In der laufenden Diskussion habe ich den Eindruck gewonnen, dass manche diesen Gesichtspunkt außer Acht lassen. Ich habe den Eindruck, dass dies auch auf die Grünen zutrifft.
Das Ehegattensplitting ist vielleicht kein Fall für die Ewigkeit. Was wir benötigen, ist ein Steuersystem, welches vor allem eine weit reichende familienfreundliche Komponente besitzt. Ich verweise hier auf das Steuerkonzept von Herrn Kollegen Solms, das nicht nur einen Grundfreibetrag in Höhe von 7 700 Euro für jeden Ehepartner, sondern den gleichen Freibetrag als Kinderfreibetrag für jedes Kind und gegebenenfalls eine Erhöhung des Kindergeldes auf 200 Euro je Kind vorsieht.
Unser Steuerkonzept wurde vorgelegt. Es ermöglicht den Frauen die Wahlfreiheit, sich entweder ausschließlich für die Familie oder aber für Familie und Beruf zu entscheiden, wozu deren Vereinbarkeit Voraussetzung wäre. Das ist nach meinem Dafürhalten wirkliche Familienförderung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion.
Nicolette Kressl (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute nicht nur über den Haushalt des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, sondern auch über den eingebrachten Gesetzentwurf zum Elterngeld und damit einhergehende große Veränderungen, und zwar nicht nur gesetzliche. Vielmehr wird das Gesetz - davon bin ich überzeugt - mit der Zeit, in der es in Kraft ist, zunehmend auch eine gesellschaftliche Veränderung mit sich bringen. Somit geht es auch darum, dass diejenigen, die Politik machen, diese gesellschaftliche Veränderung aufnehmen, wahrnehmen und umsetzen.
Ich halte es für ganz wichtig, dass niemand in der Politik sagt: Wir stellen uns ein bestimmtes Familienbild vor und dementsprechend sollt ihr euch verhalten. Genau umgekehrt sollte es sein, nämlich dass wir wahrnehmen, was Frauen und Männer in dieser Gesellschaft wollen, und dann die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehört eben auch das Elterngeld.
Große Veränderungen brauchen sehr häufig Väter und Mütter. Bei der Debatte um das Elterngeld möchte ich an die Mutter erinnern, die den Stein ins Wasser geworfen hat, und ihr ein Dankeschön sagen: Es war Renate Schmidt, die in der letzten Legislaturperiode diese Diskussion angestoßen hat. Wenn man ehrlich ist, muss man auch zugestehen, dass darüber auch ein Stück weit debattiert wurde.
Ich finde, dass es notwendig ist, daran zu erinnern, dass sie die Debatte angestoßen hat. Sie kann heute nicht da sein, weil sie gesundheitliche Probleme hat. Dennoch möchten wir von unserer Seite an ihre Leistung erinnern und ihr Dank sagen.
Dadurch, dass das Elterngeld näher an der Lebenswirklichkeit der Menschen liegt, haben Eltern bezüglich der Frage, wer sich zumindest teilweise um Kinder kümmern und sie betreuen kann, sehr viel mehr Entscheidungsfreiheit als bisher. Frau von der Leyen hat das ja auch schon angesprochen. Das will ich aber nicht nur abstrakt feststellen, sondern auch an einem konkreten Beispiel verdeutlichen, von dem in ähnlicher Form wohl alle schon gehört haben:
Ein junges Paar, das ein Kind bekommt oder plant, ein Kind in die Welt zu setzen, musste sich bisher immer die Frage stellen, wer von beiden sich um das Kind kümmern und für einen Teil der Zeit auf die Erwerbstätigkeit verzichten soll. In meinem Umfeld habe ich sehr oft erlebt, dass gesagt wurde, eigentlich wolle der Vater das gerne tun, aber man könne es sich nicht leisten, weil so viel Geld wegfalle. Damit war man nicht frei in der Entscheidung, sondern unfrei. Hier kommen wir nun ein ganz großes Stück voran, da zukünftig jüngere Menschen durch die Möglichkeiten, die ihnen das Gesetz eröffnet, in ihrer Entscheidung freier sein werden.
Ich will auf einen Punkt hinweisen, der in der Debatte noch nicht angesprochen worden ist: Die Entscheidungsmöglichkeiten sind zusätzlich auch noch sehr flexibel ausgestaltet. Zum Beispiel wird es dank dieses Gesetzes möglich sein, dass sich Eltern entscheiden können, beide zusammen für ein halbes Jahr teilweise auf Erwerbstätigkeit zu verzichten und sich gemeinsam um das Kind zu kümmern.
Ich weiß, dass ganz viele Menschen dieses Lebensmodell für die Kinderbetreuung wollen. Genau das werden wir ihnen mit diesem Gesetz tatsächlich ermöglichen. Das ist ein weiterer Schritt zur flexiblen Gestaltung dessen, was sich Eltern für ihre Familie wünschen.
Drei Akzente, die beim Elterngeld gesetzt wurden, möchte ich ganz besonders herausheben:
Erstens. Es gibt - das halte ich für ganz wichtig - eine Regelung für Menschen, die nicht so hohe Einkommen haben, nämlich die Geringverdienerregelung, nach der die Lohnersatzleistungen ansteigen können.
Frau Lenke, das ist ein einfacher Dreisatz. Wenn Sie das als kompliziert beschreiben, dann ist das Ihr Problem. Das ist nun wirklich eine einfache Regelung.
Ich möchte Ihnen sagen, was diese Geringverdienerregelung bedeutet, weil immer wieder das Gerücht in die Welt gesetzt wird, mit dem Elterngeld würden Familien mit geringem Erwerbseinkommen im Vergleich zur Regelung des jetzigen Erziehungsgeldes benachteiligt. Die Wahrheit ist, dass es, sobald Partnermonate in Anspruch genommen werden, für den Partner oder die Partnerin, der bzw. die Lohnersatzleistung bekommt, keine Schlechterstellung geben wird, wenn er bzw. sie bis zu 588 Euro verdient. Es wird für viele Geringverdienerfamilien eine deutliche Besserstellung geben. Damit wirkt sich die Regelung zugunsten dieser Familien aus.
Ich will nicht, dass an diesem Punkt ohne Ende diffamiert wird. Das ist für uns ganz entscheidend. Diese Regelung war in den ersten Konzepten nicht vorgesehen. Wir haben zu Recht sehr lange darüber diskutiert und diese Regelung zusätzlich in den Gesetzentwurf aufgenommen.
Ich komme zum zweiten wichtigen Akzent. Da bitte ich, genau zu unterscheiden, wenn so salopp dahergeredet wird. Dieses Elterngeld besteht aus zwei Komponenten. Die eine ist die Kernleistung - so nenne ich sie einmal -, nämlich die Lohnersatzleistung. Die können alle beziehen, die 14 Monate lang ihre Berufstätigkeit gegen die Erziehungszeit tauschen. Zusätzlich gibt es - das ist nicht die Kernleistung; Herr Schmidt hat das vorhin angesprochen - ein Mindestelterngeld bzw. einen Sockelbetrag, der eher der traditionellen Transferleistung entspricht. Dieses Elterngeld gibt es für alle, die nicht auf Erwerbstätigkeit verzichten wollen oder verzichten können. Das gilt grundsätzlich für 12 Monate. Da gibt es auch keine Unterschiede zwischen Alleinerziehenden und sonstigen Personen. Der tatsächliche Unterschied besteht vielmehr zwischen der Lohnersatzleistung, die für 14 Monate gewährt werden kann, und der Transferleistung, die für 12 Monate möglich ist. Frau Deligöz, das müssten eigentlich auch Sie verstehen können.
Der dritte Akzent betrifft die Partnermonate, über die es eine große gesellschaftliche Debatte gegeben hat. Ich bin sicher, dass es auch in Unternehmen eine Debatte darüber geben wird, welche Verantwortung Männer und Frauen tragen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass aufgrund dieses Gesetzes auch in Unternehmen in zunehmendem Maße erkannt wird, dass die Verantwortung für Kinder bei Männern und Frauen liegt, und dass als Folge der Debatte über die Partnermonate verstärkt Erziehungszeiten genommen werden. Das ist die dritte wichtige Entwicklung. Es kann nicht alles mit der materiellen Leistung des Elterngeldes geregelt werden. Wir müssen Akzente setzen, damit in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und in den Unternehmen darüber nachgedacht wird und eine Verhaltensänderung eintritt. Diese Verhaltensänderung ist die weitere wichtige Rahmenbedingung, die wir brauchen, um zu einem familienfreundlichen Deutschland zu kommen. Die Partnermonate werden dazu ein ganz wichtiger Anstoß sein.
Klar ist auch - das will ich ergänzen -, dass wir zusätzlich eine gute Infrastruktur für die Betreuung brauchen. Ich darf ausdrücklich auf einen Satz im Koalitionsvertrag hinweisen, der mir etwas versteckt erscheint. Es gab zwar schon in der vorherigen Legislaturperiode das Tagesbetreuungsausbaugesetz. Jetzt aber sagen wir: Wenn der Zuwachs an Betreuungsplätzen für unter 3-Jährige erkennbar nicht so erreicht wird, wie wir das im Gesetz vorgesehen haben, dann wird es einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geben. Das ist für uns - das sage ich auch für meine Fraktion - ein ganz entscheidender Satz im Koalitionsvertrag. Man sollte ihn deswegen nicht verstecken, sondern immer wieder wiederholen.
Wenn wir über moderne Politik in einer veränderten Gesellschaft reden, dann gehört dazu auch, dass der Respekt vor und die Würde von Menschen, die anders scheinen oder anders sind, unterstützt werden. Deshalb will ich betonen, dass für uns ganz wichtig ist, dass alle bisherigen Programme, die gegen Rechtsextremismus wirken, nicht nur erhalten bleiben, sondern dass wir über alle bürokratischen Hürden und Einwände hinweg Wege finden, um diese Programme, mit denen wir junge Menschen, die Toleranz, Selbstvertrauen und Rückgrat gegen Rechtsextremismus zeigen, unterstützen, dauerhaft zu finanzieren.
Ich glaube, das ist die Grundlage für das, was wir erreichen wollen: eine offene Gesellschaft, in der Respekt und Toleranz entscheidende Grundpfeiler unseres Zusammenlebens sind.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Karin Binder, Die Linke.
Karin Binder (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Was sich bereits in der Planung der Familienministerin gezeigt hat, bestätigt sich nun im Haushalt: Gleichstellungspolitik kommt nicht vor.
Ohne ganztägige Kinderbetreuung keine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ohne Erwerbstätigkeit und eigenes Einkommen keine Existenzsicherung, keine Chancengleichheit und keine Gleichstellung der Geschlechter.
Zusammen mit dem Einzelplan 17 diskutieren wir heute über die Einführung eines Elterngeldes. Dies ist aus gleichstellungspolitischer Sicht lange überfällig. Das Elterngeld soll insbesondere Frauen nach der Geburt eines Kindes finanzielle Unabhängigkeit und eine möglichst rasche Rückkehr in das Berufsleben gewährleisten. Zwei so genannte Vätermonate sind jedoch nur ein kleiner Beitrag. Es ist noch viel zu tun in Sachen gleiche Teilhabe an Familien- und Erwerbsarbeit für Männer und Frauen.
Die Koalition feiert das Elterngeld als großen gleichstellungspolitischen Wurf nach skandinavischem Vorbild. Leider ist es eine Skandinavian-light-Version geworden; denn in Schweden gibt es im Gegensatz zu Deutschland ausreichend Kinderbetreuungsplätze. Wir fordern eine flächendeckende, ganztägige und beitragsfreie Kinderbetreuung, und zwar für Kinder von null bis 16 Jahren.
- Genau die Frage habe ich erwartet.
Gemäß einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2002 - sie ist heute immer noch gültig - führt eine flächendeckende Kinderbetreuung zu Mehreinnahmen, und zwar auch bei den Kommunen. Wenn Mütter leichter und schneller in ihren Beruf zurückkehren können, hat das positive Effekte für die Wirtschaft, für das Steueraufkommen und bedeutet Mehreinnahmen für die Sozialversicherungen.
Zurück zum Elterngeld. Frau Ministerin, Sie wollen die finanzielle Achterbahnfahrt, die die Geburt eines Kindes für die Eltern mit sich bringt, bremsen. Für ein Drittel aller Familien - mein Kollege Jörn Wunderlich hat das bereits ausgeführt - beginnt aufgrund Ihrer Konzeption des Elterngeldes die finanzielle Talfahrt aber nun erst richtig. Deshalb ist das Konzept für uns nicht tragbar.
Nun zur Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt. Die Europäische Kommission fordert die Mitgliedstaaten seit langem auf, diese durch eigene Aktivitäten zu fördern. Ebenso verpflichtet uns der Art. 3 Abs. 2 unseres Grundgesetzes dazu. Doch im Haushalt sucht man vergebens nach entsprechenden Maßnahmen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung hält sogar an Gesetzen fest, die sich nach ihrer eigenen Evaluation negativ auf Frauen auswirken. Sie verschärft sie sogar noch. Beispiel Hartz-Gesetze: Mit dem so genannten Fortentwicklungsgesetz entwickeln wir uns auf keinen Fall fort. Frauen sind die Verliererinnen der derzeitigen Politik, insbesondere dieser Hartz-Reformen. Deshalb setzt sich die Linke für eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung als Individualanspruch für Frauen und Männer ein.
Durch die Hartz-Gesetzgebung wurde ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor geschaffen - das bedeutet Kosten für den Staat - mit einem hohen Anreiz für Unternehmen zur Schaffung weiterer prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Auch hier sind die Hauptbetroffenen Frauen. Dagegen hilft nur eines: die Einführung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohns. Von der Einführung eines solchen Mindestlohns würden vor allem Frauen profitieren, weil mehr als zwei Drittel der Beschäftigten in den Niedriglohnbereichen weiblich sind. Dass dies zur weiteren Entlastung des Haushaltes beitragen könnte, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern.
Die einzige Maßnahme der Bundesregierung, Lohndiskriminierung von Frauen einzudämmen, erstreckt sich auf ein Faltblättle. Damit bekämpft man Lohndiskriminierung nicht. Gleichstellungspolitik ist eine staatliche Querschnittsaufgabe, die sich durch alle Politikfelder zieht und daher auch durch den gesamten Haushalt ziehen müsste. In diesem Haushalt kommt Gleichstellungspolitik jedoch so gut wie nicht vor.
Ich bedanke mich.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Anna Lührmann hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in meinem Freundeskreis eine kleine Umfrage unter jungen Frauen und Männern, die entweder schon Kinder haben oder Kinder bekommen wollen, gestartet. Ich habe sie gefragt: Was braucht ihr eigentlich vom Staat, was für eine Unterstützung braucht ihr, damit ihr euch eher für Kinder entscheidet und damit es leichter für euch ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen? Sie haben mir alle gesagt: Na ja, dieses Elterngeld, das jetzt eingeführt werden soll, ist ja ganz nett, aber eigentlich brauchen wir Betreuungsplätze.
Wir müssen wissen, wo wir unsere Kinder tagsüber unterbringen können.
Zu diesem Thema hat die Regierung nichts anzubieten.
Wir Grüne haben zu dem Thema, was junge Familien wirklich brauchen, einiges anzubieten. Wir haben das Konzept für eine Kinderbetreuungskarte vorgelegt, über das wir heute diskutieren. Das Konzept ist sehr einfach und funktioniert. Jedes Kind unter drei Jahren hat einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz und der wird dann auch zur Verfügung gestellt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin Lührmann, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Singhammer zulassen?
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr gerne.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Lührmann, da Sie hier immer wieder verbesserte Betreuung einfordern, weise ich darauf hin, dass es in den neuen Bundesländern ein weitestgehend flächendeckendes Betreuungsangebot gibt. Gleichwohl ist dort die Zahl der Neugeborenen leider besonders niedrig. Können Sie sich vorstellen, dass das damit zu tun hat, dass die Chancen, Arbeitsplätze zu finden, in manchen Regionen besonders gering sind, und dass die Verfügbarkeit von Kinderbetreuung nur einer von mehreren Beweggründen ist, sich für ein Kind zu entscheiden oder nicht?
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich muss sagen, Herr Kollege: Diese Frage zeigt schon wieder, dass die CDU/CSU von Familienpolitik aber auch gar nichts versteht.
Wir sprechen doch an dieser Stelle über die Frage, wie wir es als Staat und als Gesellschaft jungen Familien, jungen Frauen und Männern besser ermöglichen können, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Das ist die Frage, über die wir hier diskutieren. Wir haben eine Reihe von Konzepten dazu vorgelegt, von denen Sie nichts zu verstehen scheinen, was auch Ihre Äußerungen zum Thema Ehegattensplitting deutlich machen. Wir schlagen vor - das ist ein zentraler Baustein unseres Konzeptes -, das Ehegattensplitting zu ersetzen, um zusätzliche Betreuungsplätze zu finanzieren. Das ist das, was Familien brauchen. Sie brauchen keine Subventionierung der Alleinverdienerehe, sondern Betreuungsplätze.
So können sie sich für das entscheiden, was sie wollen. Wir als Staat müssen ihnen dabei nichts vorschreiben. Wir müssen ihnen nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben oder ob sie Familie und Beruf unter einen Hut bekommen sollen oder nicht.
- Wir schreiben es ihnen nicht vor. Wir ermöglichen ihnen Wahlfreiheit.
Gehen Sie einmal in Ihren Wahlkreis oder reden Sie einmal mit Ihrem Kollegen Ole Schröder; er sitzt direkt hinter Ihnen. Denn er hat das sehr richtig erkannt und gesagt: Wir müssen mehr für Betreuung tun. Wir müssen mehr tun, um die realen Familien wirklich zu unterstützen und nicht dieses Idealbild von Familie - davon haben Sie gerade hier gesprochen -, das sehr wenige erfüllen können oder zum Teil auch erfüllen wollen. Wir wollen wirkliche Wahlfreiheit gewährleisten. Das tun wir dadurch, dass nicht nur Familien mit einem dicken Portemonnaie, sondern alle Familien auf eine gute Betreuungsinfrastruktur zurückgreifen können.
Wie ich eben angefangen habe auszuführen, wollen wir als Grüne das durch vier einfache Voraussetzungen gewährleisten: Erstens wollen wir jetzt und nicht erst 2008, Frau Kressl, einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige einführen. Zweitens wollen wir das Ehegattensplitting abschmelzen, um 5 Milliarden Euro locker zu machen. Drittens wollen wir ein Geldleistungsgesetz einführen, das funktioniert - ein Geldleistungsgesetz haben wir zum Beispiel auch beim Wohngeld -, um direkt von der Bundesebene Geld für die Bedürftigen, nämlich für die, die Kinder unter drei Jahren haben, umleiten zu können.
Viertens wollen wir jeder Familie mit Kindern unter drei Jahren eine Kinderbetreuungskarte in die Hand geben. Mit dieser Kinderbetreuungskarte sollen sie zu der jeweiligen Einrichtung vor Ort gehen können. Dadurch hätten sie eine größere Nachfragemacht; denn sie könnten entscheiden. Das wäre Wahlfreiheit. Sie könnten entscheiden, ob sie das Geld für eine Kinderkrippe oder für eine anerkannte Tagespflege ausgeben. Es gibt also viele Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass sich die Qualität vor Ort verbessert. Solche konkreten Möglichkeiten wollen wir schaffen.
Das Allerbeste ist, dass durch die Abschmelzung des Ehegattensplittings mehr als 2 Milliarden Euro für die Länder übrig bleiben. Diese 2 Milliarden Euro können sie in den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen bzw. in eine Qualitätsoffensive vor Ort investieren. Die Konzeption der Grünen zum Thema Kinderbetreuung bringt wirklich Vorteile für Familien und Kinder mit sich. Deshalb würde ich mich darüber freuen, wenn Sie unserem Antrag in den Ausschussberatungen doch noch zustimmen würden.
Abschließend möchte ich auf zwei weitere Punkte dieses Etats eingehen: Der erste Aspekt betrifft die Zivildienstleistenden, einen der größten Posten im Etat des Familienministeriums. Mit den eingeplanten Mitteln sollen 90 000 Zivildienstleistende einberufen werden. Im gleichen Zeitraum sollen aber nur ungefähr 60 000 junge Männer Wehrdienst leisten, und das, obwohl immer mehr junge Männer verweigern, sich also für den Zivildienst entscheiden.
Das bedeutet: Wer heutzutage den Wehrdienst verweigert, wird praktisch auf jeden Fall einberufen. Wer das nicht tut, hat eine relativ große Chance, nicht einberufen zu werden, weil die Regierung für Wehrdienstleistende weniger Plätze zur Verfügung stellt. Der Ehrliche - derjenige, der von Anfang an sagt, dass er verweigern möchte - ist also der Dumme. Mit Wehrgerechtigkeit hat das nichts zu tun. Das ist ungerecht. Deshalb meinen wir Grüne, dass das Geld in diesem Haushalt umgeschichtet werden muss.
Wie bereits in den letzten Jahren haben wir zu diesem Themenbereich erneut Anträge gestellt, durch die 35 Millionen Euro umgeschichtet werden: vom Zivildienstetat vor allen Dingen hin zur Förderung von Freiwilligendiensten.
Es gibt genug junge Männer und Frauen, die freiwillig all das machen wollen, wozu Zivildienstleistende gezwungen werden. Ich glaube, dass das aus liberalem Blickwinkel das richtige Konzept ist.
Wir wollen in diese Richtung weitergehen. Denn wir sind der Meinung, dass Zwangsdienste insgesamt abgeschafft werden sollten.
Zum Schluss möchte ich noch auf zwei sehr wichtige Programme, die in diesem Etat enthalten sind, eingehen: auf Civitas und Entimon. Mit diesen Programmen hat die Bundesregierung in den letzten Jahren sehr erfolgreich zivilgesellschaftliche Gruppen im Kampf gegen Rechtsextremismus gestärkt und Opferberatungen gefördert. Deshalb haben wir Grüne, wie schon in den vergangenen Etatberatungen, Aufstockungsanträge in einer Größenordnung von 2 Millionen Euro gestellt. So wollen wir dazu beitragen, dass vor Ort noch mehr gegen Rechtsextremismus unternommen wird.
Frau von der Leyen, ich finde es wirklich sehr schön, dass auch Ihnen heute Morgen aufgefallen ist, dass diese Programme in Ihrem Etat ressortieren.
Denn im Zusammenhang mit diesem Thema sind Sie in den letzten Monaten eher dadurch aufgefallen, dass Sie die genannten Initiativen verunsichert haben, statt sie zu stärken. Heute Morgen haben Sie jedoch, wie ich finde, sehr richtige Aussagen getroffen.
Im letzten halben Jahr haben Vertreter Ihres Hauses vorgetragen, dass beabsichtigt ist, diese Programme auf den Kampf gegen alle möglichen Formen von Extremismus auszuweiten.
Das hätte bedeutet, dass den erfolgreichen Projekten gegen Rechtsextremismus unter dem Strich weniger Geld zur Verfügung gestanden hätte. Das waren die Planungen Ihres Hauses.
Herr Frank Schmidt, Sie haben eben gesagt, die Regierung bräuchte bei diesem Thema keine Nachhilfe.
Wenn ich mir die Debatten des letzten halben Jahres vor Augen führe, muss ich aber feststellen: Nur der Druck, den unter anderem wir Grüne durch die Anträge, die wir eingebracht haben, die Zivilgesellschaft und vielleicht auch Leute aus Ihren Reihen aufgebaut haben, hat dazu geführt, dass diese Pläne endlich vom Tisch sind.
Das ist auch gut so. Dabei soll es auch bleiben. Wir Grüne werden Sie durch Anträge und Initiativen unterstützen. Wenn Sie meinen, dass Sie das alleine schaffen können, ist das gut. Aber wir werden Sie auf jeden Fall unterstützen - darüber können Sie sich freuen -, wenn es darum geht, die Programme gegen rechts in den nächsten Jahren fortzuführen.
Denn ich glaube - darüber sind wir uns in diesem Hause hoffentlich einig -, es muss noch eine Menge getan werden, bis Deutschland wirklich das weltoffene und tolerante Land ist, das wir gerne sein möchten, damit es in den nächsten Jahren wirklich heißen kann: Jeder ist in Deutschland willkommen und zu Gast bei Freunden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion.
Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwischen dem Abschluss der Koalitionsvereinbarung und dem ersten Haushalt, den die große Koalition vorlegt, liegt ein Weg, der nicht immer ganz einfach war. Ich sage das weniger mit Blick auf die Beratungen innerhalb der Koalition als vielmehr mit Blick auf die Erwartungen des einen oder anderen, der Skepsis hatte, was er von dem, was sich die große Koalition an familienpolitischen Vorhaben auf die Agenda geschrieben hat, im Haushalt 2006 und in den Folgehaushalten wiederfindet.
Heute, nachdem wir den ersten Haushalt gemeinsam eingebracht haben und ihn in dieser Woche verabschieden werden, kann ich sagen: Vieles von dem, was in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben worden ist, findet sich bereits im Haushalt 2006; es ist gelungen, den Haushalt auf hohem Niveau zu verstetigen und deutliche Schwerpunkte zu setzen. Das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen.
Ich habe allerdings den Eindruck, dass mancher und manche den Beiträgen in dieser Debatte nicht ausreichend zugehört hat. Ich will das festmachen an dem Vorwurf, die Koalitionsfraktionen bzw. die Bundesregierung stufe den Dreiklang von Kinderbetreuung, finanzieller Förderung von Familien und steuerlichen Maßnahmen quasi zu einem Zweiklang herab.
Ich stelle fest, dass die Ministerin in ihrem Beitrag darauf hingewiesen hat, dass die Vorgaben des Tagesbetreuungsausbaugesetzes gegenwärtig von der Bundesregierung evaluiert werden. Wenn Sie in Ihre Wahlkreise gehen und dort nachfragen, werden Sie auf Bürgermeisterinnen und Bürgermeister treffen, die den Bedarf an Kinderbetreuung in ihren Städten und Gemeinden gegenwärtig ermitteln. Im Herbst des Jahres 2006 und im Laufe des Jahres 2007 können wir uns dann in einer gemeinsamen Aktion von Bund, Ländern und Kommunen darüber unterhalten, wie wir diesem Anspruch gerecht werden und ihn vernünftig in die Tat umsetzen können. Ich sage auch an dieser Stelle: Qualität geht vor Tempo. Der Bedarf an Kinderbetreuung ist von Ort zu Ort unterschiedlich; das will bedacht sein. Lieber lassen wir uns eine Woche mehr Zeit damit, eine Lösung zu finden, als dass wir holterdiepolter etwas ins Gesetzblatt schreiben, von dem wir anschließend feststellen müssen, dass es den Erfordernissen nicht gerecht wird.
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen - auch da habe ich den Eindruck, dass manche nicht ausreichend zugehört haben -: die Integration. Frau Laurischk, ich erinnere mich noch genau an die Berichterstattung durch Herrn Staatssekretär Dr. Kues, der im Ausschuss auf meine Frage, ob es notwendig sei, die Haushaltsansätze für die Sprachförderung im Einzelplan 17 so zu gestalten, wie das angedacht ist, oder ob es andere Möglichkeiten gebe, geantwortet hat, dass aufgrund der Vorgaben der Bundeshaushaltsordnung Mittel, die im Vorjahr nicht in ausreichendem Maße abgerufen wurden, nicht für alle Zukunft mit dem gleichen Haushaltsansatz fortgeschrieben werden können. Ob die Gründe dafür, dass diese Mittel nicht abgerufen wurden, in der Systematik der Sprachförderung und damit im Zuständigkeitsbereich von uns als Gesetzgeber liegen, darüber kann man reden. Die dafür zuständige Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin hat aber das im Hinblick auf den in Kürze stattfindenden Integrationsgipfel aus ihrer Sicht Notwendige aufgeschrieben. Das stellt unter Beweis, dass die Bundesregierung genau das tut, was wir gemeinsam beraten haben. Deswegen sehe ich keinen Anlass, die Bundesregierung oder die Staatsministerin zu kritisieren.
Es ist gelungen, die Ansätze in diesem Haushalt in vielen Punkten auf hohem Niveau zu verstetigen; das gilt auch für den Kinder- und Jugendplan. Insbesondere ist es gelungen - das ist verschiedentlich schon angeklungen -, den Ansatz für die Freiwilligendienste aufzustocken und dadurch weitere 2 000 Plätze für das freiwillige soziale Jahr und weitere 400 Plätze für das freiwillige ökologische Jahr zu schaffen.
Jetzt können wir sagen: Angesichts der Mitteilung der Trägerorganisationen, dass man Bewerbungen für 30 000 Plätze oder mehr hätte, sind 2 400 etwas wenig. Nur, hinsichtlich der finanziellen Gegebenheiten, die dieser Bundeshaushalt bietet und von dem sich die Folgehaushalte nicht wesentlich unterscheiden werden, ist es ein Erfolg, dass es gelungen ist, 2 400 neue Plätze zu schaffen, auch wenn der Bedarf zugegebenermaßen wesentlich höher ist.
Wenn die Bundesregierung bereits in der nächsten Woche unter dem Stichwort „Evaluation FSJ/FÖJ-Änderungsgesetz“ mit einer Veranstaltung dokumentiert, dass man diese Evaluation erstens vorgenommen hat und zweitens bereit ist, mit den Betroffenen und mit den politisch Verantwortlichen dieses Thema zu diskutieren, und bereit ist, darüber nachzudenken, ob es über das, was im FSJ/FÖJ-Änderungsgesetz bereits vorgenommen worden ist, hinaus Handlungsbedarf gibt - ich sage das mit Blick auf die Freiwilligendienste im Ausland -, dann zeigt man, dass die Bundesregierung das, was in der Koalitionsvereinbarung steht, umsetzt - und das bereits im ersten Jahr des Bestehens der großen Koalition - und nicht auf die lange Bank schiebt. Auch das ist ein Nachweis dafür, dass wir das, was wir an politischen Vorgaben formuliert haben, auf die politische Agenda setzen und konkret im Haushalt umsetzen.
Lassen Sie mich einen Gedanken aufgreifen, den der Kollege Singhammer vorhin in die Debatte eingeführt hat, nämlich das Thema Familienkasse. Es ist verschiedentlich diskutiert worden. Ich unterstelle nicht jedem, der dieses Thema diskutiert hat, partout den Ansatz, den ich jedem Familienpolitiker und jeder Familienpolitikerin unterstelle, dass man nämlich davon ausgeht, dass die Zusammenfassung von Leistungen in wenigen Fördersträngen dazu führt, dass sich die Gesamtsumme der Förderung dadurch nicht vermindert. Manch einer mag vielleicht mit anderen, möglicherweise finanzpolitischen Erwägungen an diese Dinge herangegangen sein.
Aber das alles ändert nichts an der Tatsache, dass wir gefordert sind, genau diesen Punkt noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, um insbesondere im Interesse von Bürgerinnen und Bürgern, von jungen Familien das, was der Staat in weit über 100 Förderungstatbeständen für Familien auf den unterschiedlichsten Ebenen tut, zusammenzufassen und ein Stück weit transparenter, auch praktikabler zu machen für diejenigen, die das anschließend in den öffentlichen Verwaltungen umsetzen sollen. Das sollte über Koalitions- und Oppositionsgrenzen hinweg unser gemeinsames Ziel sein. Ich denke, dieses Thema ist weitgehend unstrittig.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen. Die Vorgaben, die insbesondere finanziell über diesem Haushalt stehen und die sich vermutlich von denen des Jahres 2007 nicht wesentlich unterscheiden, erlegen uns selbstverständlich auch Grenzen auf. Ich bin dankbar, dass es uns gelungen ist - ich verbinde dies mit einem Dankeschön an die Kolleginnen und Kollegen Berichterstatter im Haushaltsausschuss und in den Fachausschüssen -, unter Beweis zu stellen, dass wir nicht nur diejenigen sind, die Neuausgaben fordern. Wir sind vielmehr auch diejenigen, die durchaus bereit sind, uns auf den eigenen Zuständigkeitsbereich zu bescheiden.
Ich will das an der Tatsache festmachen, dass wir die Vorgaben des Bundeshaushaltsplanentwurfs, was die Gestaltung der Antidiskriminierungsstelle beim BMFSFJ angeht, durch die Beschlüsse der Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses reduziert haben oder reduzieren werden. Das geschieht ausdrücklich mit unserer Unterstützung. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem Haushaltsplan zustimmen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß, FDP-Fraktion.
Miriam Gruß (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ob Wickelvolontariat, Vätermonate oder Windelpraktikum - bisher hat das Elterngeld nur eines gebracht: eine, wie ich meine, zweifelhafte Bereicherung unseres Wortschatzes.
Den Schöpfungsgeist und die Kreativität einzelner Koalitionspolitiker in Ehren - doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Duden ist schon dick genug. Den Familien, auf die es uns hier ankommen muss, bringt diese mehr oder weniger ernst gemeinte Ausweitung des Vokabulars rein gar nichts. Das, was Eltern in Deutschland heute wirklich brauchen, steht nicht in Ihrem Gesetz, Frau Ministerin.
Durch diverse Studien und Umfragen der vergangenen Wochen wurde uns immer wieder schwarz auf weiß gezeigt: Eltern wollen eine verlässliche Betreuung für ihre Kinder. Diese ist ihnen wichtiger als weitere Geldleistungen, zumal wir - auch das ist schon angesprochen worden - im internationalen Vergleich bei den familienpolitischen Leistungen sowieso schon im oberen Feld liegen.
Mehrere von Ihnen haben wohl gestern den Artikel in der „FAZ“ gelesen. Ich nenne Ihnen noch eine andere Zahl: Bund, Länder und Gemeinden und Sozialversicherungen haben laut des Kieler Instituts für Weltwirtschaft im vergangenen Jahr rund 240 Milliarden Euro ausgegeben, die den Familien zugute kommen. Sie alle wissen, wie hoch die Geburtenrate in Deutschland ist: Sie beträgt 1,3 Kinder pro Frau. Der Aufwand ist also enorm hoch, während der Ertrag enorm niedrig ist.
Ich bin der festen Überzeugung, dass auch das Elterngeld leider nichts daran ändern wird; denn natürlich denken planende Eltern darüber nach, wie es nach einem Jahr weitergehen soll. Was nützt uns denn ein zwölf- oder 14-monatiges Elterngeld, wenn wir danach keinen Betreuungsplatz anbieten können? Das ist heute Gott sei Dank schon mehrfach angesprochen worden.
Ich meine, dass sich der Bund hier nicht aus seiner Verantwortung stehlen darf. In Zeiten notwendiger Mobilität kann es nicht sein, dass in Bayern nur jedes hundertste Kind unter drei Jahre die Chance auf einen Krippenplatz hat, während es in Brandenburg jedes zweite Kind ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von Kerstin Griese zulassen? - Bitte schön.
Kerstin Griese (SPD):
Liebe Frau Kollegin Gruß, weil von der FDP immer wieder Behauptungen aufgestellt werden, drängt es mich, Sie zu fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz, das seit Januar letzten Jahres in Kraft ist, einen großen Schritt gemacht haben, damit die Betreuungsmöglichkeiten für die unter Dreijährigen in den Kommunen ausgebaut werden? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen - wenn Sie durch die Städte in Ihrem Wahlkreis reisen, werden Sie das sehen -, dass alle Städte Ausbaupläne erstellen und Bedarfserhebungen für die Betreuung von unter Dreijährigen durchführen? Mir fehlt die aktive Unterstützung der FDP für den Ausbau der Kinderbetreuung. Ich habe von Ihnen bisher keinen aktiven Beitrag für dieses Gesetz oder für den Ausbau der Kinderbetreuung gesehen.
Miriam Gruß (FDP):
Frau Kollegin, Frau Lenke hat vorhin in die ähnliche Richtung geantwortet. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie wissen selbst, dass ich Mutter bin. Ich habe in Bayern ein Jahr lang auf einen Kindergartenplatz gewartet und ein Jahr lang versucht, Kind und Karriere zu vereinbaren. Ich kann Ihnen also aus meiner persönlichen Erfahrung sagen: Das, was Sie geplant haben, mag schön und gut sein, aber die derzeitige Situation ist noch nicht ausreichend. Wir reden hier von der derzeitigen Situation in Deutschland.
In dem Gesetzentwurf schreiben Sie, das bisherige Bundeserziehungsgeld habe - ich zitiere - „nicht die beabsichtigte größere Wahlfreiheit zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie eröffnet“.
Als Lösung schlagen Sie das Elterngeld vor. Eine echte Wahlfreiheit für Eltern kann es aber nur geben, wenn in Deutschland zuerst in den qualitativen und quantitativen Ausbau der Kinderbetreuung investiert wird. Das muss im Sinne der Eltern und Kinder oberste Priorität haben.
Meine Damen und Herren, neben dieser grundsätzlich falschen Schwerpunktsetzung gibt es in dem Gesetzentwurf zum Elterngeld auch zahlreiche handwerkliche Mängel:
Erstens. Es fehlt - das ist schon angesprochen worden - eine vernünftige Übergangsregelung.
Zweitens. Die Zeiteinteilung der Betreuung zwischen den Eltern ist nur monatsweise vorgesehen. Eine flexible und praxisnahe Aufteilung - beispielsweise tageweise -, wie sie vielen berufstätigen Eltern zugute kommen würde, ist also nicht möglich.
Ich kenne zum Beispiel ein zertifiziert kinderfreundliches Unternehmen, in dem 300 verschiedene Arbeitszeiten wahrgenommen werden. Arbeitnehmer, Väter und Mütter, setzen sich mit dem Arbeitgeber zusammen und legen die Stundenfolge ganz individuell fest. Die Gesetzgebung darf hinter dieser schon jetzt funktionierenden Realität doch nicht hinterherhinken.
Noch ein Wort zu den Vätermonaten. Ich halte es grundsätzlich für falsch, Väter zwangsweise zu verpflichten, auf ihre Kinder aufzupassen und sich um die Kinder zu kümmern. Dadurch werden die Väter keine besseren Väter. Eltern sollen bitte in vollem Umfang frei entscheiden dürfen, wer sich wann und wie um die Kinder kümmert.
Drittens. Der Beitrag für die gesamte Gesellschaft, den Eltern jeden Tag aufs Neue mit der Erziehung ihrer Kinder leisten, wird auch mit dem Elterngeld nicht honoriert.
Die Begriffe „Übergangsregelung“, „Zeiteinteilung“ und „Erziehung“ stehen schon längst im Duden. Wir müssen die Familienpolitik nicht neu erfinden; wir müssen sie jedoch an den tatsächlichen Bedürfnissen von Familien ausrichten. Deshalb lehnen wir dieses Korsett für Eltern ab. Es ist zu steif und zu eng und es stützt die Familien an der falschen Stelle.
Kinder brauchen Fürsorge, um den richtigen Weg in ihr Leben zu finden. Eltern brauchen Unterstützung dort, wo sie diese Fürsorge nicht leisten können. Familien brauchen die Freiheit, diese Unterstützung nach ihren individuellen Bedürfnissen einzusetzen. Ein bürokratisches Werk fernab der Lebenswirklichkeit ist der falsche Weg.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 41. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 23. Juni 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]