47. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer ?Bundesstiftung Baukultur“
- Drucksachen 16/1945, 16/1990 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Dauergenehmigungen für Militärflüge aufheben
- Drucksache 16/857 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Lesben und Schwule in ganz Europa durchsetzen
- Drucksache 16/1667 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
(f)
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Flüchtlingen aus Nahost Schutz bieten
- Drucksache 16/2341 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Bundespolitik soll im Streit um die Waldschlösschenbrücke vermitteln
- Drucksache 16/2499 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Petra Pau, Dr. Hakki Keskin, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN
Fertigstellung des Mauerparks im Bereich der ehemaligen innerstädtischen Grenze in Berlin
- Drucksache 16/2508 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Rainder Steenblock, Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Forderung der EU nach Transparenz bei Subventionen im Agrarbereich vollständig umsetzen und die Neuausrichtung der Förderung vorbereiten
- Drucksache 16/2518 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
- Drucksache 16/2455 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Bleser, Ursula Heinen, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Mechthild Rawert, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale schützen
- Drucksache 16/2510 -
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss (7. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Zweites Gesetz der Bundesregierung zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der personellen Struktur beim Bundeseisenbahnvermögen und in den Unternehmen der Deutschen Bundespost
- Drucksache 16/1938 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt 1 - fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2007
(Haushaltsgesetz 2007)
- Drucksache 16/2300 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010
- Drucksache 16/2301 -
Ich erinnere daran, dass wir am Dienstag für die heutige Aussprache insgesamt elf Stunden beschlossen haben.
Wir beginnen die heutigen Haushaltsberatungen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Einzelplan 11. Zur Eröffnung erteile ich das Wort dem Herrn Bundesminister Müntefering.
Herr Müntefering, wenn Sie wegen Ihrer gegenwärtigen Geh- und Stehbehinderung vom Platz aus reden möchten, dann ist es Ihnen unbenommen. - Bitte schön.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich für die Möglichkeit, von meinem Platz aus zu sprechen. Gott sei Dank bin ich auf den Fuß und nicht auf den Kopf gefallen.
Das Reden werde ich schon hinbekommen.
In den letzten Tagen haben die Bundeskanzlerin und der Finanzminister die großen Linien der Politik erläutert. Es bleibt dabei: Wir wollen den Haushalt konsolidieren. Dazu muss auch dieser Einzelplan seinen Teil beitragen. Wir wollen, dass Arbeitslosigkeit reduziert wird; da sind wir auf einem guten Weg. Wir wollen, dass unsere Sozialsysteme stabilisiert werden. Wir sind 2006 dabei, ein gutes Stück voranzukommen. Der Haushaltsentwurf für das Jahr 2007 eröffnet die Möglichkeit, diesen Weg im Jahr 2007 weiterzugehen.
Im Jahr 2006 - das wurde schon gesagt - ist die Zahl der Arbeitslosen zurückgegangen. Die Beitragseinnahmen der Arbeitslosenversicherung und übrigens auch der Rentenversicherung sind gestiegen. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich am Arbeitsmarkt einiges tut. Nicht nur im Bereich des Arbeitslosengeldes I, sondern auch im Bereich des Arbeitslosengeldes II sind die ersten positiven Signale vorhanden. Die Tatarenmeldungen von vor acht bis zwölf Wochen über die Kosten im Bereich des Arbeitslosengeldes II werden sich nicht so erfüllen, wie es damals von manchen befürchtet worden ist. Dies ist eine gute Tendenz. Diesen Weg wollen wir auch im nächsten Jahr weitergehen.
Es gibt eine Sorge, die wir alle miteinander haben, nämlich die, ob es für die jungen Menschen in unserem Land im Herbst hinreichend viele Ausbildungsplätze gibt. Wir haben in den letzten Wochen gemeinsam mit der Wirtschaft, mit großen und kleinen Unternehmen sowie mit dem Handwerk, versucht, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Situation ist noch nicht befriedigend. Deshalb müssen wir Druck machen und allen klar machen - das ist ganz wichtig -, dass die jungen Menschen, wenn sie aus der Schule kommen, eine Chance haben müssen, einen Ausbildungsplatz zu finden.
Die Bundesagentur für Arbeit sorgt im Moment dafür, dass es für 5 000 junge Menschen aus Familien mit Migrationshintergrund zusätzliche außerbetriebliche Ausbildungsplätze gibt. Denn diese haben es besonders schwer am Arbeitsmarkt. Möglicherweise werden es mehr als 5 000 sein, die hier in besonderer Weise gefördert werden. 14 000 Ausbildungsplätze für Ostdeutschland werden vom Ministerium der Kollegin Schavan finanziert.
Die Bundesagentur hat eine Förderquote von 42 000 bis 43 000 außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen und die Argen haben eine solche von 3 000 bis 4 000. Das Unterteilen des Arbeitsmarktes in die Bereiche Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II hat auch dazu geführt, dass in dem Bereich der Argen die Zahl der Ausbildungsplätze und die Zahl der Vermittlungen gegenüber dem früheren Engagement der BA abgenommen haben. Deshalb müssen wir an dieser Stelle noch einmal Druck machen.
Ich möchte Sie heute darüber informieren, dass ich veranlasse, dass die Zahl der Plätze im Bereich EQJ - das ist die Einstiegsqualifizierung für Jugendliche - zum 1. Oktober von 25 000 auf 40 000 angehoben wird. Das sind noch einmal 15 000 Jugendliche mehr, die eine Chance bekommen, in diesem Jahr in diese Qualifizierung hineinzukommen. Das, finde ich, ist eine richtige und wichtige Entscheidung.
Das gibt unser Haushalt her. Das hat auch etwas mit der Entwicklung des Jahres zu tun. Die Kosten kommen ab 1. Oktober auf uns zu. Wir werden das Angebot der 40 000 EQJ-Plätze bis zum Jahre 2007 weiterführen, möglichst auch darüber hinaus, damit die Jugendlichen sich auch darauf einstellen können.
Diese Plätze richten sich besonders an solche Jugendliche, die es schwer haben, aufgenommen zu werden. Sie machen eine Art Praktikum und bekommen dafür knapp 200 Euro Bundesmittel, gewissermaßen als Ausbildungsvergütung, und wir zahlen Sozialversicherungsbeiträge für diese jungen Menschen.
60 Prozent von ihnen sind im letzten Jahr nach einem halben Jahr in eine ordentliche Ausbildung übernommen worden. Das ist eine gute Quote. Den Weg wollen wir weitergehen.
Diese 40 000 sind meiner Meinung nach eine gute Zahl für den Ausbildungsmarkt insgesamt.
Ich möchte hier ankündigen, dass wir uns neben der Notwendigkeit, dass wir uns Gedanken über die jungen Menschen machen, die aus der Hauptschule kommen, auch Gedanken darüber machen müssen, was mit denjenigen passiert, die beispielsweise von der Hochschule kommen. Ich sehe mit großer Sorge - das wird zurzeit recherchiert -, dass eine Art Praktikamethode um sich greift, die nicht toleriert werden kann. Darum müssen wir uns kümmern.
Praktika im klassischen Sinne des Wortes sind sinnvoll, wenn junge Menschen für kurze Zeit die Chance haben, sich in einen Beruf hineinzulernen und hineinzudenken. Wenn aber manche Unternehmen - längst nicht alle, Gott sei Dank! -, diese Möglichkeit nutzen, um Vollzeitarbeit, die es bei ihnen gibt, von Menschen erledigen zu lassen, die man Hospitanten, Volontäre oder Praktikanten nennt, und ihnen kein Geld dafür gibt, dann ist das nicht in Ordnung. Das müssen wir nötigenfalls noch etwas nachdrücklicher erklären, als es bisher in unseren Gesetzen steht.
Es gibt erfreulicherweise einen Zusammenschluss von 300 namhaften Firmen in Deutschland, die das erkannt und zugesagt haben, dass sie das ganz fair handhaben wollen. Mit denen zusammen möchten wir eine Organisation schaffen, damit klar wird, dass diese Entwicklung bei den Praktika, die nicht richtig ist, aufhört und dass wir da zu ordentlichen Ergebnissen kommen. Die jungen Leute, die von der Hochschule kommen, dürfen an der Stelle nicht ?missbraucht“ werden, sondern müssen eine ehrliche Chance bekommen. Unternehmen, die Arbeit haben, sollen die Leute einstellen, ihnen Geld bezahlen - einen ordentlichen Lohn geben - und sollen sie nicht missbrauchen auf so genannten Praktikaplätzen.
In den vergangenen Tagen haben wir es schon gehört: Wir wollen dadurch noch einmal Druck machen, dass wir einen Teil der Mittel aus dem 25-Milliarden-Programm für die energetische Gebäudesanierung vorziehen. Die Anträge für das Jahr 2006 sind längst gestellt und genehmigt. Nun wollen wir dafür sorgen, dass es da keinen Abbruch gibt. Die energetische Gebäudesanierung bleibt auch angesichts der Energiekosten, die wir haben, hoch interessant.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn Bund, Länder und Gemeinden sich noch einmal zusammensetzen und auch die öffentlichen Gebäude in eine solche Aktion einbeziehen würden. Das wäre eine wirklich gute Sache für Ende dieses Jahres, Anfang nächsten Jahres.
Öffentliche Investitionen können natürlich längst nicht alles, was man für die Konjunktur tun muss, leisten. Aber wir haben in Deutschland Arbeit. Wir leben an verschiedenen Stellen von der Substanz, auch was die Gebäude angeht. Wenn Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam darangehen, sehr schnell die energetische Gebäudesanierung und die Modernisierung von Kindergärten, Schulen, Hochschulen und öffentlichen Gebäuden zu forcieren, dann ist das auch noch einmal ein zusätzliches Angebot für das Handwerk in Deutschland und für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Den Weg müssen wir weitergehen. Es ist doppelt sinnvoll, dass wir das vorantreiben.
Im Januar werden die Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent sinken. Das wurde in den letzten Tagen intensiv diskutiert, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass die Bundesagentur uns einen erfreulichen Überschuss für dieses Jahr meldet. Ich bin dafür, dass wir damit ganz nüchtern umgehen. Wenn dauerhaft ein weiterer Überschuss bei der Agentur gesichert ist, dann bin ich dafür, dass man die Beiträge weiter senkt.
Ich bitte aber, dass Wort ?wenn“ mitzuhören. Ich möchte eine mittelfristige Finanzplanung der BA bis zum Jahre 2010 haben. Ich möchte nicht, dass wir im Verlauf der Legislaturperiode, im Jahre 2008 oder im Jahre 2009, einen neuen Zuschuss des Bundes geben müssen, weil dann kein Überschuss mehr da ist.
Das will ich bitte geklärt haben, ehe wir mal schnell daran gehen, Geld auszugeben. Es ist auch, glaube ich, solide, dass wir das in dieser Weise machen.
Ich habe erste Berechnungen dazu gesehen; da war das keineswegs selbstverständlich. Man muss berücksichtigen, dass 3,1 Milliarden Euro des Überschusses der Agentur aus dem Einmalvorgang der 13. Zahlung resultieren. Wir haben die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge vom 1. auf den 30. oder 31. eines Monats umgestellt. Deshalb gibt es in diesem Jahr 13 Zahlungen. Dieser Überschuss wird im nächsten Jahr fehlen. Deshalb muss man im Umgang mit diesen Mitteln vorsichtig sein.
Aber: Da soll nichts weggenommen werden. Wenngleich diese etwas überhöhe Debatte der letzten Tage darüber, wem das Geld eigentlich gehört, vielleicht doch noch einmal vor folgendem Hintergrund gesehen werden muss: Seit 1998 - die Kanzlerin hat es gestern auch gesagt - hat die Agentur jedes Jahr einen Zuschuss gebraucht.
- Herr Niebel, seit Sie weg sind, ist es etwas besser geworden.
Das bestätigen alle. Vielleicht hat es ja etwas mit Ihnen zu tun, dass der Überschuss jetzt aufgetreten ist.
In den letzten zehn Jahren hat die Agentur Zuschüsse in Höhe von 38,8 Milliarden Euro gebraucht, im Schnitt also etwa 4 Milliarden Euro pro Jahr. In diesem Jahr hat sie keinen gebraucht. Jetzt macht man sich groß und fordert: Dieses Geld muss sofort zurückgegeben werden. Dazu sage ich: Vorsicht, wir sollten an dieser Stelle ehrlich miteinander umgehen.
Die Initiative ?50 plus“ führen wir fort. In diesem Herbst werden wir auch im Parlament und in den Fraktionen intensiv darüber sprechen. Ich glaube, dass wir auf diesem Gebiet eine gute Entwicklung haben. Ziel der Koalition ist es, dass im Jahre 2010 50 Prozent derer, die 55 Jahre und älter sind, in Deutschland noch in Beschäftigung sind.
Ihr Anteil liegt zurzeit bei 45,4 Prozent. Diese Zahl müssen wir langsam aber sicher erhöhen, und zwar nicht nur, weil das im Rahmen der Lissabonstrategie so beschlossen wurde, sondern auch, weil das sinnvoll ist und wir diese Altersklasse in besonderer Weise brauchen.
Wir werden uns im nächsten Jahr um das Thema der zusätzlichen Altersvorsorge zu kümmern haben. Herr Brüderle hat mit dem, was er gestern dazu erzählt hat, seine völlige Unkenntnis zum Ausdruck gebracht.
Sie können ihm mitteilen: Bei der Altersvorsorge läuft es gut. Die betriebliche Altersvorsorge und die Riesterrente gewinnen. Hunderttausende kommen hinzu - im letzten Jahr 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen -, die jetzt auch nach Riester sparen.
In Deutschland muss ein Bewusstsein dafür entstehen, dass neben die gesetzliche Rente ein privates Rentensparen treten muss. Das muss selbstverständlich werden. Wir müssen das staatlicherseits unterstützen. Die Riesterrente unterstützen wir beispielsweise dadurch, dass wir einen erhöhten Kinderzuschlag in Höhe von 300 Euro zahlen und das Bauen oder Kaufen von Wohneigentum in die Riesterrente einschließen; denn ein Eigenheim bzw. eine Wohnung ist ein Gut, das man im Rahmen der Altersvorsorge gut gebrauchen kann. Altersvorsorge muss im Laufe dieser Legislaturperiode zu einer festen Größe in den Köpfen der Menschen werden. Wer in Deutschland in den Beruf geht, muss eigentlich gleichzeitig mit privater Altersvorsorge beginnen.
In diesem Zusammenhang appelliere ich an die Tarifparteien, dafür zu sorgen, dass dieses Thema in die Tarifverhandlungen einbezogen wird.
Der letzte Metall-Tarifvertrag ist da sehr gut. Da haben die Unternehmen und die Arbeitnehmer Regelungen gefunden, die alle Arbeitnehmer einschließen. Wenn uns das flächendeckend gelingt, muss man nicht mehr darüber sprechen, ob die Riesterrente obligatorisch sein sollte. Wenn man das im Rahmen der Tarifverträge regelt, sind auch die niedrigen Einkommensgruppen einbezogen sowie diejenigen, die aus eigenem Impuls heraus keinen Vertrag über eine Riesterrente abschließen würden. Dieses Moment der privaten Altersvorsorge wird uns im nächsten Jahr noch intensiv beschäftigen.
In den nächsten Wochen werden wir im Rahmen der Debatte über die Rentenreform über die Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre sprechen. Das ist zu präzisieren. Wir müssen das Gesetz erarbeiten. Anfang nächsten Jahres werden wir die entsprechenden Beschlüsse zu fassen haben. Darüber wird es sicher noch hinlängliche Diskussionen geben. Ich bin aber sicher, dass wir auf einem vernünftigen Weg sind. Bisher konnte man in Deutschland zwischen 60 und 65 Jahren in Rente gehen. Wenn man früher ging, musste man natürlich einen Abschlag hinnehmen. Dieses Fenster werden wir auf das Alter zwischen 62 und 67 Jahren vergrößern. Wer früher geht, muss weiterhin einen Abschlag hinnehmen. Angesichts der Tatsache, dass die Menschen länger leben, und das relativ gesund, dass die jungen Leute später in die Jobs gehen als meine Generation, ist es, so glaube ich, gerechtfertigt, zu sagen, dass wir diese Veränderung bei der gesetzlichen Altersrente Schritt für Schritt bis zum Jahr 2029 durchsetzen wollen.
In den vergangenen Wochen ist darüber spekuliert worden, ob die Renten erhöht werden können. Auch bei diesem Thema empfehle ich Vorsicht. Die Höhe der Rentenversicherungsbeiträge, die eingehen, sagt nichts über mögliche Rentenerhöhungen aus. Rentenerhöhungen sind an die Entwicklung der Löhne und Gehälter gebunden. Im Moment sind die Zahlen, die ich dazu bekomme, hochambivalent; anders kann man das nicht nennen. Denn ob es aufgrund der Arbeitsplätze, die es in diesem Jahr zusätzlich gibt, zu einer höheren Lohnsumme kommt und um wie viel die Löhne eigentlich steigen, wird man erst sehen, wenn man ein Stück weiter ist. Deshalb empfehle ich an dieser Stelle Vorsicht.
Ich sage aber den Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland: Wenn es nach den geltenden Gesetzen, also ausgerichtet an der Entwicklung der Löhne und Gehälter, Möglichkeiten zur Rentenerhöhung gibt, werden wir sie natürlich nutzen. Wir werden die Karte des Nachholfaktors nicht vor dem Jahre 2010 ziehen. Wenn es die Chance zur Rentenerhöhung gibt, werden wir die Renten erhöhen; ob es möglich ist, wird man sehen. Auch wenn Zeitungen mit ganz großen Buchstaben schön lange Tabellen dazu drucken und anschließend schreiben, ich würde mich weigern, den Menschen die Rente zu geben. dann sage ich hier - die offene Debatte muss ich bestehen; das weiß ich -: Es gibt ein Gesetz, und wenn laut Gesetz die Renten erhöht werden müssen, dann werden sie erhöht, und wenn nicht, dann in diesem Jahr noch nicht. Die Karte des Nachholfaktors werden wir jedenfalls nicht ziehen. Das sollten die Menschen bei uns im Land wissen.
Es gab in den letzten Tagen den Rat - es soll angeblich ein sachverständiger Rat sein -, dass man die 345 Euro Hartz IV bzw. das Arbeitslosengeld II kürzen soll. Ich weise darauf hin, dass das Kabinett am 23. August dieses Jahres beschlossen hat, dass wir auf der Grundlage der EVS, der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, bei der Sozialhilfe in Höhe von 345 Euro bleiben. Das werden Bundestag und Bundesrat noch zu beschließen haben.
Diese Entscheidung zur Sozialhilfe ist keine Daumenpeilung, keine Willkür, sondern gründet auf der Erfahrung der vergangenen Jahre. Es wird nichts gekürzt - es kann gar nichts gekürzt werden -, und da die Sozialhilfe die Referenzgröße für das Arbeitslosengeld II ist, sehe ich auch nicht, wie man beim Arbeitslosengeld II unter das Existenzminimum gehen könnte. Der Irrtum dessen, was da als sachverständig kommt, ist: Wenn man eine Kürzung um 30 Prozent vornehmen würde und den Menschen, denen die Zahlungen gekürzt werden, sagen würde, sie könnten dafür arbeiten, betrifft das nur 350 000 Personen - das schätzen die Sachverständigen selbst -, aber nicht die anderen 4 Millionen. Wir können nicht 4 Millionen Menschen sagen, dass wir um 30 Prozent kürzen, aber nicht wissen, wo sie zusätzliches Geld durch Arbeit herbekommen können. Deshalb finde ich, dass wir in dieser Frage eine klare Antwort geben müssen.
Wir werden in diesem Herbst eine intensive Debatte über den Niedriglohnbereich führen. Dazu wird es - das ist im Kabinett so vereinbart worden - Anhörungen unter der Leitung meines Hauses geben, und zwar zum Kombilohn, zum Mindestlohn, zum Zuverdienst, zum dritten Arbeitsmarkt und zur Effizienzverbesserung der Umsetzung im Bereich des Arbeitslosengeldes II. Das sind die fünf großen Themen, die behandelt werden müssen. Die Fraktionen wurden dazu angeschrieben. Wir werden Ende September mit diesen Beratungen beginnen.
Etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen bei uns im Land arbeiten im Niedriglohnbereich. Das heißt, sie erhalten einen Lohn, der unterhalb der Grenze liegt, die aus unserer Sicht akzeptabel ist. Wir müssen uns mit diesem Thema beschäftigen. Ich weiß, dass es dazu viele Fragezeichen gibt. Ich meine aber, dass wir eine offene und klare Debatte darüber führen sollten. Denn es ist zweifellos so, dass viele Menschen bei uns im Land die Erfahrung machen: Oben ist der Deckel drauf, der freie Fall nach unten ist eröffnet. Löhne in Höhe von 4 Euro, 3,50 Euro und 3 Euro pro Stunde - auch die habe ich gesehen - sind aus meiner Sicht sittenwidrig. Deshalb muss man als Politiker etwas dazu sagen und versuchen, es zu ändern.
Ich will abschließend ein Wort zu unserer europäischen Aufgabe sagen. Ich war Anfang der Woche bei einer ASEM-Konferenz. Dort tagten Arbeitsminister aus dem asiatischen und dem europäischen Raum. Wir werden natürlich während unserer europäischen Präsidentschaft im nächsten Jahr von Deutschland aus ganz besonders auf die soziale Dimension Europas zu achten haben. Wer die Zustimmung zu Europa haben will - das kann man aus den Abstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden lernen; Abstimmungen, die wir nicht bestehen mussten -, muss erreichen, dass die Menschen wieder das feste Gefühl haben können, dass Europa sich für sie lohnt, dass Europa so, wie es sich aufstellt, eine soziale Dimension hat. Diese Aufgabe müssen wir uns vornehmen. Wer Europa gut will, muss wollen, dass Europa den Menschen vermitteln kann, dass es mehr ist als eine Idee von Wettbewerb und Markt, dass es auch eine Idee des Zusammenlebens und der sozialen Dimension der Gesellschaften ist.
Wenn uns das im nächsten Jahr gelingt - damit werden wir uns auch im Rahmen der G 8 beschäftigen müssen -, dann haben wir, glaube ich, unseren Teil dazu beigetragen, dass Deutschland und Europa insgesamt einen guten Weg nehmen.
Ich bin für das Jahr 2007 ganz zuversichtlich, dass wir auf der Grundlage des vorliegenden Entwurfs einen guten Weg gehen können. Alle Spötter sind schon ein bisschen leiser geworden. Als ich in den vergangenen Tagen die Oppositionsreihen beobachtet habe, habe ich zunehmend das Gefühl bekommen, dass Ihnen das Pulver ausgeht
- das war heute Morgen Ihre erste Reaktion -, weil Sie genau merken, dass wir Recht haben. Wir haben in diesem Jahr, im Jahr 2006, mit unserer Politik des Anstoßens bzw. der Impulsgebung am Arbeitsmarkt und den daraus folgenden Konsequenzen einen Weg begonnen, der die Chance eröffnet, aus der Sparkurve herauszukommen und das zu erreichen, was wir wollen; einen soliden Haushalt, Arbeitslosigkeit runter und stabile Sozialsysteme. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Für die folgenden Redner gilt natürlich, dass sie wieder vom Rednerpult aus sprechen.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Claudia Winterstein von der FDP-Fraktion das Wort.
Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Minister, über die Haushaltsrisiken haben Sie verständlicherweise nicht gesprochen. Deswegen will ich das an dieser Stelle tun. Ihre Haushaltsplanung für das Jahr 2007 erweist sich nämlich erneut als unsolide. Ihr Haushaltsentwurf ist eine Quelle massiver Haushaltsrisiken. Das galt für den Haushalt des Jahres 2006 und das gilt auch für Ihren Haushaltsentwurf 2007. Wohin man schaut, drohen Haushaltslöcher.
Ich beginne mit dem schlimmsten Fehler, den Sie machen. Die Kosten für das Arbeitslosengeld II sind im Haushaltentwurf für das Jahr 2007 wieder zu gering angesetzt. Das hat nun schon Methode. 2005 haben 10 Milliarden Euro gefehlt und 2006 werden statt 24,4 Milliarden Euro wahrscheinlich 27 Milliarden Euro gebraucht. Dennoch setzen Sie für 2007 lediglich 21,4 Milliarden Euro an. Sie lügen sich in die Tasche. Denn die Zahl der Leistungsempfänger ist 2006 ebenso wie 2005 ständig gestiegen. Bisher gibt es keine Anzeichen für eine Trendwende. Hier liegt das größte Haushaltsrisiko Ihres Etatentwurfs.
Es droht ein Haushaltsloch von etwa 3,5 Milliarden Euro. Wenn sich das nur zur Hälfte bewahrheitet, dann ist der Haushalt 2007 erneut verfassungswidrig.
Denn nach dem Haushaltsplan liegen die Investitionen um gerade einmal 1,5 Milliarden Euro über der Neuverschuldung. Dringend nötig sind deshalb weitere Reformen bei Hartz IV. Die Koalition aber schiebt diese Debatte schon seit Monaten vor sich her. Die Union spricht von einer Generalrevision, die SPD nur von Nachbesserungen. Tatsächlich aber geschieht nichts.
Von dem angekündigten Gesamtkonzept zu den Themen Kombilohn, Mindestlohn und Hartz IV ist bisher nicht einmal ein grober Rahmen zu erkennen.
Die Koalition ist uneinig und hilflos.
Nächster kritischer Punkt: die Beteiligung des Bundes an den Unterkunftskosten der Empfänger des Arbeitslosengeldes II. 2006 hat der Bund hierfür nach großem Streit 3,9 Milliarden Euro gezahlt. Das war erheblich mehr als das, was nach den Berechnungen der Bundesregierung notwendig und berechtigt gewesen wäre. Diesen Frieden haben Sie sich teuer erkauft. Jetzt holt Sie dieses Problem in voller Schärfe ein: Auf der einen Seite stehen die Länder, die 2007 ganze 5,5 Milliarden Euro haben wollen, auf der anderen Seite steht die Bundesregierung, die im Haushaltsentwurf 2007 lediglich 2 Milliarden Euro eingeplant hat. Hier droht wiederum ein milliardenschweres Haushaltsloch.
Für die FDP will ich klar sagen: Es darf nicht sein, dass sich der Bund noch einmal in der Weise über den Tisch ziehen lässt, wie es 2006 der Fall war.
Ein weiterer kritischer Punkt: der Aussteuerungsbetrag. Der Bund verlangt von der Bundesagentur für Arbeit eine Strafzahlung in Höhe von 10 000 Euro für jeden Arbeitslosen, der vom Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II wechselt. Dieser Aussteuerungsbetrag wird im Haushaltsentwurf für das Jahr 2007 mit 5,1 Milliarden Euro und damit um 1,1 Milliarden Euro höher als im Haushalt 2006 angesetzt. Das schafft wiederum ein Haushaltsrisiko; denn in diesem Jahr musste der erwartete Wert bereits von 5 auf 4 Milliarden Euro korrigiert werden. Damit liegt er wahrscheinlich immer noch zu hoch: Man geht mittlerweile eher von 3,7 Milliarden Euro aus. Sie lügen sich also wieder in die Tasche. Wo bleiben denn hier Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit, Herr Müntefering?
Es geht hier aber auch um ein grundsätzliches Problem: Mit dem Aussteuerungsbetrag bereichert sich der Bund unzulässig aus Beitragsgeldern.
Forderungen, den Aussteuerungsbeitrag auch noch zu erhöhen, lehnt die FDP deshalb eindeutig ab, ebenso wie andere Ideen, Beitragsgelder einfach in den Bundeshaushalt umzuleiten.
Damit meine ich zum Beispiel die Debatte über die Verwendung der Überschüsse der Bundesagentur.
Diese Gelder dürfen nicht zur Haushaltskonsolidierung genutzt werden. Die Bundesagentur hat völlig Recht, wenn sie hier mit Klage droht. Die Mittel der Bundesagentur stammen aus den Beiträgen der Versicherten und der Arbeitgeber. Von diesem Geld hat der Bund die Finger zu lassen!
Wenn die Bundesagentur Überschüsse erwirtschaftet, müssen diese Mittel den Beitragszahlern zurückgegeben werden, also muss der Beitragssatz gesenkt werden, um so Arbeitgeber und Arbeitnehmer direkt zu entlasten.
Nun hat die Bundesagentur für 2006 einen Überschuss von etwa 9 Milliarden Euro zu erwarten. Mit diesem Polster kann sie für 2007 die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 Prozent absichern. Ein Großteil dieses Überschusses fließt also richtigerweise in die Senkung des Beitragssatzes. Aus der Sicht der FDP muss das aber für den gesamten Überschuss gelten. Er muss für die Senkung des Beitragssatzes genutzt werden, für nichts anderes.
Leider wird das in der Koalition nicht mit der notwendigen Klarheit gesehen. Der Kollege Schneider von der SPD zum Beispiel hat bei der Veröffentlichung der neuen Zahlen gleich erklärt, es käme jetzt darauf an, diesen Überschuss der Bundesagentur in den Bundeshaushalt zu überführen. Herr Schneider, auch als Haushälter dürfen Sie sich nicht so weit vergessen, Beitragsmittel einfach in die Taschen des Staates umzuleiten.
Nächster Punkt: Arbeitsmarkt. Die Zahlen sind ein wenig besser geworden - das freut uns alle -, allerdings fürchten die Sachverständigen, dass diese erfreuliche Entwicklung gleich im nächsten Jahr durch Mehrwertsteuererhöhung und Konjunktureinbruch wieder gestoppt wird. Jedenfalls sind die leichten Verbesserungen kein Grund, sich auszuruhen. Wo sind also die notwendigen Reformen des Arbeitsmarktes? Fehlanzeige, in jeder Hinsicht! Die große Koalition glänzt hier durch Nichtstun.
Beim Kündigungsschutz distanziert sich die Koalition inzwischen sogar von ihrem eigenen Koalitionsvertrag: Die SPD will ohnehin überhaupt keine Reform, und die Union hat inzwischen eingesehen, dass das, was im Koalitionsvertrag steht, weniger statt mehr Flexibilität bringen würde, und will diese Verschlimmbesserung nun auch nicht mehr.
Stattdessen gerät die Regierung immer weiter auf die schiefe Bahn einer Debatte über einen generellen Mindestlohn. Gerade hat das Kabinett die Ausweitung des Entsendegesetzes auf die Gebäudereiniger beschlossen. Der nächste Versuch, das Entsendegesetz auszuweiten, wird sicher nicht lange auf sich warten lassen. Minister Müntefering hat seine Zielrichtung ja ganz offen präsentiert. Er hat gesagt:
Da muss man jetzt versuchen, das Feld Zug um Zug aufzurollen.
Er will also ein Entsendegesetz für alle Branchen, einen lückenlosen Mindestlohn. Ich kann hier nur wiederholen: Ein Mindestlohn ist maximaler Unsinn: Entweder ist er zu niedrig - dann ist er wirkungslos - oder er ist zu hoch - dann vernichtet er Arbeitsplätze.
Herr Minister, das Fazit ist für mich klar: Ihr Haushaltsentwurf enthält die größten Risiken für den Gesamthaushalt. Dabei müsste Ihr Hauhalt als der größte Einzeletat gerade mit besonderer Sorgfalt gestaltet sein. Leider ist das Gegenteil der Fall.
Danke.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Ronald Pofalla von der CDU/CSU-Fraktion.
Ronald Pofalla (CDU/CSU):
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einem Dreivierteljahr führt Angela Merkel die neue Bundesregierung. Ich finde, die Debatte zu diesem Haushalt gibt Anlass, deutlich zu sagen, dass die Zwischenbilanz auf dem Arbeitsmarkt lautet: Deutschland hat die Trendwende geschafft.
Nach langer, langer Zeit sind die Fakten wieder positiv. Zum ersten Mal seit fünf Jahren, also seit 60 Monaten, steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse wieder an. 60-mal hat Nürnberg mitgeteilt, dass es immer weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt. Nun verzeichnen wir bereits drei Monate hintereinander wieder einen Anstieg. 128 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr als vor einem Jahr sind nach meiner festen Überzeugung ein außerordentlich positives Signal, das wir auch entsprechend zur Kenntnis nehmen sollten.
Daneben gibt es eine weitere Entwicklung, nämlich bei der Anzahl der Erwerbstätigen. In diesem Bereich haben wir den dritthöchsten Stand im Nachkriegsdeutschland erreicht. Durch diese Entwicklung wird ebenfalls deutlich, dass sich in den letzten Wochen und Monaten auf dem Arbeitsmarkt Beachtliches verändert hat. Verglichen mit dem August des Vorjahres haben wir in Deutschland 430 000 Arbeitslose weniger. Das ist ein echt positives Signal für den Arbeitsmarkt.
Diese Verbesserungen sind aber nicht vom Himmel gefallen. Die Abschaffung der Ich-AG ist in Kraft; hier gibt es endlich ein solides und Erfolg versprechendes Förderkonzept. Die Personal-Service-Agenturen sind von der Bildfläche verschwunden, weil sie ineffizient waren und staatliche Gelder verschleudert haben.
Bei Hartz IV haben wir als große Koalition, wie ich finde, eine grundlegende Kurskorrektur vorgenommen. Dass wir die Einstandspflicht der Eltern für ihre Kinder wieder eingeführt haben, war ein erster richtiger Schritt. Damit sind nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion alte Fehler korrigiert worden.
Daneben haben wir gemeinsam verabredet, die Unternehmen am Standort Deutschland zu stärken und um über 5 Milliarden Euro zu entlasten. Das zeigt: Es wurde viel getan.
Es bleibt aber auch noch viel zu tun. Zur Zwischenbilanz gehört deshalb auch die Aussage, dass wir den Kurs weiter halten müssen. Nach meiner Überzeugung müssen wir das Tempo an verschiedenen Stellen sogar erhöhen; denn die Herausforderungen sind nach wie vor groß - hier dürfen wir uns nicht täuschen -, weil uns die Zahlen am Arbeitsmarkt noch nicht zufrieden stellen können. Wir haben nach wie vor über 4 Millionen Arbeitslose. Diesen 4 Millionen Arbeitslosen stehen gerade einmal 600 000 offene Stellen gegenüber. Über 1 Million Bürger sind ein Jahr oder länger arbeitslos. Fast doppelt so viele sind ohne jede berufliche Bildung. Rund 80 000 Jugendliche - diese Zahl finde ich besonders bedrückend - verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Abschluss. Diese Zahlen zeigen, dass es heute für Millionen Menschen heißt: passive Stütze statt beruflicher Perspektive. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, dass sich das in Deutschland in den nächsten Monaten ändern muss.
Durch die zitierten Fakten werden aber nicht nur die Herausforderungen beschrieben, vor denen wir stehen. Sie sind auch der Weckruf für all diejenigen, die sich nach wie vor für einen Mindestlohn aussprechen. Ich danke daher Franz Müntefering, dass er bereits auf dem DGB-Bundeskongress im Mai 2006 klare Worte gegen den gesetzlichen Mindestlohn gefunden hat.
Er hat sich nicht nur auf dem DGB-Bundeskongress entsprechend aufgestellt, Frau Nahles, sondern er hat auch die Kraft besessen, die unfreundlichen Reaktionen auf dem DGB-Bundeskongress hinzunehmen und dennoch die, wie ich finde, glasklare und richtige Position zu vertreten, dass ein gesetzlicher Mindestlohn mit dieser großen Koalition in dieser Legislaturperiode nicht zu machen ist. Herzlichen Dank an Franz Müntefering!
Die Wirklichkeit sieht doch folgendermaßen aus: Wenn wir in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn einführen würden, würden wir Hunderttausende von Arbeitsplätzen vernichten, weil hier - Gott sei Dank - immerhin mehr als 1 Million Menschen im Niedriglohnbereich arbeiten. Von daher ist für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion klar: Für uns ist ein gesetzlicher Mindestlohn völlig inakzeptabel. Diejenigen, die diese Forderung weiterhin aufstellen, werden sich an uns die Zähne ausbeißen.
Diese klare Position der Union wird auch im aktuellen Gutachten des Sachverständigenrates bestätigt.
Die Kernbotschaften des neuen Gutachtens des Sachverständigenrates lauten: Erstens. Der Weg in den Mindestlohn ist falsch. - Für unsere Fraktion kann ich nur sagen: Dem stimmen wir zu. -
Zweitens. Der Weg über den Kombilohn ist richtig. - Dem stimmen wir ebenfalls zu.
Drittens spricht sich der Sachverständigenrat in dem Gutachten, das morgen der Öffentlichkeit vorgestellt werden wird, für echte Strukturreformen am Arbeitsmarkt aus; darauf lege ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion großen Wert. Der Sachverständigenrat macht, wie ich finde, zu Recht deutlich, dass wir die strukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland nur dann wirksam werden bekämpfen können, wenn wir grundlegende Strukturreformen am Arbeitsmarkt vornehmen. Auch an dieser Stelle gibt es Zustimmung vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Ich empfehle allen, die das Gutachten des Sachverständigenrates vorschnell mit einer Fundamentalkritik überzogen haben, sich die Details dieses Gutachtens anzusehen. Es ist vernünftig, allen Arbeitslosen ein Arbeitsangebot zu unterbreiten. Genau das haben wir für die Jugendlichen bereits gemeinsam beschlossen. Es ist richtig, dass denjenigen, die ein Arbeitsangebot ablehnen, die Sozialleistungen deutlich gekürzt werden. Diese Position haben wir vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon immer vertreten.
Es entspricht genau unserer Philosophie, dezentral zu entscheiden. Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten vorgeschlagen - diese Position haben wir als Unionsfraktion schon seit mehreren Jahren vertreten -, dass der eigentliche Kernbereich des Arbeitsmarktes vor allem für die Langzeitarbeitslosen und für die Geringqualifizierten von den Kommunen organisiert werden soll. So gesehen ist dies ein bemerkenswertes Gutachten, das wir uns vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch einmal ansehen werden, um daraus in den Gesprächen in der Koalition die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
Dieses Gutachten ist an einer Stelle falsch wiedergegeben worden. Sie alle haben in den Zeitungen gelesen, dass der Sachverständigenrat beim Arbeitslosengeld II eine generelle Kürzung von 30 Prozent vorschlägt. In dem Gutachten steht, dass allen Arbeitsfähigen in Deutschland ein Arbeitsangebot unterbreitet werden soll und dass denen, die dann dieses Arbeitsangebot nicht annehmen, 30 Prozent der Leistungen gekürzt werden sollen. Genau das halten wir vonseiten der Unionsfraktion für richtig.
Unser gemeinsames Ziel ist: Wir wollen die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt verstetigen. - Dass Sie, Herr Kuhn, als jemand, der in der vergangenen Regierungskoalition auch für das Thema Arbeitsmarkt zuständig war, dazwischenreden, wundert mich.
Wenn zu Ihrer Regierungszeit die Daten, die ich gerade genannt habe - 430 000 weniger Arbeitslose und 130 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse -, so gewesen wären,
dann hätten Sie doch vonseiten der Grünen in Deutschland Freudenfeste organisiert. Deshalb sollten Sie an dieser Stelle besser schweigen.
Die große Koalition wird im Herbst verschiedene Projekte angehen müssen. Wir werden ein Kombilohnmodell entwickeln müssen. Für die über 50-Jährigen und für die unter 25-Jährigen haben wir eine gute Grundlage geschaffen. Auf dieser Grundlage werden wir Geringqualifizierten über 50 Jahren und Geringqualifizierten unter 25 Jahren ganz gezielt die Möglichkeit bieten, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Unser Ziel sollte sein, über ein solches Kombilohnmodell in den nächsten Jahren bis zu 200 000 Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen.
Wir werden uns mit dem Bereich aktiver Arbeitsmarktpolitik zu befassen haben. Ich sage es glasklar: Die Bundesagentur schlägt selber vor, von den 80 Instrumenten, die ihr zur Verfügung stehen, auf zehn herunterzugehen, um die verbleibenden Instrumente wirkungsvoller im Arbeitsmarkt einzusetzen. Das entspricht der Absicht der Unionsfraktion, die Arbeitsmarktinstrumente so zu bündeln, dass sie endlich Wirkungen im Arbeitsmarkt zeigen. Dafür werden wir uns einsetzen.
Wir müssen uns auch mit Optimierungen im Zusammenhang mit Hartz IV befassen. Es kann nicht sein, dass Arbeitsagenturen bei Arbeitslosen, die sich krankmelden, erst nach sechs Monaten nachforschen, ob sie tatsächlich nicht arbeiten können. Es kann nicht sein, dass Vermittler nur in vier von zehn Fällen Hinweisen nachgehen, dass ein Langzeitarbeitsloser gegen Auflagen verstößt. Es kann nicht sein, dass bei Ausländern in mehr als jedem fünften Fall noch nicht einmal geprüft wird, ob eine deutsche Arbeitserlaubnis vorliegt. Wir werden über Effizienzsteigerungen bei den Überprüfungsmechanismen im Zusammenhang mit Hinweisen auf Missbrauchsfälle reden müssen,
weil die Leistungskraft derer, die diese Kontrollen durchführen, erhöht werden muss. Es geht um Steuergelder, die für das Arbeitslosengeld II eingesetzt werden. Deshalb muss die Überprüfungspraxis der Bundesagentur deutlich verbessert werden.
Wir werden auch über den Kündigungsschutz zu reden haben.
- Ja. - Werfen Sie mal einen Blick in die Studie der Weltbank, die in den letzten Tagen veröffentlicht worden ist! Danach liegt Deutschland auf Platz 129, hinter Ländern wie Papua-Neuguinea, Jamaika, Trinidad oder Tobago.
Ein zentraler Grund für diesen Platz der Bundesrepublik Deutschland - das ist zumindest die Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - ist der Kündigungsschutz.
Wir brauchen beim Kündigungsschutz weitere deutliche Flexibilisierungen, wenn wir den Arbeitsmarkt in Bewegung bringen wollen.
Ich will noch zwei Bereiche nennen, die über den Koalitionsvertrag hinausgehen, aber über die wir unserer Ansicht nach in der großen Koalition reden sollten. Die Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht in diesen Tagen einen ersten Entwurf für ein Arbeitsgesetzbuch. Im Grunde wird in allen Analysen, die sich mit dem Arbeitsmarkt befassen, deutlich, dass die unübersichtliche Anzahl der Gesetze und Verordnungen sowie die Rechtsprechung im Arbeitsrecht das Ziel richtig erscheinen lassen, in der Bundesrepublik Deutschland ein Arbeitsgesetzbuch zu schaffen. Wir haben im Einigungsvertrag festgelegt, dass wir in Deutschland ein Arbeitsgesetzbuch schaffen wollen. Wir sind der Auffassung, dass die große Koalition das Ziel in Angriff nehmen sollte, in dieser Legislaturperiode über ein Arbeitsgesetzbuch zu beraten und es nach Möglichkeit auch zu verabschieden.
Der zweite Bereich ist die Arbeitnehmerbeteiligung. Der Bundespräsident hat zu Beginn des Jahres angeregt, dass wir uns mit der Frage der Arbeitnehmerbeteiligung befassen sollten. Die Bundes-CDU hat Anfang des Jahres eine Kommission unter Leitung von Karl-Josef Laumann eingesetzt, die jetzt ihre Ergebnisse veröffentlich hat. Aus diesen Ergebnissen wird deutlich, dass wir sehr wohl die Chance haben, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärker an den Erträgen und am Kapital der Unternehmen zu beteiligen. Wir sind der Auffassung, dass die große Koalition im Verlauf dieser Legislaturperiode auch das Ziel in Angriff nehmen sollte, sich mit der Frage der Verbesserung der Arbeitnehmerbeteiligung zu befassen; denn wir sind der festen Überzeugung, dass ein zusätzliches Standbein für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen werden kann, indem sie am Produktivvermögen der Unternehmen in Deutschland beteiligt werden. Wir jedenfalls wollen dieses Ziel in Angriff nehmen.
Erlauben Sie mir eine abschließende Anmerkung zu den Überschüssen der Bundesagentur. Ich bin dem Bundesarbeitsminister außerordentlich dankbar, dass er gerade so deutlich Stellung bezogen hat. Um es klar zu sagen: Auf der Basis eines Überschusses in Höhe von 8,8 Milliarden Euro fehlten uns in den Jahren 2007, 2008 und 2009 lediglich 1,2 Milliarden Euro pro Jahr, um eine zusätzliche Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags um 0,5 Prozentpunkte sicherzustellen. Ich finde, dass wir uns im kommenden Herbst die Zahlen genau ansehen sollten; denn möglicherweise fällt der Überschuss der Bundesagentur für Arbeit höher aus als 8,8 Milliarden Euro. Aber selbst wenn es dabei bleibt: Wir geben in Deutschland 15 Milliarden Euro für Arbeitsmarktinstrumente aus. Diese große Koalition sollte daher, wenn der Überschuss der Bundesagentur für Arbeit nicht ausreicht, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zusätzlich um 0,5 Prozentpunkte zu senken, -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Pofalla, denken Sie an die Zeit.
Ronald Pofalla (CDU/CSU):
- darüber nachdenken, woher die für diese Senkung benötigte 1 Milliarde Euro kommen soll. Dazu sollte diese Koalition eigentlich die Kraft haben.
Wir, die Unionsfraktion, sprechen uns jedenfalls für eine Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags auf 4 Prozent aus.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Minister für Arbeit, Bau und Landesentwicklung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Helmut Holter.
Helmut Holter, Minister (Mecklenburg-Vorpommern):
Stimmt, Herr Niebel, es ist auch Wahlkampf. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Pofalla, Ihre Botschaft, dass eine Trendwende am Arbeitsmarkt eingetreten sei, nehmen die Menschen im Lande so nicht wahr.
Sie nehmen vielmehr zwei Dinge wahr, die in den letzten Tagen von Berlin aus verbreitet wurden:
Erstens. Die Bundesagentur für Arbeit hat einen großen Überschuss. Aber sie bzw. die Arbeitsgemeinschaften sind nicht in der Lage, weitere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu genehmigen, weil das Geld fehlt. Das verstehen die Bürgerinnen und Bürger nicht, genauso wenig wie ich.
Zweitens. Der Sachverständigenrat hat - ich bin Ihnen dankbar, Herr Müntefering, dass Sie das klargestellt haben - eine Senkung des Arbeitslosengeldes II um 30 Prozent empfohlen. Das hat nichts mit dem Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern zu tun, sondern damit, dass dies den Unmut breiter Schichten der Bevölkerung hervorruft, und zwar nicht nur derjenigen, die vom Arbeitslosengeld II leben müssen.
Dass dem so ist, will ich Ihnen an einem Beispiel zeigen. Sie kennen sicherlich nicht Dirk Susemihl. Er ist jedenfalls ein Mecklenburger, der als Koch in großen Hotels und auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet hat und nun Arbeitslosengeld II empfängt und vergeblich Arbeit sucht. Er schreibt Bewerbungen, erhält aber nur Absagen. Er gibt nicht auf und wendet sich an einen privaten Vermittler. Dieser sagt ihm: Bring mir einen Vermittlungsgutschein; dann habe ich einen Job für dich. Die Arbeitsagentur erklärt hingegen: Du kannst keinen Vermittlungsgutschein bekommen, weil kein Geld da ist. - Solche Widersprüche müssen aufgelöst werden. Meine Heimatzeitung, die ?Schweriner Volkszeitung“, hat das Ende August unter der Überschrift ?Arbeitsamt blockiert Jobs“ dokumentiert. Das ist dort nachzulesen. Das ist eigentlich ein riesengroßer Skandal.
Ich rede nicht über diejenigen, die nach Arbeit lechzen, sondern über diejenigen, die ein Arbeitsangebot haben, dieses aber nicht annehmen können, weil einige Euro fehlen, um einen Vermittlungsgutschein oder einen Bildungsgutschein auszustellen. Dirk Susemihl ist kein Einzelfall. Ich könnte Ihnen über viele ähnlich gelagerte Fälle in Mecklenburg-Vorpommern berichten. So entsteht der Eindruck: Die in Berlin veralbern uns im Land. Damit muss meines Erachtens Schluss gemacht werden. Über Alternativen darf nicht nur diskutiert werden. Vielmehr müssen auch welche angepackt werden.
Ich rede im Moment noch nicht einmal über die Langzeitarbeitslosen, sondern über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaften, die ebenfalls aufgebracht sind, weil sie mit den politischen Entscheidungen nicht umgehen können. Was bedeutet es denn, 230 Millionen Euro von 1,1 Milliarden Euro, die zuvor gesperrt wurden und den Arbeitslosen nicht zugute kommen, freizugeben? Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, um nun all die Maßnahmen, die schon lange vorbereitet wurden, in Gang zu setzen. Ich fordere Sie auf: Geben Sie den Rest der 1,1 Milliarden Euro ebenfalls frei, damit die Langzeitarbeitslosen endlich in den Genuss von arbeitspolitischen Maßnahmen kommen!
Ich habe den Eindruck - schließlich geht es um eine Haushaltsdebatte -, dass Sie Arbeitsmarktpolitik unter haushälterischen Gesichtspunkten betreiben und nicht aus Sicht der Betroffenen, die das Geld bitter nötig haben.
Das ist irgendwie wie beim Autofahren: Einmal wird gebremst, ein anderes Mal Gas gegeben. Einmal sperren Sie, ein anderes Mal geben Sie frei.
Jeder, der schon einmal mit einem solchen Fahrer gefahren ist, weiß: Das schlägt mächtig auf den Magen. Mit einem solchen Stil sollte Schluss gemacht werden. 2006 sollte das Desaster sein Ende finden, damit Planungssicherheit für die Arbeitsgemeinschaften, die Projektträger, die Beschäftigungsgesellschaften und für all diejenigen Langzeitarbeitslosen, die in solchen Projekten arbeiten wollen, gewährleistet ist; denn das Arbeitsangebot, von dem Herr Pofalla gerade gesprochen hat, ist in strukturschwachen Regionen gar nicht so vorhanden. Auch das gehört zur Wahrheit.
Ich will mich dem Einzelplan 11 zuwenden. Ihnen, Herr Müntefering - davon bin ich überzeugt -, wird es nicht gelingen, mit diesem Einzelplan Ihre Glaubwürdigkeit zu stärken. Es wurde bereits gesagt: Der Aussteuerungsbetrag soll um 27,5 Prozent erhöht werden. Das heißt, Sie gehen davon aus, dass mehr Arbeitslose aus dem Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II wechseln werden. Was für eine Politik ist das? Sie planen von vornherein ein, dass die Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland zunehmen wird.
Im Übrigen kenne ich keine Versicherung in Deutschland, die die Gelder, die die Versicherten aufgebracht haben, für andere Zwecke als die der Versicherten verwenden will.
Ich verstehe absolut nicht, warum von der Arbeitslosenversicherung ein Aussteuerungsbetrag an den Bund gezahlt werden soll. Dieses Geld, nicht nur der Überschuss, muss den Versicherten zugute kommen. Sie haben es bitter nötig. Ich bitte Sie daher, dieses Prinzip noch einmal grundlegend zu überdenken.
Sie wollen aber auch die Mittel für das Arbeitslosengeld II um 3 Milliarden Euro und die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft um 1,6 Milliarden Euro kürzen. Sie planen also, die Kommunen stärker zur Kasse zu bitten, obwohl bei diesen wirklich nichts mehr zu holen ist. Ich weiß nicht, in welche Taschen Sie da greifen wollen. Auf der anderen Seite wollen Sie die Leistungen für die Langzeitarbeitslosen kürzen.
Es ist richtig, dass Sie mit 6,5 Milliarden Euro 30 Millionen Euro mehr für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit bereitstellen. Gleichzeitig planen Sie aber von vornherein 1 Milliarde Euro für Mehrausgaben beim Arbeitslosengeld II ein. Sie wollen also Mittel für die passiven Leistungen vom Mittelansatz für die aktiven Leistungen abzweigen. Wir brauchen das Geld aber für die aktiven Leistungen. Sie betreiben ein reines Hin- und Hergeschiebe. Ich fordere Sie auf: Machen Sie damit Schluss! Sorgen Sie dafür, dass eine klare Haushaltsplanung zur Verfügung steht und ausreichend Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vorhanden ist! Fassen Sie neuen Mut und leiten Sie eine Wende in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in Deutschland ein!
Einige von Ihnen, vielleicht alle, wissen, dass ich diese Wende schon seit Jahren gefordert habe, speziell für den Osten. Inzwischen ist Langzeitarbeitslosigkeit aber nicht nur ein Thema in den neuen Ländern; es steht in der gesamten Bundesrepublik auf der Tagesordnung. Deswegen stellt sich eine große Frage: Was machen wir mit all denen, die keine Chance auf Vermittlung in reguläre Arbeitsverhältnisse haben? Ich bin bereit, über alle Modelle zu diskutieren; das ist sicherlich bekannt. Aber sollen diejenigen, die die Chance auf Vermittlung nicht haben, dauerhaft von Hartz IV, von 345 Euro, leben? Können Sie sich das vorstellen? Schließen Sie Ihre Konten, geben Sie mir alle Ihre Scheckkarten; Sie erhalten Ihre Miete und die Kosten für Telefon, Wasser und Licht. Nehmen Sie 345 Euro und versuchen Sie, ohne Empfänge und irgendwelche Einladungen einen Monat durchzukommen. Ich garantiere Ihnen: Am 10. des Monats werden Sie um einen Notgroschen bitten. Sie werden mit 345 Euro nicht klarkommen.
Deswegen müssen wir über andere Wege reden.
Wir müssen über sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse reden, auch über die, die durch öffentliche Kassen unterstützt werden. Ich rede ganz bewusst vom öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Damit stehe ich nicht alleine. Der DGB fordert dies, in der Bundesagentur für Arbeit wird darüber gesprochen, auch beim Bündnis 90/Die Grünen. Es ist auch ein Thema im Ombudsrat. Kurt Biedenkopf ist nicht linksparteiverdächtig, er gehört der CDU an. Willkommen an Bord!
Es gibt inzwischen viele, die über öffentlich geförderte Beschäftigung in Deutschland reden. Ich stelle einen Stimmungswandel bei all denen fest, die sich ehrlich und ernsthaft mit Arbeitslosigkeit in Deutschland auseinander setzen. Es gibt keinen anderen Weg, als eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung anzubieten, die mit Steuermitteln finanziert wird. Die Langzeitarbeitslosen - das ist hinreichend bekannt - nehmen zwar gern einen 1-Euro-Job an. Das ist aber so etwas Ähnliches wie ein Freigang aus dem Gefängnis Arbeitslosigkeit, in dem sich die Langzeitarbeitslosen unverschuldet befinden. - Es ist wie mit dem Wetter, Herr Pofalla: Es gibt die gefühlte und die gemessene Temperatur. Die Statistik ist das eine, das wirkliche Leben ist das andere. Wir müssen dazu beitragen, dass sich die Gefühlswelt der Menschen verändert.
Es ist bereits angesprochen worden, dass wir uns im Wahlkampf befinden.
Es gibt nicht nur Umfragen zum Wahlverhalten in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin, sondern es wird auch gefragt, was das größte Problem für die Menschen ist. Ich bin nun der dienstälteste Arbeitsminister in Deutschland und bin in dem Land mit der höchsten Arbeitslosigkeit.
- Warten Sie einmal ab! Ich komme noch dazu, keine Sorge. - Deswegen, meine Damen und Herren von der FDP und der CDU/CSU, rede ich über alternative Wege aus der Arbeitslosigkeit; denn all das, was bisher gelaufen ist, zeigt keine Wege aus der Arbeitslosigkeit. Meiner Auffassung nach - das bestätigen die Umfragen - ist die Arbeitslosigkeit das größte Problem. Dann kommt erst einmal eine ganze Zeit gar nichts, dann folgen Abwanderung, Unsicherheit, Umweltschäden und andere Dinge, die eher als marginal erachtet werden können. Deswegen geht es darum, Alternativen nicht nur zu diskutieren, sondern auch umzusetzen.
Ich fordere Herrn Müntefering auf, Mut zu haben. Wir beide hatten Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Wir haben eine inhaltliche Nähe in den Fragen, was man machen muss, festgestellt.
- Ich habe auch zu meinen Kollegen von der CDU/CSU in manchen Fragen eine inhaltliche Nähe. Das ist gar nicht mein Problem. Ihr Problem, Herr Niebel, ist, dass Sie Alternativen durch die parteipolitische Brille begutachten. Das bringt den Arbeitslosen doch überhaupt nichts.
Es stellt sich die Frage, ob es ausreichend gemeinnützige Tätigkeiten im Lande gibt, um all diejenigen, die arbeiten können und arbeiten wollen, in Arbeit zu bringen. Es mangelt doch nicht an der Marktfähigkeit der Arbeitslosen, sondern es fehlt an fähigen Arbeitsmärkten. Es ist die Aufgabe der Politik, solche Arbeitsmärkte zu organisieren, damit die Menschen eine Chance auf Arbeit haben.
Ich stelle ein Umdenken fest, nicht nur im linken Lager, sondern auch in anderen Bereichen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen können.
Axel Troost, jetzt Abgeordneter hier im Deutschen Bundestag, ist einer der Väter der gemeinwohlorientierten Arbeitsförderprojekte in Mecklenburg-Vorpommern. Kornelia Möller, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion, hat mit ihm gemeinsam einen Antrag zur öffentlich finanzierten Beschäftigung geschrieben. Ich unterstütze diesen Antrag und ich bitte Sie: Legen Sie die parteipolitische Brille ab und prüfen Sie den Antrag - Herr Andres, wir beide hatten Gelegenheit, viel über diese Fragen zu diskutieren - auf die Machbarkeit hin! Überwinden Sie die ideologischen und ordnungspolitischen Schranken! Es ist nicht zuerst eine Frage des Geldes, sondern eine Frage des politischen Willens, ob ein solcher Weg gegangen werden kann oder nicht. Ich fordere Sie auf, diesen Weg zu gehen.
Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern die Rechte der Betroffenen gestärkt. Wir haben regionalisiert, wir haben Regionalbeiräte gebildet und haben den Betroffenen Sitz und Stimme bei der Vergabe von Fördermitteln gegeben. Das ist kein Plädoyer für Kommunalisierung. Da unterscheiden wir uns deutlich von der CDU/CSU. Es geht vielmehr um die Demokratisierung der Entscheidung.
Es geht darum, dass die Betroffenen mitmachen können. Ich meine, unsere Republik braucht eine stärkere Demokratisierung der Arbeitsmarktpolitik.
Nun, meine Damen und Herren von der FDP und der CDU/CSU, gehört es nach meiner Auffassung zu den Lebenslügen in Deutschland, dass die Massenarbeitslosigkeit konjunkturell bedingt ist und mit den herkömmlichen Instrumenten wirkungsvoll zu bekämpfen ist. Selbst wenn ihre Zahl von 80 auf zehn reduziert wird, es bleibt bei den herkömmlichen Instrumenten. Einige davon sind gut; die lehne ich nicht ab. Die Experten sagen für Mecklenburg-Vorpommern voraus, dass nur eine bzw. einer von zwei Arbeitslosen wieder eine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt finden wird. Für Zehntausende oder gar Hunderttausende in der Bundesrepublik ist der Zug längst abgefahren. Die Arbeitsmarktforscher sagen, dass in den nächsten 15 Jahren in Ostdeutschland eine weitere Million Arbeitsplätze wegfallen wird. Deswegen bin ich der Überzeugung, dass an der öffentlich finanzierten Beschäftigung kein Weg vorbeiführt. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Weg gehen. Es gibt genug Arbeit, die ein Unternehmen, das nach privatwirtschaftlichen Prinzipien arbeitet, überhaupt nicht machen kann und auch nicht machen soll; wir müssen da differenzieren. Es ist wichtig, dass über gemeinnützige Tätigkeiten ein Beitrag zur Strukturentwicklung geleistet wird. Lassen Sie uns dazu die Mittel aus Brüssel, Berlin, Nürnberg, den Ländern und den Kommunen bündeln, damit dieser Weg eröffnet werden kann. Dann stellt sich die Frage nach den Finanzen nicht mehr, dann ist die Finanzierung gesichert.
Ich bin der Überzeugung - schauen wir nach Schweden -, dass wir in Skandinavien sehen können, wie der Weg zur öffentlich finanzierten Beschäftigung aussieht. Lassen Sie die Bremse los! Ich bitte Sie: Ziehen Sie Lehren aus Hartz IV, aber nicht in der Richtung, die ich eingangs kurz geschildert habe, die zurzeit in Deutschland, konkret auch in Mecklenburg-Vorpommern, diskutiert wird. Sie gehen einen Irrweg. Wir brauchen uns über Rechtsextremismus und über gute Wahlergebnisse der NPD nicht zu wundern, wenn Sie diesen Weg weiter beschreiten.
Deswegen fordere ich Sie zur Umkehr auf. Machen Sie eine Arbeitslosen- und Beschäftigungspolitik für die Menschen, mit den Menschen und nicht gegen sie. Dass das bisher nicht geschieht, genau das spüren die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und in ganz Deutschland.
Ich bitte Sie, sich ein Herz zu fassen, Mut zu haben, ordnungspolitisch-ideologische Schranken zu überwinden und den Weg hin zu mehr öffentlich geförderter Beschäftigung zu gehen. Das ist ein Gebot der Vernunft. Die Menschen im Lande sind auf diese Vernunft angewiesen, damit sie ein Leben in Würde führen können, ein Leben, in dem sie durch ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen können. Nur eine Politik, die darauf abzielt, ist eine wirkliche Arbeitsmarktpolitik. Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und in ganz Deutschland haben sie bitter nötig.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer vom Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Holter, jetzt haben wir den Wahlkampfteil hinter uns und jetzt können wir uns wieder der Auseinandersetzung über die Arbeitsmarktpolitik zuwenden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, es ist richtig: Der Arbeitsmarkt profitiert derzeit tatsächlich von dem konjunkturellen Aufschwung. Ich will hier deutlich sagen: Das freut uns alle sehr. Aber 4,3 Millionen Arbeitslose und mehr sind wirklich kein Grund, sich hier gegenseitig auf die Schultern zu klopfen und zu feiern, wie es sich vonseiten der großen Koalition angedeutet hat.
Die Belebung auf dem Arbeitsmarkt kommt doch ausschließlich denjenigen zugute, die erst seit kurzer Zeit arbeitslos sind. Die wirklichen Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt, die Langzeitarbeitslosen, profitieren davon in keiner Weise.
Zusätzlich ist der Anteil an Ausbildungsplätzen noch einmal um 2 Prozent zurückgegangen. Herr Müntefering, Sie reagieren auf den öffentlichen Druck, indem Sie die Anzahl der Plätze des EQJ-Programms ein wenig erhöhen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Gut, dass Sie überhaupt etwas tun; aber das ist zu wenig. Die Dimension dieses Problems und die Dimension Ihrer Lösung passen in keiner Weise zusammen.
Betrachten wir doch einmal ganz nüchtern die Ursachen für diesen Aufschwung. Es fängt bei den Jobs an, die wegen der Fußballweltmeisterschaft zusätzlich entstanden sind. Weitere Jobs sind durch die Vorzieheffekte aufgrund der anstehenden Mehrwertsteuererhöhung entstanden. Das Wichtigste ist aber: Dieser Aufschwung ist die erste Dividende der Reformpolitik der rot-grünen Regierung.
Dieser Aufschwung ist vor allen Dingen nicht das Ergebnis der aktiven Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung.
Herr Pofalla, Sie kommen jetzt daher und tun so, als sei es vor allen Dingen Angela Merkel, die diese Trendwende herbeigeführt hat. Dazu kann ich wirklich nur sagen: Da lacht doch die Koralle.
Herr Müntefering, Sie sagen: Die Richtung stimmt. Ich frage Sie, welche Richtung eigentlich? Ich glaube, die staunende Öffentlichkeit wäre Ihnen wirklich außerordentlich dankbar, wenn Sie das einmal erläutern könnten. Hier ist doch in keiner Weise irgendeine klare Richtung zu erkennen: in Sachen Mindestlohn, in Sachen Kombilohn, in Sachen Kündigungsschutz. Sie haben uns doch gerade vorgeführt, dass Sie in dieser Koalition noch nicht einmal in der Lage sind, ein Sachverständigengutachten einheitlich zu interpretieren. Herr Pofalla sagt: In diesem Sachverständigengutachten steht, dass es gar nicht darum gehe, die Regelsätze flächendeckend zu senken. Herr Müntefering sagt hier: Die Regelsätze werden überhaupt nicht gesenkt. Dennoch sagen Sie uns hier: Die Richtung stimmt.
Wenn es in dieser Koalition Einigkeit gäbe, dann kämen wir tatsächlich auch einmal voran. Wenn Sie sich in Sachen Mindestlohn verständigen könnten, dann gäbe es nicht nur diese Minibewegungen, dann hätten wir diese Regelung nicht nur auf die Gebäudereiniger, sondern auch auf die Zeitarbeitsfirmen - sie hatten diesen Wunsch - ausgedehnt. Dann wären wir einen Schritt vorangekommen.
Herr Müntefering, Sie sagen, jetzt sei es an der Zeit, Druck im Kessel zu machen. Ich habe das Gefühl: Ihr Druck im Kessel ist nichts anderes als heiße Luft.
Betrachten wir einmal das Programm für mehr Beschäftigung Älterer! Ihre ?Initiative 50 plus“ sieht Lohnkostenzuschüsse von 30 bis 50 Prozent vor. Herr Müntefering, das ist geltende Gesetzeslage, und zwar seit 2001. Das Problem besteht aber darin, dass die Regelung bisher leider wenig Anwendung gefunden hat, nämlich nur in 8 200 Fällen. Sie behaupten jetzt, dass Sie damit 50 000 bis 70 000 Menschen in Arbeit bringen wollen. - So weit zur Seriosität Ihrer Politik.
Weiter geht es. In kleinen und mittleren Unternehmen soll die Bundesagentur für Arbeit Weiterbildungskosten übernehmen. Das finden wir richtig. Diese Regelung wollten wir ausdehnen. Das Problem besteht nur darin: Die große Koalition hat beschlossen, diese Regelung auf 2006 zu begrenzen.
Nächster Punkt: Entgeltsicherung. Das ist ebenfalls geltende Gesetzeslage. Herr Müntefering, wenn Sie auf diese Art Druck im Kessel machen, reicht das nicht einmal aus, um das Teewasser heiß zu bekommen.
Betrachten wir noch einmal die Neuregelung zum Kündigungsschutz! Dazu hat Herr Pofalla heute noch etwas gesagt. Keiner will sie, nicht die Gewerkschaften, nicht die Wirtschaft. Auch Sie, Herr Müntefering, sagen in öffentlichen Interviews immer wieder, dass die geltende Regelung besser ist. Warum, verdammt noch mal, nehmen Sie die Neuregelung dann nicht vom Tisch?
Das Problem besteht eigentlich in der Bunkermentalität dieser Regierung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass Koalitionsrunden die Beratung mit der Fachwelt ersetzen. Kritik wird niedergebügelt. Gefundene Kompromisse werden selbst dann durchgesetzt, wenn alle längst wissen, dass sie kein Beitrag zur Lösung des Problems sind. Das muss sich ändern.
Wenn es in Ihrer Arbeitsmarktpolitik überhaupt Konsequenz und eine klare Linie gibt, dann bei der Umwidmung von Hartz-IV-Regelungen zu einem Teil der Strafgesetzgebung. Den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen und den Kreis der Leistungsempfänger immer weiter einzuschränken, das schafft aber keine Arbeitsplätze.
Die Formel ?Fördern und Fordern“ ist unter Ihrer Regierung zu einer hohlen Phrase geworden, die bei den Betroffenen wirklich nur noch Bitterkeit auslöst.
Ich frage Sie: Was bleibt denn vom Fördern, wenn Qualifizierungsprogramme für Erwerbslose immer weiter zusammengestrichen werden? Von einer durchgreifenden Senkung der Lohnnebenkosten, von der Geringqualifizierte wirklich profitieren würden, haben Sie sich längst verabschiedet.
Die Kanzlerin hat uns von der Opposition gestern vorgeworfen, wir hätten keine Alternativen.
Für uns trifft das in keiner Weise zu. Unser Modell einer progressiven Staffelung der Sozialabgaben würde die Einstellungshürden für Langzeitarbeitslose und Berufsanfänger tatsächlich senken. Nehmen Sie diese Vorschläge doch einmal ernst und setzen Sie sich damit auseinander!
?Mehr Druck im Kessel“, an dieser Stelle stimmt die Formel - leider, kann ich da nur sagen. Dieser Druck richtet sich nämlich nicht gegen die Arbeitslosigkeit, sondern gegen die Arbeitslosen. Sie piesacken die Jobsuchenden, wo Sie nur können. Aber neue Jobs und Zugangschancen für Langzeitarbeitslose im ersten Arbeitsmarkt entstehen nicht. Wo ist denn Ihr Vorschlag zur Schaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse im dritten Sektor? Auch dazu gibt es von unserer Seite einen Vorschlag. Ich bin gespannt, wie Sie darauf reagieren.
Stattdessen konfrontiert uns Ihr Spitzenpersonal in der Sommerpause mit dem gesammelten Mumpitz der großen Koalition. Steinbrück fordert Urlaubsverzicht für Arbeitslose. Riester empfiehlt, keine Autos zu kaufen. Söder will den Arbeitslosen Hausarrest erteilen. Tiefensee will sie als unbewaffnete Busbegleiter auf Streife schicken. Meinen Sie das, wenn Sie sagen, die Richtung stimme? Nichts für ungut, Herr Müntefering, aber das ist doch einfach unwürdig. Davon sollten Sie sich distanzieren, und zwar nachdrücklich.
Das Drama der großen Koalition sind nicht wirklich die widerstreitenden Auffassungen; das gehört zur demokratischen Normalität. Aber nicht zu ertragen ist die geschwätzige Sprachlosigkeit, die diese Regierung uns zumutet. Sie sind orientierungslos und versuchen auch noch, uns diese Orientierungslosigkeit als konzeptionellen Pragmatismus zu verkaufen.
Herr Müntefering, Sie haben gesagt, Sie wollen nicht an den Wahlversprechen gemessen werden, sondern an der Koalitionsvereinbarung. Soll ich Ihnen mal etwas sagen? Die Koalitionsvereinbarung interessiert letztlich keinen Menschen. Sie werden an der Frage gemessen, ob Sie einen Beitrag zur Lösung der Probleme in diesem Lande bzw. in Ihrem Fall einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten. Im Moment deutet nichts darauf hin, dass Sie in der Lage sind, dem Notstand abzuhelfen.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn von der SPD-Fraktion.
Waltraud Lehn (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wende mich zunächst an Minister Holter. Herr Minister, dass Sie hier eine parteipolitische und wahlkampforientierte Rede halten, ist völlig in Ordnung. Das würde ich Ihnen wirklich nie vorwerfen. Wenn Sie aber in diesem Zusammenhang alle anderen in diesem Haus aufrufen, ideologiefrei zu denken, dann ist das, mit Verlaub, lächerlich.
Ich will Ihnen sagen, was ich besonders problematisch finde. Sie haben hier ausschließlich Forderungen an den Staat und an den Steuerzahler und die Steuerzahlerin formuliert. Aber Sie haben nicht ein einziges Mal die Verantwortung der Wirtschaft oder der Unternehmen, die ebenso für die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen verantwortlich sind, thematisiert. Wer hier so fahrlässig eine Rede hält, der disqualifiziert sich an dieser Stelle in ideologischer Hinsicht selbst.
Meine Damen und Herren, eine der erfreulichsten Botschaften dieses Sommers ist ohne Frage die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben es geschafft, rund 450 000 Menschen zusätzlich in Arbeit zu bringen. Erstmalig ist es auch gelungen, bei der Zahl der Langzeitarbeitslosen einen Abbau zu erreichen. Das reicht nicht aus; das ist sicherlich zu wenig. Diese Entwicklung muss fortgesetzt werden. Dazu ist eine Vielzahl von Anstrengungen notwendig. Aber es hat sich gezeigt, dass es Perspektiven für die Menschen in diesem Land gibt. Wenn wir vor sechs Monaten, einem Jahr oder zwei Jahren gesagt hätten, dass wir es schaffen würden, im Laufe eines Jahres fast 500 000 Menschen zusätzlich in Arbeit zu bringen, dann hätte die ganze Republik Kopf gestanden. Das darf man wirklich nicht kleinreden.
Allerdings ist das nichts, was nur mit der neuen Koalition zu tun hätte.
Daran hat auch die alte Koalition durchaus ihren Anteil; das will ich der Vollständigkeit halber hinzufügen.
Wir wollen diese erfolgreiche Entwicklung fortsetzen und wir tun das sehr konsequent. Wir fahren die Verschuldung weiter zurück; das ist ein wichtiges Signal. Wir investieren zusätzliche Mittel vor allem in Bildung; auch das ist ein wichtiges Signal. Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche. Das bedeutet für die Arbeitsmarktpolitik, dass wir uns weiterhin gezielt für die einsetzen, die unserer besonderen Unterstützung und Hilfe bedürfen. Das sind die Menschen, die lebensälter sind. Die ?Initiative 50 plus“, die aufgelegt wurde, wird auf ihre Wirkung hin untersucht und ausgebaut werden. Außerdem richten wir uns mit Angeboten an die jungen Menschen, die nicht nur eine Perspektive brauchen, sondern sich überhaupt erst einmal an die Anforderungen des Arbeitsmarktes gewöhnen müssen. All dies setzen wir fort. All dies bauen wir aus. Ich glaube, es ist gut so, dass wir das tun.
An dieser Stelle möchte ich allerdings auch darauf hinweisen, dass die Unternehmen in einer Zeit, in der es ihnen nun wirklich nachweislich und merklich besser geht, in der Pflicht sind, gerade für die jungen Menschen mehr zu tun.
Ich finde es schon schlimm, dass die Zahl der Ausbildungsplätze zurückgeht. Ich selber habe in diesem Sommer erlebt, wie Unternehmer bei der Bundesagentur vor Ort oder den Argen auflaufen und fragen: Was bekomme ich denn, wenn ich einen Auszubildenden einstelle? - Die Entwicklung, dass der Staat noch etwas geben muss, damit jemand ausbildet, ist nicht positiv und muss sehr kritisch hinterfragt werden. Ausbildung muss wieder eine Selbstverständlichkeit für jedes Unternehmen in diesem Land werden.
Auch bei den Arbeitsmarktinstrumenten müssen wir wieder für mehr Klarheit sorgen. Es existiert zurzeit eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Instrumente. Diese sind unterschiedlich sinnvoll, unterschiedlich wirksam und werden unterschiedlich genutzt. Wir brauchen dringend eine Konzentration auf geeignete Instrumente und die Weiterentwicklung sinnvoller Instrumente. Letztlich muss es darum gehen, bei Fehlentwicklungen gegenzusteuern und unsinnige Maßnahmen abzuschaffen.
Alles in allem ist der Trend jedoch gut; wir sollten ihn fortsetzen. Ich sage aber auch: Die positiven Nachrichten der letzten Monate sollten uns nicht dazu verleiten, uns schon am Ende unseres Weges zu wähnen. Einige Nachrichten der letzten Wochen bereiten mir da durchaus Sorge:
Mir geht es zunächst um den vom Minister angesprochenen Überschuss bei der Bundesagentur. An unseren Koalitionspartner gerichtet sage ich: Man muss wissen, dass rund 4 Milliarden Euro dieses Überschusses - unabhängig davon, ob er nun insgesamt 8 Milliarden oder 9 Milliarden Euro beträgt - nur damit zusammenhängen, dass es ausnahmsweise 13 Beitragszahlungen gegeben hat. Darüber hinaus muss man wissen, dass ungefähr 6 Milliarden bis 6,5 Milliarden Euro benötigt werden, um die bereits beschlossene Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung umzusetzen. Wenn nun die Arbeitsagentur jedes Jahr zusätzliche Mittel in einer Größenordnung von erheblich mehr als 6,5 Milliarden Euro erwirtschaften würde - diese Summe muss die Arbeitsagentur selber erwirtschaften; sonst kann das, was wir beschlossen haben, gar nicht funktionieren -, dann kann man in der Tat darüber nachdenken, ob und wie man diesen Überschuss an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. die Versicherten weitergibt.
Ein weiteres Problem will ich ansprechen: die Kosten der Unterkunft für Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Frau Winterstein hat es richtig dargestellt; dieses Problem ist noch nicht vom Tisch. In diesem Zusammenhang sind 2 Milliarden Euro etatisiert worden. Sie wissen: Es wurde ausgehandelt, dass sich der Bund mit 29,1 Prozent an diesen Kosten beteiligt. Das Ziel dieser Beteiligung war es, die Kommunen im Zuge der Reformen um 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Mit weiteren 2,5 Milliarden Euro aus Verbesserungen bei der Gewerbesteuer wollte man den Kommunen helfen, mehr Geld vor Ort zu investieren, übrigens gerade in den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen.
Voraussetzung war und ist, dass die Länder zu einer vollen Weitergabe der Entlastungsbeträge an die Kommunen bereit sind. Das ist inzwischen überwiegend der Fall. Aber ich finde es schon bemerkenswert, dass beispielsweise Nordrhein-Westfalen den Kommunen bislang circa 25 Prozent der Entlastung vorenthält. Dass dieses Geld natürlich in den Kommunen fehlt, ist durchaus ein Problem.
Im Haushalt 2007 stellen wir, wie gesagt, den Kommunen 2 Milliarden Euro zur Verfügung. Wir wissen: Die Länder, die Städte und Gemeinden fordern deutlich mehr. Ich sage an dieser Stelle aber ganz klar: Alles in allem ist die Entlastung der Kommunen viel höher, als ursprünglich gemeinsam vereinbart und erwartet worden ist. Denn allein bei der Gewerbesteuer werden die Städte und Gemeinden in diesem Jahr voraussichtlich 12 Milliarden Euro mehr einnehmen als noch 2003. 5 Milliarden Euro standen als Entlastung im Raum; 12 Milliarden Euro plus die Entlastungsbeiträge für die Kosten der Unterkunft sind es tatsächlich geworden.
Nun ist das nicht in jedem Land oder in jeder Kommune gleich. Deshalb scheint es mir geboten, die Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Ländern, aber auch innerhalb der Länder aufzugreifen, und zwar von den Ländern selbst. Diese Verantwortung haben sie und dieser Verantwortung sollten sie auch gerecht werden.
Verantwortung ist auch ein gutes Stichwort für ein anderes wichtiges Thema in diesem Bereich. Wir haben den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen 2005 und 2006 rund 6,5 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik bereitgestellt. Diese Hausnummer kann sich sehen lassen. Im Jahr 2005 wurden aber nur 56 Prozent dieser Mittel genutzt. Selbst wenn man berücksichtigt, dass diese Agenturen noch aufgebaut werden mussten und dass sich die Arbeitsgemeinschaften entwickeln mussten, muss man kritisieren - Herr Holter, hören Sie gut zu -, dass nach meinen Informationen, die von gestern Abend 18 Uhr datieren, bis zum heutigen Tag nur 2,6 Milliarden Euro dieser 6,5 Milliarden Euro abgeflossen sind. Wer sich dann hier hinstellt und meint, sagen zu können - obwohl sich der Bundeshalt in einer Notlage befindet und die Verschuldungsgrenze überschritten ist -, man könne davon nicht 1 Milliarde Euro sperren, der hat wirklich Scheuklappen auf den Augen.
Klar ist, dass das nicht in jeder Kommune und in jeder Region gleich ist. Aber Sie müssen einmal darüber diskutieren, wie man das Geld anders verteilen kann. Wir sind immer für ein Gespräch offen. Ich prognostiziere Ihnen - ich sage: leider -, dass die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik auch in diesem Jahr nicht in dem Umfang ausgegeben werden, wie ich mir das wünsche und wie sich die Mehrheit in diesem Haus das wünscht. Ich glaube, wir haben im Rahmen des Möglichen und des wirtschaftlich Verantwortbaren gehandelt.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war zu erwarten, dass die Vertreter der Koalition hier selbstzufrieden verkünden, der Aufschwung sei da, er habe den Arbeitsmarkt erreicht und wir seien auf einem guten Weg.
Ich will für meine Fraktion klar sagen, Herr Brandner: Auch wir freuen uns über die Chance auf einen Aufschwung.
Auch wir freuen uns über jeden Arbeitslosen, der eine neue Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden hat und der damit die Chance bekommt, auf Dauer sein eigenes Auskommen zu sichern. Allein, es sind zu wenig Menschen, die davon profitieren. Herr Müntefering, obwohl der Aufschwung in Deutschland nach den neuen Zahlen der OECD sogar 2,2 Prozent Wachstum in diesem Jahr bringen könnte, bleibt sein Effekt auf den Arbeitsmarkt und auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ausgesprochen schwach. Man könnte auch sagen, dass es ein Aufschwung ohne Wirkung ist.
Ich will das an Zahlen belegen. Es ist alarmierend, wenn im Jahresvergleich die Arbeitslosenzahl zwar um 426 000 gesunken ist, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im gleichen Zeitraum aber nur um 129 000 zugenommen hat. Das sollten doch eigentlich kommunizierende Röhren sein: Wer nicht mehr arbeitslos ist, sollte eine Beschäftigung gefunden haben. Offensichtlich treten aber viele Menschen aus dem Arbeitsmarkt aus. Herr Müntefering, unser Bestreben muss es sein, neue Beitragszahler zu generieren, weil nur so die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme gewährleistet werden kann.
Fast noch alarmierender ist es, wenn trotz des leichten Anstiegs der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse das Beitragsaufkommen stagniert. Das kann man bislang am Beispiel der Rentenversicherung im laufenden Jahr feststellen.
Herr Müntefering, die allgemeinen Beitragseinnahmen beliefen sich von Januar bis Juli des Jahres 2005 auf 95,546 Milliarden Euro, im Vergleichszeitraum dieses Jahres auf 105,772 Milliarden Euro. Mithin ergab sich ein Plus von 10,2 Milliarden, was fast ausschließlich auf den Einmaleffekt des 13. Monatsbeitrags zurückzuführen sein dürfte. Sie hatten zwar nur 9,6 Milliarden Euro veranschlagt, aber der Durchschnitt der Pflichtbeiträge im letzten Jahr lag deutlich über 11 Milliarden Euro, sodass man sagen kann: Bei den eigentlichen Pflichtbeiträgen aus der regulären Beschäftigung treten Sie auf der Stelle.
Die Erklärung für dieses Phänomen dürfte darin liegen, dass sich ein Trend fortsetzt, der nach einem statistischen Taschenbuch des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung - damals hieß es noch so - schon seit Jahren anhält: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen bewegt sich deutlich nach unten, während gleichzeitig die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitstellen zunimmt. Im Klartext: Mehr Menschen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, aber das Beitragsaufkommen insgesamt bleibt konstant.
Wenn diese Analyse zutrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann haben wir ein Problem;
dann wird es nämlich wahrscheinlich, dass zutrifft, was der Schätzerkreis schon im Mai errechnet hat: Das Defizit aus laufenden Einnahmen und Ausgaben der Rentenversicherung wird 4,6 Milliarden Euro betragen. Das heißt, dass die Zusatzeinnahme durch den 13. Monatsbeitrag schon in diesem Jahr ein gutes Stück wieder verschlungen wird und die Nachhaltigkeitsrücklage am Ende des Jahres gerade noch bei 7,3 Milliarden Euro liegen wird.
Und, Herr Müntefering, es gibt Grund zur Annahme - das sage ich hier sehr deutlich, darüber soll man nicht hinweggehen -, dass die Situation im Jahre 2007 noch schlechter aussehen wird. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass das Defizit in der Rentenversicherung, das wir in den letzten Jahren hatten - in den letzten Jahren betrug es zwischen 4 und 5 Milliarden Euro -, im nächsten Jahr niedriger sein wird. Es gibt zusätzliche Risiken, von denen ich hier nur drei nennen möchte.
Das erste Risiko haben Sie selbst geschaffen: Die Rentenversicherungsbeiträge für die Empfänger von Arbeitslosengeld II haben Sie mit dem SGB-III-Änderungsgesetz um 2 Milliarden Euro gekürzt. Es ist unschwer vorherzusagen, dass diese Maßnahme das Defizit der Rentenversicherung entsprechend erhöhen wird.
Die Beiträge, die die Rentenversicherung zur Krankenversicherung der Rentner zahlen muss, werden sich als Folge der Gesundheitsreform schon im Jahre 2007 erhöhen. Das kann man heute noch nicht auf Cent und Euro genau sagen. Es ist aber unschwer vorherzusagen, dass sich das in der Größenordnung von 1 Milliarde Euro bewegen wird.
Die Risiken aus dem Urteil des Bundessozialgerichtes zu den Abschlägen bei den Erwerbsminderungsrenten belaufen sich nach einem Schreiben Ihres Staatssekretärs Tiemann, Herr Minister, im Jahre 2007 auf 500 Millionen Euro, die der Nachzahlungen für die Jahre von 2002 bis 2006 auf rund 1 Milliarde Euro.
Wenn Sie mitgerechnet haben: Das sind 4,5 Milliarden Euro. Das ist schon mehr, als Sie aus der Beitragsanhebung ab 1. Januar 2007 - das sind nämlich gerade einmal 4 Milliarden Euro - erwarten dürfen. Das heißt, man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Schon Ende 2007 ist der Einmaleffekt des 13. Monatsbeitrages verfrühstückt, wird die untere Schwelle der Nachhaltigkeitsrücklage schon wieder angekratzt oder gar unterschritten. Damit ist es wahrscheinlich, dass im Jahre 2008 ein einmaliger Bundeszuschuss von 800 Millionen Euro nicht ausreichen und eine erneute Beitragserhöhung notwendig wird. Das nenne ich eine Katastrophe. Das ist nur noch eine Verwaltung des Mangels; mit einer geordneten Rentenpolitik hat das wirklich nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun.
Was lernen wir aus alledem, liebe Kolleginnen und Kollegen? Zur Lösung der Probleme der sozialen Sicherungssysteme reicht offensichtlich auch ein Wachstum von bis zu 2,2 Prozent nicht aus. Es verbietet sich daher eine Politik, die über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer sogar noch eine Abschwächung dieses Wachstums in Kauf nimmt.
Ich fordere Sie auf, die Mehrwertsteuererhöhung auch vor dem Hintergrund kräftig sprudelnder Steuerquellen rückgängig zu machen.
Und: Fangen Sie endlich mit einer grundlegenden Reform des Arbeitsmarktes an, damit nicht nur die vorhandene Arbeit neu verteilt wird, sondern zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Worauf warten Sie eigentlich noch? Herr Pofalla hat gesagt, er habe die Studie der Weltbank gelesen, wonach Deutschland in einem Ranking zur Frage ?Wo ist es einfach, einen Arbeiter einzustellen?“ auf Platz 129 der Welt liegt. Wenn die Bundesregierung Kenntnis von diesen Fakten hat, dann finde ich es skandalös, dass Sie, Herr Bundesminister, vor einer Neuregelung des Kündigungsschutzes zurückscheuen.
Ich frage provokativ: Soll denn die größte Reform des Kündigungsschutzes, die Sie, Herr Pofalla, vollmundig angekündigt haben, ersatzlos gestrichen werden? Das kann ja wohl nicht sein. Herr Pofalla, das, was Sie diesbezüglich in den Koalitionsvertrag geschrieben haben, war nicht das Gelbe vom Ei. Das zeigt übrigens auch, wie wenig Ahnung Sie, ein führender Vertreter der Union, davon haben, welche Fragen aus Sicht des Mittelstandes in unserem Land ausschlaggebend sind, wenn es darum geht, ob ein zusätzlicher Mitarbeiter eingestellt wird.
Herr Müntefering, Sie haben in diesen Tagen geäußert, man solle das Thema Kündigungsschutz nicht überbewerten. Deshalb weise ich Sie auf eine ganz aktuelle Umfrage des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung hin: Auf die Frage nach den Einstellungsbarrieren, also warum der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt nur eine begrenzte Wirkung entfaltet, nannten 59 Prozent der befragten Unternehmer den Kündigungsschutz. Herr Minister, an solchen Fakten dürfen und können Sie nicht vorbeigehen.
Es ist traurig: Die Union ist bei der Reform des Arbeitsmarktes vollständig auf Tauchstation gegangen. Herr Pofalla - zum Mitschreiben -: Entscheidend ist nicht die Frage, ob wir eine Befristung oder eine Verlängerung der Probezeit brauchen. Wir brauchen beides. Wir brauchen die Möglichkeit zur Befristung der Probezeit und die Möglichkeit zu einer Verlängerung. Wir müssen alle Maßnahmen ergreifen, die die Chance für neue Arbeitsplätze in diesem Land bieten.
Zu Ihrer verfehlten Politik hätte man noch vieles sagen können. Ich will noch einmal ein Zitat anführen, das ich schon im Frühjahr dieses Jahres vorgetragen habe und das sich leider bewahrheitet hat. Damals hat die ?Financial Times Deutschland“ Folgendes geschrieben:
Diese Koalition wird Gesetze verabschieden, die sie mit dem Etikett ?Reform“ versehen wird. Aber zu echten Strukturreformen, die die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft verbessern, wird es nicht kommen... Die bittere Wahrheit ist, dass Politiker wie Merkel oder Steinbrück zu echten Reformen entweder nicht fähig sind oder kein Interesse daran haben.
Man muss sagen: Leider wahr.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die soziale Sicherung ist der größte Ausgabenblock im Bundeshaushalt, das gilt auch für 2007. Im nächsten Jahr werden für Sozialausgaben rund 135 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Das ist über die Hälfte der Gesamtausgaben des Bundes. Das zeigt, dass der vorgelegte Haushalt in hohem Maße ein Instrument des sozialen Ausgleichs ist. Dazu bekennen wir uns.
Jeder weiß, dass Arbeitsmarktpolitik nicht nur durch den Bundeshaushalt bestimmt wird. Die Beitragsmittel der Bundesagentur für Arbeit kommen hinzu. Seien wir doch einmal ehrlich: Jeder, der in der Vergangenheit Verantwortung getragen hat, hätte sich doch solche Luxusdiskussionen gewünscht, wie wir sie jetzt über die Frage führen, was wir mit den Überschüssen machen. Über Jahrzehnte hinweg haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wo wir das Geld hernehmen, um Defizite zu decken. Aufgrund der Rahmenbedingungen, die wir durch unsere Politik gesetzt haben, haben wir in diesem Bereich jetzt Überschüsse.
Das ist eine gute Entwicklung. Die Überschüsse werden wir im Sinne der Beitrags- und Steuerzahler nutzen.
In diesem Zusammenhang muss man Gegensätze nicht künstlich aufbauen; denn niemand hat gesagt, es könne auf gar keinen Fall eine Senkung von Beiträgen geben; es hat aber auch niemand gesagt, es müsse eine Beitragssatzsenkung um jeden Preis geben. In der großen Koalition arbeiten wir gemeinsam daran, eine weitere Absenkung der Lohnnebenkosten finanzierbar zu machen. Im Detail gibt es sicherlich Unterschiede: die Senkung der Lohnnebenkosten ist ein besonderes Herzensanliegen der Union. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen. Das ist die richtige Botschaft.
Hinsichtlich der Mittel für den Arbeitsmarkt sieht es im Haushalt in der Tat schwieriger aus. Für die rein passive Leistung Arbeitslosengeld II werden wir in diesem Jahr voraussichtlich 27 Milliarden Euro ausgeben. Im nächsten Jahr sind im Vergleich dazu rund 6 Milliarden Euro einzusparen. Einsparungen in Höhe von 4 Milliarden Euro erwarten wir infolge der Reformgesetze im Bereich des Sozialgesetzbuches II. Sie werden im nächsten Jahr ihre volle Wirkung entfalten. Da bleibt in der Tat ein Risiko. Es wird umso einfacher, dieses Risiko zu begrenzen, je besser es uns gelingt, diese Finanzlücke durch wachsende Beschäftigung und abnehmende Arbeitslosigkeit zu schließen. Auf diesem Weg befinden wir uns. Die Signale vom Arbeitsmarkt sind sehr positiv und stimmen hoffnungsvoll.
Ich muss sagen, der Kollege Kolb und die Kolleginnen und Kollegen von der FDP tun mir manchmal ein bisschen Leid.
Wir machen es Ihnen ja nicht leicht. Ich erinnere mich: Wie waren die Zahlen im Mai? Da gab es den höchsten Rückgang der Arbeitslosigkeit in einem Mai seit der Wiedervereinigung. Da haben Sie, Herr Kolb, gesagt, dass aber die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zurückgehe. Im Juli hatten wir den ersten Rückgang der Arbeitslosigkeit in einem Juli seit der Wiedervereinigung. Da sagten Sie: Aber es gibt nur 50 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr. Das war Ihnen zu wenig. Jetzt haben wir im August fast 130 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr und einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um mehr als 400 000. Das sind doch positive Zahlen und Fakten. Sie müssen immer akrobatischer werden, um unsere Politik schlecht reden zu können. Wir sind auf dem richtigen Weg. Das zeigen diese Zahlen.
Natürlich ist dieser Trend nicht überall in der gleichen Art und Weise feststellbar. Ich vermute, Sie, Herr Kolb, werden weiter Anstrengungen unternehmen, um noch ein Haar in der Suppe zu finden. Aber ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir sind auf dem richtigen Weg, auch wenn der sich nicht überall gleich auswirkt. Wir haben eben von Herrn Holter ein beeindruckendes Geständnis gehört: längste Amtszeit als Arbeitsminister und höchste Arbeitslosigkeit. Das ist in der Tat sehr beeindruckend.
Ich sage Ihnen, Herr Holter: Mit Ihrem Vorschlag, die volkseigenen Betriebe wieder aufleben zu lassen, werden wir die Probleme nicht lösen. Deswegen werden wir das, was Sie uns mit Ihren ideologischen Scheuklappen vorgemacht haben, nicht machen.
Sie können genauso Beispiele aus Berlin nennen: Rot-Rot erhöht die Arbeitslosigkeit; Rot-Rot erhöht die Armut. Das ist Ihre Botschaft, die Sie uns heute wieder eindrucksvoll verkündet haben.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Aber gern. Sie müssen sich aber nicht angesprochen fühlen, wenn ich über rot-rote Politik spreche.
Otto Fricke (FDP):
Nein, das tue ich nicht. Ich wollte Ihnen nur die Mühen ersparen, sich an einer Stelle abzuarbeiten, an der es nicht wirklich notwendig ist.
Herr Kollege Brauksiepe, könnten Sie mir Folgendes erklären: Sie sagen, Sie seien hinsichtlich des Arbeitsmarktes - ich würde mir für alle Arbeitslosen wünschen, dass es so wäre - auf dem richtigen Weg. Warum steigt dann im Haushalt der Aussteuerungsbetrag bzw. die sich dahinter verbergende Zahl der Menschen, die von ALG I in ALG II kommen? Denn wenn der Weg richtig wäre, müsste dieser Betrag bzw. diese Zahl doch sinken, müsste es weniger Leute geben, die lange oder länger in Arbeitslosigkeit sind.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege, Sie haben mit dem Hinweis auf den Aussteuerungsbetrag in der Tat auf ein Risiko auf der Einnahmeseite im Haushalt hingewiesen. Sie haben damit vollkommen Recht. Ich sage auch nicht, dass man jetzt einfach, gerade wie es einem passt, an der Schraube drehen kann. Ich finde, dass es erst einmal eine gute Nachricht ist, dass der Aussteuerungsbetrag nicht so hoch ist, weil es uns in diesem Jahr durch die Rahmenbedingungen, die wir gesetzt haben, gelungen ist, mehr Menschen aus dem Arbeitslosengeld I in Arbeit zu bringen. Darum geht es uns.
Ich sage Ihnen voraus: Wenn dieser Trend sich fortsetzt, dann heißt das, dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt insgesamt weiter so positiv ist, dass sich das auch auf den Bundeshaushalt auswirken wird. Dann werden auch Sie als Vorsitzender des Haushaltsausschusses ganz bestimmt Ihre Freude an unserer Politik haben.
Wir müssen natürlich bei dem, was wir in Zukunft machen, bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die wir ergreifen, darauf achten, dass sie nicht zu mehr Ausgaben führen. Das heißt aber nicht, dass Leistungen gekürzt werden müssen. Es heißt vielmehr, dass vor allem bei Hartz IV noch stärker auf die Eingliederung in den regulären Arbeitsmarkt, auf ein Leben ohne Fördergelder geachtet werden muss und dass wir Hartz IV nicht als ein sozialpolitisches Reparaturinstrument für alle Defizite in Familie, Bildungswesen oder bei der Integrationspolitik heranziehen dürfen.
Es heißt darüber hinaus auch, dass wir bei dem Paket, das wir im Herbst schnüren werden, in dem wir das Entsendegesetz ausweiten, genau das, was Sie von der FDP hier als Drohgebilde an die Wand gemalt haben, nicht tun. Das Entsendegesetz auszuweiten, bedeutet doch, tariflichen Vereinbarungen mehr Raum und mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu geben. Genau darum geht es uns. Wir wollen keine gesetzlichen Regelungen; für uns gehen tarifliche Regelungen vor gesetzlichen Regelungen. Wir sind auf einem guten Weg, das mit dem Koalitionspartner so zu vereinbaren.
Ich bin für die Signale dankbar, die wir dazu bekommen haben.
Wir werden uns insbesondere verstärkt darum bemühen müssen, Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Wir werden Schwerpunkte bei den älteren und den jüngeren Langzeitarbeitslosen setzen. Das, was Minister Müntefering unter dem Stichwort ?50 plus“ angekündigt hat, passt in ein solches Gesamtkonzept.
Es muss unser gemeinsames Ziel sein, sowohl ältere Arbeitslose, die Arbeitslosengeld I beziehen, vorher allerdings gut verdient haben, möglichst schnell wieder in Beschäftigung zu bringen - das ist ein wichtiges Element dieser Initiative -, als auch aus der Gruppe der Langzeitarbeitslosen bestimmte Teilgruppen anzusprechen, Ältere wie Jüngere, die zwar keine guten Einkommensperspektiven haben, die aber bereit sind, durch eigener Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Es muss möglich sein, ihnen durch einen Kombilohn von staatlicher Seite eine Unterstützung zu geben. Daran arbeiten wir.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zum Gutachten des Sachverständigenrates sagen. Uns geht es nicht um eine Kürzung der Regelsätze. Aber wir bekennen uns dazu, dass wir durch die Reformmaßnahmen, die wir ergriffen haben, deutlich gemacht haben: Diejenigen, die sich nicht an die Spielregeln halten, müssen mit Leistungskürzungen rechnen. Diese Entscheidung war richtig. Dazu stehen wir.
Ich bin der Meinung, dass man sich sehr genau ansehen muss, wie sich der Sachverständigenrat zu den Hinzuverdienstregelungen geäußert hat. Mir scheint das, was ich hierzu gehört habe, sehr beachtenswert zu sein. Auf eines müssen wir achten: Es darf in der Tat nicht darum gehen, dass sich jemand, der Transferleistungen bezieht, fragt: Was kann ich hinzuverdienen, ohne dass mir die Transferleistung gekürzt wird? Es muss wirklich darum gehen, dass diejenigen, die bereit sind, viele Stunden lang für einen geringen Lohn zu arbeiten, um von den Transferleistungen unabhängig zu werden, unterstützt werden. An diesem Leitmaßstab müssen wir uns bei den Reformen, die wir anpacken, orientieren.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den Rentenfinanzen sagen. Auch hier macht sich die positive wirtschaftliche Entwicklung durchaus bemerkbar. Wir werden bei dem Kurs bleiben, auf den wir uns verständigt haben: Im nächsten Jahr muss der Rentenbeitrag leicht erhöht werden. Gleichzeitig werden wir das, was wir uns unter dem Stichwort ?Rente mit 67“ vorgenommen und im Koalitionsvertrag und darüber hinaus verabredet haben, Stück für Stück in praktische Politik umsetzen. Das ist ein moderater Weg, der den Interessen der Rentner und der Beitragszahler gerecht wird.
Ende Oktober dieses Jahres werden uns verlässliche Angaben zur tatsächlichen Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung vorliegen. Vor diesem Hintergrund werden wir als große Koalition im Herbst dieses Jahres unsere Vorstellungen dazu vorlegen. Sie alle sind herzlich eingeladen, daran konstruktiv mitzuwirken.
Völlig klar ist: Wir werden nicht im Bundestag politisch darüber entscheiden, ob es zu einer Rentenerhöhung kommt oder nicht. Wir haben politisch entschieden, dass wir den Rentnerinnen und Rentnern in dieser Legislaturperiode keine zusätzlichen Lasten durch eine Rentenkürzung aufbürden werden; das ist wahr. Rentenerhöhungen können wir weder beschließen noch versprechen. Klar ist aber: Wenn wir weiterhin den Weg des wirtschaftlichen Aufschwungs und der finanziellen Konsolidierung beschreiten, dann ist das gut für die Entwicklung der Renten. Daran arbeiten wir. Hier bitte ich um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Kurth vom Bündnis 90/Die Grünen.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brauksiepe, Sie haben wieder ein Bild gezeichnet, das den Eindruck vermittelt, dass fast alles eitel Sonnenschein ist. Was mich betrübt und besorgt, ist, dass angesichts dieser positiven Darstellung von teilweise durchaus begrüßenswerten Entwicklungen am Arbeitsmarkt ein Bereich im Schatten bleibt: die Langzeitarbeitslosigkeit insbesondere junger Menschen bzw. derjenigen unter 25 Jahren.
Vor dem Hintergrund der Situation dieser Gruppe, die immer größer wird und sich immer weiter vom Arbeitsmarkt entfernt, sehen die Bewertungen des Überschusses der Bundesagentur für Arbeit und der nicht verausgabten Mittel im Rahmen des Sozialgesetzbuches II ganz anders aus.
Einer der wenigen, der dieses Problem angesprochen hat, ist Herr Pofalla. Er hat gesagt: 80 000 junge Leute gehen Jahr für Jahr ohne Abschluss von der Schule. Die 40 000 Schulabgänger, die die Schule mit einem relativ schlechten Hauptschulabschluss verlassen, muss man eigentlich noch hinzuzählen.
Ich will Ihnen auch die neuesten Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, das erst jüngst eine Untersuchung zum Qualifikationsniveau durchgeführt hat, nicht vorenthalten.
Daraus geht hervor: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist die Aufwärtsmobilität bei der Bildung unterbrochen. Zum ersten Mal ist eine jüngere, nachkommende Generation - formal - nicht besser qualifiziert als eine ältere Generation. Im Jahr 2004 haben 22 Prozent der Berufsschüler die Berufsschule ohne Abschluss verlassen. Zehn Jahre zuvor waren es 15 Prozent. Das heißt, unten wird eine immer größere Gruppe abgehängt. Damit sei es der Zahlen an dieser Stelle genug. Diese Situation ist bildungspolitisch, sozialpolitisch und letzten Endes auch ökonomisch eine Bedrohung. Ich komme zu dem Schluss, dass wir da konzentriert investieren müssen. Selbstverständlich ist an dieser Stelle staatliches Handeln und Fördern gefragt.
Vor diesem Hintergrund werde ich natürlich schon stutzig - sollten wir alle stutzig werden! -, wenn 1,2 Milliarden Euro des Überschusses der Bundesagentur für Arbeit aus nicht verausgabten Fördermitteln, aus Einsparungen im Bereich des Sozialgesetzbuches III stammen. Man sollte stutzig werden, wenn, wie Waltraud Lehn sagt, nur 2,6 Milliarden Euro abgerufen worden sind. Das muss einen schon merkwürdig stimmen! Die 1,1 Milliarden Euro, die Sie gesperrt haben, haben doch nur dazu geführt, dass der Griffel in vielen Job-Centern schnellstens hingeworfen wurde - leider! - und erst jetzt wieder aufgenommen wird, anstatt an dieser Stelle zu fördern!
Die Frage ist nicht nur, wie viel Geld ausgegeben wird. Ich glaube, man muss sich angesichts der Dramatik der Situation auch genau anschauen, wofür das Geld ausgegeben wird; nicht nur die Menge, sondern auch die Art und Weise der Ausgaben sind wichtig. Dass den Jugendlichen unter 25 Jahren, denen eine Ausbildung, eine Nachqualifizierung fehlt, dann 1-Euro-Jobs, so genannte Mehraufwandsentschädigungsjobs, angeboten werden, erfüllt mich das mit tiefer Sorge. Ich halte das für skandalös. Andere Mittel sind wichtig! Sie sprechen an dieser Stelle vom öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Auch das Land Berlin - um einmal ein Land mit einer Regierungsbeteiligung der PDS/Linkspartei zu nennen - stellt 36 000 solche Mehraufwandsentschädigungsjobs. Wo bleiben denn die vernünftigen, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsgelegenheiten, wo bleiben ordentliche Qualifizierungsmöglichkeiten in den Bereichen, in denen Sie die Möglichkeit haben, solche anzubieten?
Bei den Ausschreibungsverfahren - ich muss es noch einmal ansprechen - zielen wir vorbei, wir sparen auf Kosten dieser jungen Menschen. Ich will ein Beispiel - mehr erlaubt mir meine Redezeit nicht - nennen: Ich habe vor einigen Wochen das Jugendausbildungszentrum in Münster besucht. Es wird vom Sozialdienst Katholischer Männer betrieben. Dort hat man eine Werkstatt für Zweiradmechanik eingerichtet, die so gut ist, mit so guten Werkzeugen ausgestattet ist - übrigens über Spenden vom Lions Club und vom Bistum, nicht aus öffentlichen Mitteln -, dass die IHK, die Industrie- und Handelskammer in Münster, sämtliche Gesellenprüfungen in dieser Werkstatt abhält. Dort wurde eine überbetriebliche Ausbildung angeboten.
Diese Werkstatt steht seit zwei Monaten leer: Man hat die Ausschreibung verloren, obwohl die Werkstatt qualitativ am besten war - da hat man sich beim regionalen Einkaufszentrum noch einmal rückversichert -, weil nur der Preis den Ausschlag gegeben hat. Wohin gehen die Jugendlichen jetzt? Der Anbieter, der die Ausschreibung gewonnen hat, hat eine Halle bezogen, in der ?Werkecken“ stehen. Da feilen jetzt die jungen Menschen, die praxisnah in der Zweiradmechanikwerkstatt arbeiten könnten, an Metallklötzchen herum, die am Ende des Arbeitstages in die Tonne geworfen werden. Wenn wir weiterhin nach dieser Art von Ökonomik mit der Kreativität und dem Potenzial unserer jungen Menschen unter 25 Jahren umgehen, werden wir uns in zehn Jahren noch umgucken. Dann werden wir sehen, wie die Folgen der schönen Einsparungen, über die wir hier jetzt reden, mit gewaltigen Mehrkosten auf uns zukommen werden. Hunderttausende der heute jungen Leute werden uns dann vorwerfen: Ihr habt uns mit eurer damaligen Sparpolitik um unsere Chancen gebracht! Dagegen stehen wir, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Brandner von der SPD-Fraktion.
Klaus Brandner (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Einbringung des Bundeshaushalts nach der Sommerpause dient immer dazu, vorauszuschauen, welche Aufgaben vor uns liegen und welche Anstrengungen im kommenden Halbjahr, aber auch im nächsten Haushaltsjahr von uns zu bewältigen sind. Die große Koalition - um es ganz deutlich sagen - hat bereits vieles auf den Weg gebracht. Sie setzt den unter der Vorgängerregierung begonnenen Reformkurs konsequent fort, sie setzt auf Kontinuität.
Wir können feststellen, dass die Reformen greifen: Die Konjunktur zieht an, die Wachstumsprognosen sind sehr positiv, der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt setzt sich fort, wir haben mehr Erwerbstätige, mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, weniger Konkurse und die Arbeitslosigkeit geht zurück.
Die Bundeskanzlerin hat diese Daten gestern gewürdigt und der Bundesarbeitsminister, der Vizekanzler, hat diese Daten heute ebenfalls gewürdigt. Lieber Herr Pofalla, eigentlich passen diese guten Daten nicht so ganz in Ihren Beitrag hinein. Der Erfolg der großen Koalition kann sich sehen lassen, was die harten Daten und Fakten zeigen. Ich glaube, das ist das Ergebnis harter Arbeit. Es wurde gut zusammengearbeitet und es gab Profilierungen in der Sache und nicht so sehr im Hinblick auf parteitaktische Überlegungen.
Ich will ganz deutlich sagen: Diesen Weg müssen wir konsequent fortsetzen, wenn wir für die Menschen in diesem Land das leisten wollen, was sie von uns, der großen Koalition, in der die große Zusammenarbeit angesagt ist, erwarten.
Ich weiß, dass die schlechte Presse, die man manchmal erhält, den einen oder anderen nervös macht. Ich sage Ihnen aber: Ich glaube bestimmt und bin davon überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind. Mit der Koalitionsvereinbarung haben wir eine gute Grundlage dafür geschaffen.
Zu dem, was hier bezüglich der Ich-AG angesprochen wurde, sage ich ganz deutlich, dass wir ein erfolgreiches arbeitsmarktpolitisches Instrument noch erfolgreicher gemacht haben, indem wir durch gesetzliche Veränderungen eine Existenzförderung in bestimmten Bereichen möglich gemacht haben. Wir als große Koalition messen der Existenzförderung von Arbeitslosen eine große Bedeutung bei, weil damit die Menschen eine Beschäftigungschance erhalten, die sie ohne eine solche Aktivität nicht gehabt hätten.
Wir setzen dabei ganz deutlich auf die Wirkung der gesetzlichen Maßnahmen und auf Evaluation. Wir sind bereit, Konsequenzen aus unseren Schritten und auch aus den Fehlern zu ziehen, die in einem mutigen Gesetzgebungsverfahren durchaus gemacht werden dürfen; denn wer nichts anpackt, der macht auch nichts falsch und der sitzt die Probleme aus. Das ist in diesem Land lange genug geschehen. Deshalb bauen wir darauf, dass wir in einer großen Gemeinschaft die Kraft haben, Fehlentwicklungen schnellstens zu korrigieren, weil nur das den Menschen in diesem Land hilft.
Sie sprachen davon, dass es im Bereich der Arbeitsmarktpolitik mehr dezentrale Entscheidungen geben müsse. Die Sozialdemokraten sind für dezentrale Entscheidungen nach klaren Strukturvorgaben. Das ist immer unsere Position gewesen. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der Einfluss der CDU und der CSU im Bundesrat auch schon während der Zeit, in der Rot-Grün die Bundesregierung gestellt hat, derart stark war, dass sie Strukturen mit geschaffen haben, die nachkorrigiert werden müssen und innerhalb deren die Dezentralität und die Entscheidungskompetenz an Bedeutung gewinnen müssen. Es muss aber auch klar sein: Wer die Musik bezahlt und die Strukturen veranlasst, der muss auch die Verantwortung dafür bekommen, diese Entscheidungen systematisch umsetzen zu können. Das sollten wir aufgreifen. Ich halte das für wichtig. Lassen Sie mich insofern sagen, dass Sie uns hier an Ihrer Seite haben, wenn Sie die Arbeit effizient voranbringen wollen.
Sie haben den Kündigungsschutz angesprochen. Die Situation ist schon ein bisschen aberwitzig. Unser Land ist Exportweltmeister und weist eine äußerst hohe Produktivität und Produktqualität auf, was nur mit flexiblen und guten Arbeitskräften zu erreichen ist. Diese Arbeitskräfte haben einen Anspruch auf soziale Sicherheit. Diese wird man aber nicht mit einem dauernden Gerede über den Kündigungsschutz erreichen, als sei der Kündigungsschutz die Bremse für das Beschäftigungswachstum in diesem Land.
Deshalb sage ich klar: Die Menschen haben einen Anspruch auf Sicherheit und sind nicht nur Kostenfaktoren. Die SPD hat keine Notwendigkeit gesehen, an dem Kündigungsschutz etwas zu verändern, weil wir in den letzten Jahren gerade für kleine und mittlere Betriebe Korrekturen vorgenommen haben. Wir haben somit ein Recht geschaffen, durch das es aufgrund der verankerten Befristungsmöglichkeiten die größte Flexibilität gibt.
Das, was wir in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, ist die Grundlage. Alles, was darüber hinausgeht - um es deutlich zu sagen -, wird mit der SPD nicht zu machen sein.
Ich will an dieser Stelle ganz unmissverständlich sagen: Wenn die Wirtschaft nach großmundigen Forderungen erklärt, dass sie das, was im Koalitionsvertrag an weiteren Regelungen vorgesehen ist, nicht braucht und wir alles so lassen sollen, wie es ist, weil sie mit der aktuellen Rechtslage zufrieden ist und den Grad der Flexibilität als ausreichend hoch ansieht, dann sollten wir alle gemeinsam sagen: Die Situation ist so, wie sie ist, gut. Jetzt müssen wir die Debatte um den Kündigungsschutz beenden und uns anderen wesentlichen Themen in diesem Land zuwenden.
Hier ist auch das Stichwort Mindestlohn gefallen. Wir sind sehr dafür, dass die Tarifvertragsparteien stark sind und tarifliche Regelungen organisieren, weil tarifliche Regelungen einen Mindestlohn bedeuten. Das entspricht unserer Verfassung und dem Grundsatz, dass in Deutschland vorrangig die Tarifvertragsparteien dafür zuständig sind, die Höhe von Löhnen und Gehältern sowie die Arbeitsbedingungen zu bestimmen.
Wir müssen aber auch feststellen, dass es in der tarifpolitischen Landschaft zu einer Erosion gekommen ist. Deshalb ist die große Koalition - das ist genau das, was Kollege Brauksiepe mit seinem Zwischenruf sagen wollte - auf dem Weg, durch mehr Allgemeinverbindlichkeit und eine umfassendere Entsendegesetzgebung da, wo es zu Erosionen kommt und aufgrund der Öffnung des europäischen Marktes Probleme entstehen können, gesetzlich einzugreifen. Diesen Weg werden wir vorrangig gehen.
- Herr Kolb, hören Sie gut zu. Wenn es am Ende Bereiche gibt, in denen die Tarife und Löhne auf ein unsoziales und sittenwidriges Niveau sinken, dann darf der Staat nicht den Nachtwächter spielen und nur zuschauen, wie dort etwas vor sich geht, was er sich nicht wünscht, sondern dann muss sich der Staat seiner Verantwortung stellen. Diesen Weg werden wir gemeinsam gehen müssen. Das wollte ich heute Morgen einmal deutlich ansprechen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Brandner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb?
Klaus Brandner (SPD):
Bitte.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte, Herr Kolb.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Brandner, können diese Eingriffe auch bedeuten, dass diese Arbeitsplätze am Ende und in der Konsequenz entfallen? Die niedrigen Löhne, über die Sie sprechen, beispielsweise im Friseurhandwerk in Sachsen, sind tariflich vereinbart. Wenn Sie jetzt per Gesetz einen deutlich höheren Mindestlohn vorgeben, wird es offenkundig dazu kommen, dass diese Arbeitsplätze künftig so nicht mehr bestehen. Nehmen Sie diese Konsequenz in Kauf?
Klaus Brandner (SPD):
Erster Punkt. Herr Kolb, diese Vermutung muss nicht eintreten. Sie beabsichtigen, mit dieser Unterstellung von vornherein vorzugeben, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze gefährden würden. Im europäischen Ausland wurden dazu ganz andere Erfahrungen gemacht.
Der zweite Punkt. Für diese Bundesregierung und insbesondere für meine Fraktion möchte ich deutlich sagen: Wenn wir einen Mindestlohn vereinbaren, werden wir das nicht ohne die gesellschaftlich relevanten Kräfte tun. So wurde auch in Großbritannien vorgegangen, wo es eine ?Low Pay Commission“ gibt, in der Wissenschaftler, Gewerkschafter und Vertreter von Unternehmerverbänden gemeinsam Normen festsetzen. Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass wir ein solches Projekt blind von oben verordnen,
sondern wir werden ein solches Projekt beteiligungsorientiert angehen. Wenn Sie dann auf der Seite derjenigen sind, die sich ins Abseits stellen, kann ich daran nichts ändern. Ich will Ihnen nur sagen: Wir werden einen solchen Schritt sehr behutsam, aber auch sehr beharrlich und klar konturiert vornehmen, damit die Menschen in diesem Lande wissen: Mit uns ist Sozialdumping nicht zu machen.
Zum Kombilohn ist vieles gesagt worden. Wir haben sehr viele Kombilohnmodelle und dabei bleibt es auch. Wir werden gut daran tun, diese Modelle zu systematisieren. Kombilohn ist weder ein Schimpfwort noch eine Wunderwaffe oder Zauberformel. Wir müssen dabei an der Sache orientiert unsere Arbeit machen. Arbeitslosen können wir mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten - der Kombilohn ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument - am ehesten zu einem Arbeitsplatz verhelfen. Deshalb möchte ich diese Debatte gerne unaufgeregt führen.
Ich komme zu dem, was der Sachverständigenrat angeblich zur Senkung des Arbeitslosengeldes gesagt hat. Herr Pofalla, ich möchte gerne etwas zu Ihren Worten anmerken, die wir heute Morgen hören konnten. Es heißt, der Sachverständigenrat fordere bei Ablehnung eines Arbeitsangebotes eine Kürzung der Leistungen.
Es stimmt mich schon ein bisschen nachdenklich, dass man einen Sachverständigenrat braucht, der in einem Gutachten öffentlich etwas fordert, was wir schon in vielen Gesetzgebungsverfahren festgeschrieben haben.
Für solche Feststellungen, verehrter Herr Pofalla, brauchen wir weder einen Sachverständigenrat, noch brauchen wir politisch kluge Aussagen dazu.
Um es klipp und klar zu sagen: Wir haben in den Hartz-IV-Gesetzen gemeinsam mit der CDU/CSU Sanktionsregelungen beschlossen. Wer ein zumutbares Arbeitsangebot ablehnt, hat keinen Anspruch auf Finanzierung, und zwar weder nach SGB III noch nach SGB II. Wir haben im SGB-II-Fortentwicklungsgesetz diese Praxis noch einmal verändert und die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine weiter vereinfachte Anwendung geschaffen. Deshalb betrachte ich es ein bisschen als Flop, wenn man öffentlich so tut, als könnte in diesem Land jemand Geld bekommen, ohne sich dafür der gesellschaftlichen Verantwortung stellen zu müssen. Insofern ist die heutige Debatte eine sehr gute Gelegenheit, um festzustellen, dass - wenn das Sachverständigengutachten tatsächlich zu diesem Ergebnis kommen sollte - kein Handlungsbedarf besteht.
Dass der Bundesminister eindeutig festgestellt hat, dass es beim Regelsatz keinen Änderungsbedarf gibt, ist eine weitere klare Botschaft für die Menschen in diesem Lande, die durch eine solche Debatte verunsichert werden. Damit muss Schluss gemacht werden. Ich glaube, wir müssen uns verstärkt den inhaltlichen Aufgaben widmen. Dann werden wir das Land nach vorne bringen.
Lassen Sie mich noch drei kurze Stichworte nennen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das wird schwierig, Herr Kollege, weil der Blick auf die Uhr deutlich macht, dass dafür keine Zeit mehr zur Verfügung steht.
Klaus Brandner (SPD):
Es sind nur einige Stichworte. - Wir müssen das Thema der Leistungsgeminderten bzw. der Langzeitarbeitslosen aufgreifen. Wir müssen die Ausbildungssituation für die Jugend offensiv angehen und wir müssen deutlich machen, dass Überschüsse in der Bundesagentur nicht in den Haushalt fließen. Diese Überschüsse konnten durch die Arbeitsmarktpolitik erwirtschaftet werden und sie müssen auch in diesem Bereich bleiben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung des Bundeshaushalts 2007 den Einzelplan 11 mit einem Volumen - das ist schon angesprochen worden - von 122 Milliarden Euro. Das ist der größte Einzeletat im Bundeshaushalt. Er deckt knapp 50 Prozent des gesamten Ausgabevolumens ab. Allein dadurch wird deutlich, welchen Stellenwert die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in diesem Land hat. Daran möchte auch niemand etwas ändern.
Die große Koalition hat sich vorgenommen, den Haushalt des Bundes zu konsolidieren und vor allem die Neuverschuldung zu reduzieren. Wir tun das nicht zum Selbstzweck; wir schlagen diesen Weg vielmehr deswegen ein, weil wir es uns nicht mehr leisten können, unseren Kindern immer mehr Belastungen aufzuwälzen, die sie später irgendwann einmal tragen müssen. Dieser Weg ist richtig. Ich wünsche mir deshalb, dass die Opposition diesen Weg unterstützt.
Dieser Weg geht aber nicht völlig spurlos an der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vorbei. Es wird umso schwieriger, als wir erkennen müssen, dass die Ausgaben im Sozialbereich durch gesetzlich bedingte Fehlentwicklungen immer weiter angestiegen sind. Nur wenige in diesem Hause werden bestreiten, dass es im Sozialrecht, insbesondere bei den Hartz-IV-Gesetzen, Fehlanreize gegeben hat und die Ausgaben im SGB-II-Bereich immer weiter angestiegen sind. Ich will gar nicht von Leistungsmissbrauch reden, was uns von einer bestimmten Seite dieses Hauses immer wieder unterstellt wird.
Der Missbrauch wird vielleicht gar nicht in einem so großen Umfang betrieben, wie es immer wieder dargestellt wird.
Letzten Endes geht es aber um eine ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Leistungen, die an sich vom Gesetzgeber seinerzeit nicht beabsichtigt war. Wir haben in diesem Jahr durch zwei Änderungsgesetze zum SGB II bereits gesetzgeberisch darauf reagiert, natürlich mit dem Ziel, die Ausgaben weiter einzuschränken. Es ist aber kein Selbstzweck, die Ausgaben in diesem Bereich weiter einzuschränken. Wir wollen vielmehr die immer knapper werdenden finanziellen Mittel auf die konzentrieren, die wirklich Hilfe brauchen. Es ist mir sehr wichtig, an dieser Stelle noch einmal klar zu machen, dass es um die Menschen geht, die wirklich hilfsbedürftig sind, und nicht um andere, die vielleicht Hilfe in Anspruch nehmen, obwohl sie sie gar nicht brauchen.
Wir haben auf die Situation der weiterhin ansteigenden Ausgaben auch im Bundeshaushalt 2006 reagiert; das wurde bereits angesprochen. Der Haushaltsausschuss hat eine qualifizierte Haushaltssperre in Höhe von 1,1 Milliarden Euro im Einzelplan 11 verhängt. Ich will nicht verhehlen, dass dies bei den Kommunen für gewisse Probleme gesorgt hat; das ist keine Frage. Jeder hat das in seinem Wahlkreis erlebt. Die Optionskommune in meinem Wahlkreis, die gute Arbeit leistet, stand oft genug vor dem Problem, Geld für Integrationsleistungen ausgeben zu müssen, ohne zu wissen, wie viel Geld unter dem Strich tatsächlich fließt. Das hat aber dazu geführt - so ehrlich sollten wir uns gegenüber schon sein -, dass sich die Kommunen einmal kritisch angesehen haben, wofür die Gelder ausgegeben werden. Überall dort, wo das Geld nicht dringend für die Integrationsarbeit gebraucht wird, hat es offensichtlich Handlungsspielräume gegeben, das Geld wieder zurückzugeben. Ich bin allen Beteiligten dankbar, dass Anstrengungen unternommen wurden, die Mittel, die einige Kommunen nicht abrufen, an die Kommunen weiterzuleiten, die zusätzlich Geld brauchen. Mein Dank geht in diesem Fall an das Ministerium sowie an die Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses, die das letztendlich unterstützt haben.
Der Haushaltsausschuss hat in dieser Woche die Haushaltssperre teilweise aufgehoben. Die freigegebenen Gelder stehen nun wieder zur Verfügung, um an Kommunen mit Mehrbedarf verteilt zu werden. Entscheidend sind aber zwei Dinge: Wir haben dafür gesorgt, dass es Einsparungen im Bereich des SGB II geben kann. Trotzdem können die Kommunen, die nachweislich gute Arbeit leisten, ihre Tätigkeit fortsetzen. Ich finde, das ist für diese Kommunen ein sehr gutes Signal.
Wir haben bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten erste Maßnahmen für einen effizienteren Einsatz der Mittel ergriffen. Kollege Brandner hat bereits auf den neuen Gründungszuschuss hingewiesen. Dabei geht es darum, mit weniger Geld Existenzgründungen von Arbeitslosen noch besser zu fördern. Ich finde, wir sind dort auf einem guten Weg. Wir werden weitere Schritte machen, die dazu dienen, die arbeitsmarktpolitischen Instrumente noch besser auszurichten, das heißt, bestehende Instrumente zu verbessern, sie dort, wo es sinnvoll ist, zusammenzufassen und insgesamt effizienter zu gestalten. Sollte es die Möglichkeit geben, in diesem Bereich etwas einzusparen, dann sollten wir das tun. Aber es geht nicht um Einsparungen um ihrer selbst willen, sondern darum, knapper werdende Mittel an diejenigen effizienter zu verteilen, die Unterstützung brauchen.
Es ist unbestritten - das wurde schon angesprochen -, dass es bestimmte Personengruppen in diesem Land gibt, die besondere Unterstützung brauchen, zum Beispiel ältere Menschen bzw. ältere Arbeitnehmer. Wir alle wissen um die Probleme dieser Gruppe in Deutschland. Wir erleben in persönlichen Gesprächen das Leid der älteren Menschen - ich finde allerdings, es ist schwierig, bei über 50-Jährigen von älteren Menschen zu sprechen - und erfahren, dass es Menschen gibt, die arbeiten wollen, aber nicht arbeiten können, weil ihre Beschäftigungsperspektiven so schlecht sind. Es ist das erklärte Ziel dieser Koalition, die Beschäftigungsperspektiven für die Älteren in unserem Land deutlich zu verbessern. Der Bundesarbeitsminister hat bereits die Initiative ?50 plus“ vorgestellt. Das ist die richtige Richtung. Wir werden das im kommenden Herbst politisch auf den Weg bringen.
Eines ist aber auch klar: Alleine etwas politisch auf den Weg zu bringen, ist eine Sache. Die andere Sache ist, dass wir in diesem Land einen Bewusstseinswechsel brauchen. Jemand, der älter als 50 Jahre ist, darf nicht zum alten Eisen gehören. Auch in der Wirtschaft muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass eine gesunde Mischung aus älteren und jüngeren Mitarbeitern für die Betriebe von Vorteil ist.
Wir haben arbeitsreiche Monate hinter uns und arbeitsreiche Monate vor uns. Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. Alle sind eingeladen, an diesem Weg mitzuwirken.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zum Schluss der Beratung über diesen Geschäftsbereich erhält das Wort der Kollege Hans-Joachim Fuchtel für die CDU/CSU-Fraktion.
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Beratung hat gezeigt, dass die haushaltspolitische Musik in diesem Jahr ganz eindeutig im Haushalt des Vizekanzlers spielt
und dass es erhebliche Risiken in diesem Haushalt gibt. Ich möchte die Opposition jedoch beruhigen: Wir werden im Herbst in der Koalition eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, mit denen diese Risiken eingeschränkt werden.
Am wenigsten brauchen wir dabei die Belehrung von den Grünen. Sie sind jetzt seit neun Monaten nicht mehr in der Regierung. Ist Ihnen aufgefallen, dass jetzt das Maastrichtkriterium eingehalten wird, und ist Ihnen aufgefallen, dass der Arbeitsmarkt sich zu beleben beginnt?
Es gibt über 400 000 Arbeitslose weniger. Über 130 000 zusätzliche versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sind entstanden.
Ich an Ihrer Stelle wäre ganz ruhig; denn kaum sind Sie weg, geht es aufwärts mit Deutschland.
Der Minister Holter aus Mecklenburg-Vorpommern ist nicht mehr hier.
Das ist eine Unverschämtheit, nachdem er hier eine politisch deplacierte Rede als Bundesratsmitglied gehalten hat. Wir haben daran erkannt, dass sich die PDS ausschließlich im ALG II einigelt. Das ist reine sozialistische Politik. Ihren Wählern kann man nur zurufen: Steigen Sie aus dem sinkenden Schiff aus, steigen Sie in einen Dampfer, der Fahrt aufnimmt! Unterstützen Sie eine Politik, die auf Arbeitsplatzschaffung im ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet ist
und nicht den zweiten Arbeitsmarkt kultiviert.
Dem Kollegen Kolb von der FDP möchte ich sagen: Sie sind lange genug im Geschäft und wissen, dass sich eine konjunkturelle Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt verzögert niederschlägt. Deshalb sollten Sie noch ein bisschen warten, bevor Sie alles geißeln. Wir haben die richtigen Weichenstellungen vorgenommen und nur wegen Ihrer Oppositionsbrille können Sie das nicht sehen. Ansonsten müssten Sie uns in diesem Bereich zustimmen.
Erfreulicherweise ist heute anders als noch bei der letzten Haushaltsberatung, als ich das hier schon einmal für die Unionsfraktion gesagt habe, ganz klar geworden: Wenn sich Spielräume eröffnen, den Beitrag weiter zu senken, dann müssen diejenigen, die den Beitrag eingezahlt haben, von Beitragssenkungen profitieren.
Wir dürfen die Leistungsträger nicht frustrieren, wir müssen sie unterstützen. Spätestens seit Kurt Beck das so deutlich erkannt hat, glaube ich wirklich daran, dass wir gemeinsam als Koalition eine weitere Beitragssenkung erreichen.
Schwieriger ist es mit dem Bereich des Arbeitslosengelds II. Hier ist ganz klar, dass es eine Reihe von Fehlentwicklungen gibt, denen wir entgegenwirken müssen. Ich fürchte, mit den bisherigen Reformen haben wir nur die Milchzähne der Fehlentwicklungen gezogen.
Jetzt müssen wir noch weitere Zähne ziehen, um auf die Ebene zu kommen, die mein Kollege soeben dargestellt hat: dass diejenigen Unterstützung bekommen, die sie brauchen, und diejenigen, die sich selbst helfen können, verpflichtet werden, sich in entsprechendem Maß tatsächlich selber zu helfen.
Ich bin überzeugt, dass es notwendig ist, darüber zu reden, wer bei den Arbeitsgemeinschaften eigentlich den Hut aufhat. In diesem Herbst muss geklärt werden, wer den Hut aufsetzt und damit die Verantwortung für diesen großen Sektor trägt. Wir wollen schließlich wissen, wer die Verantwortung trägt.
Es kann nicht sein, dass der eine bestellt und der andere zahlt. In solchen Fällen wird es zu teuer. Das muss geklärt werden. Wenn wir das schaffen, werden wir viel Geld sparen. Wir sind in unseren Haushaltsansätzen auf Reduzierungen eingestellt.
Ein weiterer Aspekt umfasst die Eingliederungshilfen. Dazu kann ich nur sagen: All das, was hier erzählt wurde, geht an der Sache vorbei. Tatsache ist, dass 6,5 Milliarden Euro im Haushalt standen. Tatsache ist, dass wir 1,1 Milliarden Euro gesperrt haben. Tatsache wird sein - damit sage ich etwas, was heute noch nicht gesagt worden ist -, dass wir auch in diesem Bereich einen Überschuss von mindestens 1,5 Milliarden Euro am Ende des Jahres haben werden. Das ist die Realität.
Es ist völlig falsch, dass hier gejammert wird, man habe das Geld nicht richtig ausgegeben. Alle, die zusätzliches Geld benötigen, werden durch unsere haushaltspolitischen Maßnahmen dieser Tage bedient werden. Es ist eine Unverschämtheit, dass dies hier falsch dargestellt wird. Es ist reiner Wahlkampf, den Sie hier veranstalten. Wir werden feststellen - wir haben jetzt 240 bis 250 Millionen Euro entsperrt -, dass wir am Ende des Jahres einen Riesenüberschuss haben werden. Ich bin gespannt, ob dann all diejenigen, die erst das Geld angefordert, aber nicht ausgegeben haben und die uns in der Öffentlichkeit gegeißelt haben, hierher kommen und sich entschuldigen. Das wäre eigentlich die richtige Forderung, die wir stellen müssten.
Wir werden auf eines achten müssen: Es wird leider sehr viel getrickst und in gewissen Bereichen gestaltet, was wir so nicht wollen. Wenn Sie gestern die ?Welt“ gelesen haben, dann werden Sie festgestellt haben, dass es Arbeitsgemeinschaften gibt, die sogar Führerscheine finanzieren und Zuschüsse von bis zu 2 500 Euro für Autos geben. So haben wir uns die Eingliederungshilfe nicht vorgestellt. Sie muss anders angelegt werden, damit man das dem Steuerzahler erklären kann.
Es kann doch nicht sein, dass man Jobfinderprämien einführt, wie das jetzt in einigen Arbeitsgemeinschaften gemacht wird. Es kann nicht sein, dass selbst diejenigen, die einen Job gefunden haben, ohne den Kundenservice zu nutzen, im Nachhinein 1 000 Euro erhalten, nur weil sie jetzt einen Job haben. Es geht doch nur darum, genug statistische Fälle zu haben, um die Existenzberechtigung zu belegen. So geht es nicht. Wir werden die Hilfen auf die Fälle begrenzen, die wirklich Unterstützung brauchen.
Ein Letztes: Wir müssen mit all unseren Maßnahmen darauf hinwirken, dass es nicht zu Mitnahmeeffekten im Arbeitgeberlager kommt, und verhindern, dass die Arbeitgeber nur dann ausbilden und nur dann einstellen, wenn sie Zuschüsse erhalten. Wir brauchen die Solidarität aller. Wir appellieren an alle, gemeinsam in eine Richtung zu gehen, damit es nicht zu solchen Mitnahmeeffekten kommen kann. Wenn wir es schaffen, Solidarität herzustellen, dann werden wir auch im Sozialetat mit weniger Geld auskommen. Das ist die Aufgabe. Herr Minister, wir haben einen arbeitsintensiven Herbst vor uns. Sie können sicher sein, dass wir von der Unionsfraktion unseren Beitrag leisten werden, eine solide Finanzierung Ihres Etats sicherzustellen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Einzelplan 17.
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre schön, wenn diejenigen, die sich nun anderen Verpflichtungen widmen müssen, dazu beitragen könnten, dass die nötige Konzentration im Plenum für den neuen Geschäftsbereich hergestellt wird.
Das Wort erhält zunächst die Bundesministerin Ursula von der Leyen. Frau von der Leyen, bitte schön.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geld allein macht bekanntlich nicht glücklich. Aber wir debattieren im Augenblick den Bundeshaushalt und da geht es vorrangig um Geld. Es macht mich ehrlich gesagt stolz und glücklich, dass unser Politikbereich derjenige ist, der den zweithöchsten prozentualen Aufwuchs in diesem Jahr gehabt hat.
Dies ist ein klares Zeichen: Wir investieren in Familie; Investition in Familie ist eine Zukunftsinvestition.
Wir haben allen Grund dazu: wenig Kinder, ein sich abzeichnender Fachkräftemangel, ungenutzte Potenziale älterer Menschen. Das sind ernst zu nehmende Vorboten dafür, welche Umstellungen vor uns liegen. Diese Umstellungen müssen wir bewältigen. Deshalb kann eine nachhaltige Familienpolitik keine Politik sein, die an dem festhalten will, was schon immer so war. Eine nachhaltige Familienpolitik ist vielmehr eine Politik, die nicht nur den Istzustand betrachtet, sondern auch aus den stattfindenden Veränderungen lernt und Schlüsse zieht. Es geht um die Gestaltung dessen, was auf uns zukommt.
Ziel muss dabei sein, dass der für uns hohe Wert von Familie - die inneren Bindungen - auch in einer modernen Welt lebbar ist. Wir brauchen vorwiegend vier Schwerpunkte: eine Politik, die das Zusammenleben von Männern und Frauen mit Kindern in einer globalisierten Welt möglich macht; eine Politik, die lebhafte Beziehungen zwischen Älteren und Jüngeren fördert; eine Politik für die Integration von in unsere Gesellschaft neu Hinzugezogenen; vor allem eine Politik, die Kindern vom Lebensanfang an Chancen auf Bildung und Chancen auf Erziehung gibt.
Bereits in diesem Jahr haben wir die Weichen dafür ganz konkret gestellt. Es ist klar: Das war mit vielen Diskussionen verbunden. Dabei haben wir Vertrautes auf den Prüfstand gestellt. Wir haben eingefahrene Denkmuster infrage gestellt. Aber wenn wir Familie und ihre Werte auch am Anfang des 21. Jahrhunderts lebbar machen wollen, dann müssen wir jetzt handeln. Ich nenne hier nur vier der wichtigsten Weichenstellungen, die sich auch im Haushalt 2007 niederschlagen: das Elterngeld, die Mehrgenerationenhäuser, das Aktionsprogramm ?Frühe Hilfen für Eltern und Kinder“ und das Programm ?Jugend für Vielfalt und Demokratie“.
Das höhere Volumen des Einzelplans 17 für das kommende Jahr geht eindeutig auf das Elterngeld zurück. Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich freue mich und ich bin stolz darauf, dass es explizit in das Investitionsprogramm aufgenommen worden ist. Das ist der richtige Akzent. Investition heißt auch investieren in Familie und nicht nur in greifbare Güter oder in Beton Gegossenes. Investition heißt vor allem investieren in die Menschen, ihre Beziehungen und die Entfaltung dieser Beziehungen.
Das Elterngeld macht auch sehr klar - ich glaube, das ist wichtig -, dass die Gesellschaft junge Menschen bei einer ihrer wichtigsten Entscheidungen im Leben nicht allein lässt, sondern sie gezielt unterstützt. Das heißt, jeder junge Vater und auch jede junge Mutter kann jetzt am Lebensanfang der Zeit für sein Kind oder für ihr Kind oberste Priorität beimessen, ohne den bisherigen Einkommensverlust hinzunehmen. Zeit ist Geld und das Elterngeld schafft Zeit für Kinder.
Damit erfüllt das Elterngeld zwei Kernanliegen: Die Bedürfnisse der Kinder und die beruflichen Perspektiven der Eltern werden gemeinsam betrachtet. Sie werden nicht mehr in Konkurrenz zueinander gestellt. Damit sichert das Elterngeld Wahlfreiheit, nämlich die Freiheit, bei den Kindern zu sein, und die Möglichkeit, zu arbeiten.
Natürlich muss dieser Gedankengang nach dem ersten Lebensjahr weitergesponnen werden. Das bedeutet: Ausbau familienentlastender Netze, Ausbau der Kinderbetreuung und der Tagespflege, familienfreundliche Arbeitsstrukturen. Dies alles ist unerlässlich, wenn man ein geschlossenes Konzept haben will. Wir haben noch einen - im internationalen Vergleich - langen Weg vor uns. Ich will hier auch ganz klar sagen: Auf diesem Weg müssen viele Akteure tätig werden; denn diese Felder sind keine originären Handlungsfelder des Bundes.
Der Bund kann unterstützen, zum Beispiel durch verbesserte Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten und der haushaltsnahen Dienstleistungen, aber Länder, Kommunen, freie Träger und Arbeitgeber tragen ebenfalls einen Teil der Verantwortung und diesen müssen wir auch einfordern.
Zur Familienpolitik gehört selbstverständlich auch eine Politik für ältere Menschen und ihre Potenziale, vor allem für das, was diese vielen kompetenten, leistungsbereiten und verantwortungsbewussten älteren Menschen zu geben bereit sind. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass sie zu geben bereit sind, und zwar nicht nur im materiellen Sinne, sondern auch in dem wichtigen immateriellen Sinne.
Wir müssen gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels Familie weiter denken, in weiteren Dimensionen. Familie ist natürlich der Ort, wo zuallererst Alltagssolidaritäten erfahren und erlernt werden. Aber man kann sich nicht mehr allein auf die Kernfamilie beschränken. Man kann vielmehr, wenn man es richtig bedenkt und auch richtig gestaltet - das ist mir wichtig -, jene, die Kinder haben, mit jenen verbinden, die keine Kinder haben. Die Beziehungen zwischen beiden Gruppen dürfen unter keinen Umständen allein auf finanzielle Dinge verkürzt werden.
Jeder hat Familie. Jeder hat eine Herkunftsfamilie. Nicht alle, aber viele haben eine eigene junge Familie. Die Kunst besteht darin - das muss unsere Aufgabe sein -, zu erreichen, dass sich sowohl die Familie als auch die vielen Angebote für die einzelnen Generationen in die Nachbarschaft öffnen. Unter ein Dach sollen auch jene eingeladen werden, die keine eigenen Kinder haben oder deren Kinder zum Beispiel weit weg wohnen.
Das ist der Grundgedanke des Aktionsprogramms der Mehrgenerationenhäuser. Sie sollen Drehscheiben für bürgerschaftliches Engagement sein. Sie sollen genauso Drehscheiben für Dienstleistungen rund um die Familie sein, also in einem modernen Sinne das leisten, was früher Dorfstrukturen oder Großfamilien geschafft haben. Die Ausschreibung für die ersten 50 Häuser wurde vor kurzem gestartet. Im kommenden Jahr wollen wir mit den Mehrgenerationenhäusern in die Fläche gehen. 20,5 Millionen Euro sind dafür im Haushalt veranschlagt.
Lassen Sie mich aus dem Bereich der Politik für Kinder und Jugendliche noch zwei wichtige Punkte herausgreifen.
Die frühen Hilfen für Eltern und Kinder schützen und fördern die Kinder, die am Lebensanfang besonderen sozialen und besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind. Inzwischen ist das Servicebüro ausgeschrieben, das heißt, wir können jetzt mit der Arbeit beginnen, die vielen innovativen Ansätze zu vernetzen, die es in Ländern und Kommunen schon gibt, um systematisch eine Art Frühwarnsystem genau für diese Kinder zu entwickeln, sodass sie am Lebensanfang nicht allein gelassen werden.
Man kann auch das Programm ?Jugend für Vielfalt und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ als eine Art Frühwarnsystem bezeichnen. Mit dem neuen Programm werden nach Auslaufen der Programme ?Civitas“ und ?Entimon“ für Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie dauerhaft 19 Millionen Euro festgeschrieben. Das neue Programm ist nicht einfach nur eine Fortsetzung der alten Programme. Wir haben aus den Erfahrungen gelernt und setzen insbesondere auf die Entwicklung integrierter lokaler Strategien und die Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort.
?Lernen von guten Erfahrungen“ ist auch ein Stichwort, das sich für die EU-Ratspräsidentschaft anbietet, die im ersten Halbjahr 2007 ansteht. Das wird ein spannender Prozess werden. Ganz Europa ist vom demografischen Wandel betroffen, aber unterschiedlich. Wir sehen deutliche Unterschiede in der Entwicklung der nord- und westeuropäischen Länder, die sehr viel früher und sehr viel flexibler auf den Geburtenrückgang reagiert haben. Wir sehen andere Entwicklungen in den mittel- und südeuropäischen Ländern. Dieses halbe Jahr ist eine ganz besonders gute Chance, nicht nur im Bereich der Jugendpolitik - da auch -, sondern auch in anderen Politikfeldern - ich nenne beispielhaft die Frage: Wie gehen wir in einer alternden Gesellschaft mit dem Potenzial älterer Menschen um? - voneinander zu lernen, weil die Länder in der EU einerseits unterschiedlich, andererseits aber dann doch sehr ähnlich sind, auf ähnlichen Wurzeln beruhen, ähnliche Chancen haben, aber auch mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
2007 ist das Europäische Jahr der Chancengleichheit. Deshalb sage ich auf unseren Politikbereich bezogen: Es geht ganz klar um die Chance für jeden - ob Kind, Mann oder Frau, ob Jung oder Alt, ob mit Zuwanderungshintergrund oder ohne -, sein oder ihr Leben und die Lebensziele selbstständig zu entwickeln. Das kann man aber nur auf der Basis der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Unsere Aufgabe ist es, den Rahmen dafür zu schaffen, dass junge Menschen die Fähigkeiten und Kompetenzen, die ihnen innewohnen - in unterschiedlicher Form; aber sie wohnen ihnen inne -, von Anfang an entfalten können, zum Blühen bringen können. Sie werden später genügend schwierige Entscheidungen fällen müssen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen die Chance auf Bildung und Erziehung von Anfang an zu geben.
Über diese Chance werden wir im nächsten Jahr auf EU-Ebene diskutieren können. Wir werden von anderen Ländern lernen können. Wir können aber auch sehr konsequent mit unseren eigenen Vorstellungen den Folgen des demografischen Wandels Rechnung tragen. Ich bitte Sie dafür um Ihre Mithilfe und freue mich auf die gemeinsame Arbeit.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
Miriam Gruß (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Fangen wir mit dem Positiven an; denn das ist schnell abgearbeitet. Die Ankündigung von Frau Ministerin von der Leyen, ein Kompetenzzentrum für Familienleistungen einzurichten und dafür die Mittel in diesen Haushalt einzustellen, begrüßen wir. Ich habe es an dieser Stelle schon einmal gesagt: Der Aufwand, der in Deutschland für Familien betrieben wird, ist enorm hoch, der Ertrag jedoch sehr bescheiden.
Das muss sich ändern.
Die FDP versteht unter Familienförderung etwas anderes als das Gießkannenprinzip. Wir müssen da die richtigen Akzente setzen, wo Familien Leistungen am dringendsten benötigen. Für alle ein bisschen hilft keinem weiter. Zu hoffen bleibt, dass aus den Erkenntnissen dieses Kompetenzzentrums sinnvolle und durchdachte Schlüsse gezogen werden, sodass die Familien an den Stellen unterstützt werden und Leistungen dort effektiv gebündelt werden, wo es wirklich notwendig ist.
Dafür hat Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerin, der grenouillesche, das heißt der richtige Riecher gefehlt. Ein weiteres ?Viel Lärm um nichts“ können Sie den Familien nicht zumuten.
Wir wollen jungen Menschen in Deutschland Mut machen, sich für Kinder zu entscheiden. Dafür müssen wir ihnen aber auch Verlässlichkeit und Vertrauen in die Unterstützung bieten, die ihnen zur Verfügung steht.
Ein Elterngeld alleine reicht da nicht aus.
Kinder sind ein wertvolles, aber auch teures Gut. Jeder, der Kinder hat, weiß, was ich meine. Die Kosten für Familien sind eklatant, wenn sie Kinder haben. Die Ausgaben für ein Kind sind von 1998 bis heute um mehr als 10 Prozent gestiegen. Durchschnittlich 549 Euro gibt eine Familie laut Statistischem Bundesamt pro Kind im Monat aus. Wir reden hier lediglich über die Grundversorgung. Da ist kein Klavierunterricht, keine Reitstunde oder gar ein gemeinsamer Familienurlaub enthalten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gestern in der Haushaltsdebatte gesagt: Es geht um die Menschen und darum, ihnen das zu geben, was sie brauchen. - Ein schöner Satz; aber, verehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, mit Ihrer Politik nehmen Sie den Menschen das, was sie brauchen.
Die Mehrwertsteuererhöhung wird insbesondere Familien treffen. Sie bedeutet für viele Familien in Deutschland schlichtweg eines: Verzicht, Verzicht auf den neuen Schulranzen, Verzicht auf Spielzeug, Verzicht auf eine Feier zum Kindergeburtstag. Denn all dies machen Sie um 3 Prozentpunkte teurer.
Mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben nach Angaben des Kinderschutzbundes schon jetzt auf Sozialhilfeniveau. Damit hat sich die Zahl der armen Kinder seit 2004 verdoppelt. Die Situation dieser jungen Menschen wird sich durch die Steuererhöhung weiter verschlechtern.
Um Familien und Kinder in Deutschland zu fördern, kommt es darauf an, die richtigen Prioritäten zu setzen. Diese kann ich im Einzelplan 17 nicht erkennen. Die Mehrausgaben für das Elterngeld sind nur ein Beispiel dafür. Es nützt den Familien nämlich nichts, wenn sie nach dem ersten Geburtstag des Kindes keine Anschlussbetreuung haben.
Wir müssen früher ansetzen, bevor wir später viel für das zahlen, was wir heute versäumt haben.
Ganz elementar dafür ist meiner Ansicht nach eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. In der vergangenen Woche habe ich an alle Fraktionen und an die kinder- und jugendpolitischen Sprecher einen Brief geschrieben, um eine interfraktionelle Initiative zu starten. Die Zeit ist reif dafür, über Parteigrenzen hinweg den Schutz und die Rechte der Kinder in das Grundgesetz aufzunehmen. Bis heute habe ich viel positives Feedback erhalten. Eine Rückmeldung der Fraktionen, die die Bundesregierung stützen, steht allerdings noch aus. Ich warte gespannt auf deren Antwort und darauf, was ihnen die Kinder in Deutschland wert sind. Denn das steht nicht im Einzelplan 17.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion.
Christel Humme (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Frau Ministerin hat gerade darauf hingewiesen: Das Jahr 2007 wird das Europäische Jahr der Chancengleichheit. Auf den entsprechenden Internetseiten ist nachzulesen:
Ziel der Europäischen Kommission ist es, Diskriminierungen wirksam zu bekämpfen, Vielfalt als positiven Wert zu vermitteln und Chancengleichheit für alle zu fördern.
Das passt gut: Chancengleichheit ist ein zentraler Maßstab sozialdemokratischer Politik und wird es auch in Zukunft bleiben. Mit dem Haushalt 2007 - Frau Ministerin, auch Sie haben das gesagt - sind wir im Hinblick auf den Aspekt der Chancengleichheit sehr gut aufgestellt.
Trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung sind die Mittel im Einzelplan 17 um 16 Prozent aufgestockt worden. Mit diesen zusätzlichen Mitteln werden wir das Elterngeld - das haben wir gerade gehört - finanzieren. Unser Elterngeld wird die Chancengleichheit für Frauen und Männer am Arbeitsplatz fördern. Väter können zukünftig in den Betrieben leichter sagen, dass sie Familienarbeit übernehmen wollen. Frauen werden bei der Einstellung und bei Beförderungen bessere Chancen haben. Denn nun wird es auch für die männlichen Mitbewerber attraktiver, Elternzeit zu nehmen. Diskriminierende Rollenzuweisungen am Arbeitsplatz und in der Familie werden mit dem Elterngeld endlich aufgebrochen.
Ich meine, dass der Vorschlag des Bundesrates - wir werden über das Elterngeld in den nächsten 14 Tagen zu diskutieren haben -, den Anspruch auf den Geschwisterbonus auf drei Jahre zu verlängern, völlig falsch ist. Denn das würde bedeuten, dass die betroffenen Frauen eine wesentliche Benachteiligung am Arbeitsplatz erfahren würden. Wir alle wissen doch: Je länger die Babypause dauert, desto schwieriger ist für Frauen der Wiedereinstieg in den Job. Dann helfen anschließend auch keine so genannten Wiedereinsteigerprogramme, ganz zu schweigen von den Folgen für die späteren eigenständigen Rentenansprüche der Frauen.
Ich begrüße es daher sehr, dass Sie, Frau Ministerin, in dieser Richtung eine klare Position bezogen haben und den Vorschlag des Bundesrates ablehnen.
Junge Frauen um die 30 sind zu über 95 Prozent - das wissen wir - berufstätig. In diesem Alter entscheiden sie sich für oder gegen Kinder. Diese Frauen brauchen unsere Unterstützung mit besseren Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dafür setzen wir uns ein und das meinen wir, wenn wir von echter Wahlfreiheit für Frauen und Männer sprechen.
Das alleine - Frau Golze, auch das wissen wir - reicht natürlich nicht.
- Entschuldigung. Frau Gruß, ich kann verstehen, dass Sie nicht verwechselt werden wollen. - Zu mehr Chancengleichheit von Frauen und Männern - das ist eine Binsenwahrheit - gehört ein gutes und verlässliches Betreuungsangebot auch für Kinder unter drei Jahren, wie es uns die europäischen Nachbarstaaten vormachen.
Der aktuelle Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung des Tagesbetreuungsausbaugesetzes zeigt, dass es Fortschritte gibt. Danach ist das Betreuungsangebot in Westdeutschland für unter Dreijährige tatsächlich gestiegen, aber eben nur von 4,2 Prozent auf 9,6 Prozent in vier Jahren. Wir stellen leider immer noch fest: Der Fortschritt ist vielerorts noch eine Schnecke. Die Länder und Kommunen sind an dieser Stelle gefordert, in den nächsten zwei Jahren noch größere Anstrengungen zu unternehmen.
- Ich sage gleich noch etwas dazu, Frau Lenke, weil ich weiß, dass Sie dazu immer wieder etwas hören wollen.
Sollte der bedarfsgerechte Ausbau der Kinderbetreuung nicht erfolgen, werden wir einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige im Gesetz formulieren.
Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, und das werden wir auch umsetzen.
Frau Lenke und Frau Gruß, Kommunen brauchen natürlich auch Geld. Sie haben in der Haushaltsdebatte gebetsmühlenartig darauf abgestellt, dass wir die Mehrwertsteuer zurücknehmen sollten. Beantworten Sie mir aber einmal die Frage, wie die Betreuung finanziert werden soll. Denn ein Drittel des Mehrwertsteueraufkommens geht an die Länder und es sind die Länder und die Kommunen, die die Betreuung organisieren und umsetzen müssen.
Mit der Verwendung der Mehreinnahmen im Haushalt haben wir zwei wichtige Ziele erreicht: Konsolidierung auf der einen Seite und Zukunftsinvestitionen in mehr Bildung und Betreuung auf der anderen Seite, was gerade im Interesse der Familien, ihrer Kinder und der nachfolgenden Generationen liegt. Darin unterscheiden wir uns wesentlich. Wir haben ein Zukunftskonzept und Sie sagen Nein dazu. Das reicht uns natürlich nicht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Humme, darf Ihnen die Frau Kollegin Lenke eine Zwischenfrage stellen?
Christel Humme (SPD):
Bitte.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte schön.
Ina Lenke (FDP):
Frau Humme, wir beide sind schon etwas länger im Bundestag. Ich erinnere mich daran, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe den Kommunen 1,5 Milliarden Euro zur Betreuung von Kindern unter drei Jahren einbringen sollte. Ich habe im Rahmen von verschiedenen Initiativen immer wieder die alte und die neue Bundesregierung danach gefragt. Aber ich habe keine Antwort bekommen. Ich frage Sie, warum Sie nicht mehr von dieser Finanzierungsart sprechen, sondern warum Sie jetzt davon sprechen, dass die Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung für die Kinderbetreuung verwendet werden sollen. Ich möchte weiterhin gerne wissen, wo das steht.
Christel Humme (SPD):
Die Entlastung der Kommunen ist im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung zugesagt worden. Sie waren dabei, als wir im letzten Jahr entschieden haben, dass die Kommunen vom Bund mehr Geld zur Verfügung gestellt bekommen. Die Aufgabe der Kommunen ist es, einen Teil dieser Einsparungen - diese gibt es; sie sind auch in meinem Kreis gegeben; sie stehen definitiv auf dem Papier - für die Kinderbetreuung zu verwenden.
Frau Lenke, Sie als Kommunalpolitikerin - Sie lassen keine Gelegenheit aus, dies zu betonen -
wissen ganz genau, dass wir als Bund keinerlei Möglichkeit haben, jede Kommune zu verpflichten, die Gelder so einzusetzen, dass sie für die Investition in die Zukunft unserer Kinder genutzt werden können. Ich gebe zu, dass das ein Problem ist. Aber wir haben den Kommunen das benötigte Geld für die Betreuung gegeben. Ich glaube, da könnte sich einiges bewegen. Es gibt Gemeinden, die das genutzt haben. Darauf sind wir stolz.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich merke, dieses Thema muss im Ausschuss noch vertieft werden. Darf denn nun auch die Kollegin Deligöz eine Zwischenfrage stellen?
Christel Humme (SPD):
Bitte schön.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Humme, Sie haben die 9 Prozent zitiert. Stimmen Sie mir zu, dass dieser Anteil regional sehr unterschiedlich ausfällt, dass gerade im Süden unseres Landes, wo die Defizite am größten sind, dieser Anteil nach wie vor nur bei 2 bis 3 Prozent liegt und dass dort etwas getan werden muss?
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch fragen, wie Sie zu der Idee der Grünen stehen, über Absenkung - nicht Abschaffung - des Ehegattensplittings einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für unter Dreijährige teilzufinanzieren? Wie stehen Sie zu dieser Idee, zumal auch Ihr Finanzminister sich bereits sehr positiv gegenüber dieser Idee geäußert hat?
Christel Humme (SPD):
Vielen Dank, Frau Deligöz. Ich nehme an, dass Sie mit den 9 Prozent die Quote von 9,6 Prozent bei Betreuungsplätzen für unter Dreijährige meinen.
Richtig ist, dass an dieser Stelle schon eine Menge geschehen ist und wir regional sehr große Unterschiede haben. In Städten in Ostdeutschland haben wir 37 Prozent, in Westdeutschland aber ein hohes Defizit. Viele Kommunen haben gute Ansätze. Ich denke etwa an die Kommune Leer, in der das Kinderangebot auch von unseren Initiativen nach vorne gebracht wurde.
Sie haben vollkommen Recht: Wir brauchen zusätzliche Mittel. Sie wissen, dass alle Parteien darüber nachdenken, wie man zusätzliche Mittel akquirieren kann - Mittel, die vielleicht auch nicht zielgenau zu den Familien kommen, die Kinder haben. Da werden wir sicherlich - das Ministerium tut das auch - eine Menge zu untersuchen und zu überlegen haben. Dazu gehört meiner Ansicht nach auch, das Ehegattensplitting auf den Prüfstand zu stellen und zu überlegen, ob das nicht zielgenauer für die Betreuung eingesetzt werden kann. Reicht Ihnen das?
- Gut.
Diese Zwischenfragen machen gleichzeitig deutlich: Wenn wir Familienpolitik betreiben wollen, dann brauchen wir Partner, wir brauchen die öffentliche Hand - das ist klar. Bund, Land und Kommune müssen da zusammenwirken, aber wir brauchen auch die Unternehmen. Diesen Appell dürfen wir nicht vergessen, denn wir brauchen auch die privaten Initiativen. Das ist gar keine Frage. Denn Chancengleichheit ohne familienfreundliche Arbeitsbedingungen ist meiner Ansicht nach nicht zu machen.
Von daher danke ich der Frau Ministerin, dass unsere Allianz für Familie weitergeführt und das Konzept der lokalen Bündnisse fortgesetzt wird.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich bin froh, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz seit dem 18. August nach langem Ringen endlich in Kraft ist. Auch das wird die Chancengleichheit von Frauen und Männern stärker in den Mittelpunkt rücken. Denn Frauen sind es, die immer noch weniger verdienen. Wir konnten das heute in der Presse nachlesen und bestätigt bekommen. Frauen sind in den Führungsetagen noch immer nur mit der Lupe zu finden. Ich denke, das muss sich dringend ändern.
Neben dem guten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz brauchen wir einen tatsächlichen Mentalitätswandel und Verhaltensänderungen. Darum bin ich froh, dass in unserem Haushalt, im Einzelplan 17, die Gleichstellungsstelle mit 2,8 Millionen Euro etatisiert ist. Damit setzen wir im Jahr der Chancengleichheit 2007 ein wichtiges Signal, vor allem für die Frauen.
Chancengleichheit für alle schließt auch ein - das ist ein wichtiger Punkt -, unsere Anstrengungen zur Armutsprävention fortzusetzen. Oft erleben wir - das ist leider so, es ist nicht von der Hand zu weisen -, dass das Familieneinkommen so gering ist, dass es nicht für den Unterhalt der Kinder reicht. Dann zahlen wir - das haben wir durchgesetzt, das ist auch gut so - einen Kinderzuschlag. Je nach Einkommen sind das bis zu 140 Euro zusätzlich zum Wohn- und Kindergeld.
- Ich weiß, das Instrument ist sehr kompliziert. Darum möchten wir schnell erreichen, dass es einfacher und flexibler gestaltet wird. Wir haben das Ziel, nicht nur 150 000 Kinder mit diesem Instrument zu erreichen, sondern in Zukunft 420 000. Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Haushaltsdebatte und darüber hinaus zu einem guten Weg finden, genau das zu erreichen.
Ich bleibe dabei: Der Ausbau der Betreuung, das Elterngeld und damit eine höhere Erwerbsquote von Frauen sind immer noch die besten Instrumente, Familienarmut zu bekämpfen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, Chancengleichheit - das haben wir auch vorhin von der Ministerin gehört - ist nicht ohne bessere Bildungschancen realisierbar. Unser Ziel sind die qualitativ gute Betreuung und Bildung von Anfang an. Das ist die Voraussetzung für einen besseren Spracherwerb und einen besseren Integrationsprozess. Wir wollen nicht, dass die Herkunft über den Bildungsabschluss und damit über die Zukunftschancen unserer Kinder entscheidet.
Unser Ziel ist die Chancengleichheit für Frauen und Männer, für alle Kinder, aber auch - was in einer älter werdenden Gesellschaft immer wichtiger wird - für ältere Menschen. Dass nur noch jeder zweite Betrieb - wir haben das heute morgen in mehreren Reden gehört - Mitarbeiter beschäftigt, die älter als 50 Jahre alt sind, ist personalpolitisch unklug und gesellschaftspolitisch ein Skandal. Deshalb unterstütze ich Bundesarbeitsminister Franz Müntefering, der die Beschäftigungschancen der Älteren verbessern will.
Ich unterstütze auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hat eine interessante Bemerkung gemacht. Im Rahmen einer Veranstaltung hat sie vorgeschlagen - Sie haben schon darauf hingewiesen -, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen.
Ich denke, das ist ein Projekt, das wir gemeinsam in Angriff nehmen können. Dieses Projekt wäre ein gutes Signal für das kommende Europäische Jahr der Chancengleichheit.
Schönen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke.
Diana Golze (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Kinder, Jugendliche und Familien haben es in der Bundesrepublik nur so lange gut, wie nett lächelnde Politikerinnen und Politiker ihnen versichern, dass gerade ihr Wohl im Mittelpunkt des Interesses stehe.
Wenn der Bundeshaushalt aufgestellt wird, ist es damit aber schnell vorbei. Die schwarz-roten Sozialpolitiker ziehen jeden Tag mit neuen Zumutungen durchs Land. Für Kinder und Jugendliche halten sie bestenfalls die Perspektive auf eine Rente mit 67 bereit. Dazu bieten sie ihnen einen desolaten Ausbildungsmarkt, Jugendarbeitslosigkeit und 1-Euro-Jobs. Die Familien müssen über die Mehrwertsteuererhöhung die Steuergeschenke für Unternehmen und Vermögende finanzieren.
Davon unbeeindruckt lächelt die Jugend- und Familienministerin von der Leyen in die Kameras. Ihr Anspruch lautet: Die Politik kann und muss geeignete Rahmenbedingungen für Familien schaffen. Nach der Lektüre des zweiten Haushalts aus dem Hause von der Leyen kann ich nur sagen: Diese Politik ist ein Zukunftsrisiko für viele Kinder und Jugendliche in diesem Land.
Der Einzelplan 17 erhält einen Aufwuchs in Höhe von knapp 726 Millionen Euro. Wir alle kennen den Grund: das Elterngeld. Aus der Sicht der Koalition ist das eine familienpolitische Innovation. Ich nenne das Elterngeld eine sozialpolitische Mogelpackung. Es benachteiligt Eltern mit niedrigem oder gar keinem Erwerbseinkommen und wird dazu beitragen, die Kinderarmut zu verschärfen. Eine dreiviertel Milliarde Euro nimmt diese Regierung in die Hand, um Gut- und Besserverdienenden den Zugang zu steuerfinanzierten Sozialleistungen zu ermöglichen. Die wirklich Bedürftigen sind davon teilweise ausgeschlossen. Das ist die sozial- und familienpolitische Logik von Schwarz-Rot.
Während Frau von der Leyen beim Elterngeld aus dem Vollen schöpft, müssen sich viele andere Bereiche in Bescheidenheit üben. Die Mittel für den Kinder- und Jugendplan des Bundes werden sogar leicht gekürzt. Für das Bundesprogramm zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie - ehemals unter den Namen ?Civitas“ und ?Entimon“ bekannt - hat das Familienministerium keinen Euro mehr als in den Jahren zuvor übrig. Und das alles, während Neonazibanden durch Mecklenburg-Vorpommern und Berlin ziehen und die dortigen Wahlkämpfer aller demokratischen Parteien in Angst und Schrecken versetzen.
Die mit viel Mühe und Bundesmitteln seit dem Jahr 2001 aufgebauten Projekte gegen Rechts, die mobilen Beratungsbüros und Opferberatungsstellen werden ohne Perspektive im Regen stehen gelassen. Weil es bis heute keine Ausschreibung gibt, darf getrost davon ausgegangen werden, dass im ersten Halbjahr 2007 eine deutliche Förderlücke entsteht. Die Mitarbeiter gehen in diesen Tagen zum Arbeitsamt. Die Kündigungen für die Büroräume sind unterschrieben. Mit den Mehrkosten für die Wiederbeschaffung dieser Infrastruktur werden knappe Mittel verschwendet. Das nenne ich einen unverantwortlichen Umgang mit öffentlichen Mitteln.
Ich möchte meinen Beitrag insbesondere nutzen, um auf einen der größten sozialpolitischen Skandale der Gegenwart einzugehen: die dramatisch zunehmende Kinderarmut in der Bundesrepublik. Ich zitiere aus Ihrem Koalitionsvertrag:
Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem Jahr 2006 weiterentwickeln. ... Wir wollen den Berechtigtenkreis ausweiten, um weitere Kinder zu erreichen und ihren Eltern zu ermöglichen, ohne Bezug von ALG II für sie zu sorgen.
Wer den Einzelplan 17 aufschlägt, in dem sich eine solche Weiterentwicklung niederschlagen müsste, findet selbst für das Jahr 2007 die unveränderte Summe von 150 Millionen Euro.
Das Problem drängt. Den Betroffenen ist nicht damit geholfen, dass die Bundeskanzlerin erklärt, durch die Reformen der letzten Jahre sei die Armut nur besser sichtbar geworden. Ich frage mich, was Frau Merkel von ihrem eigenen Wahlkreis eigentlich weiß, in dem mehr als jedes vierte Kind von Sozialgeld lebt.
Ich will Ihnen gerne ein Beispiel aus den alten Bundesländern nennen. Einem Papier der Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege Aachen ist folgendes Zitat entnommen:
Es ist ein erheblich anwachsender Zulauf bei der Aachener Tafel und bei Möbel- und Kleiderkammern zu verzeichnen, d. h. Menschen können mit den Finanzmitteln nicht mehr im gebotenen Umfang ihren Lebensunterhalt sicherstellen ... Die Aachener Zeitung hat inzwischen eine breit angelegte Spendenaktion ins Leben gerufen, um für Kinder ausreichende Mahlzeiten zur Verfügung stellen zu können. Besonders in sozial belasteten Stadtvierteln scheitert die Bereitstellung eines Mittagessens für Kinder in Kindertagesstätten immer häufiger an den fehlenden Finanzmitteln der Eltern. ... In den Kindertagesstätten wird zunehmend festgestellt, dass keine wetterfeste Kleidung, keine Winterjacken, Schals und Mützen vorhanden sind.
Doch Kinderarmut hat mehr Gesichter als nur die mangelnde materielle Versorgung des Kindes. Wie eine Langzeitstudie des Frankfurter ISS belegt, hat Armut für Kinder weitere Dimensionen: fehlende soziale Kontakte und daher unzureichend entwickelte soziale Kompetenzen, Auswirkungen auf den Gesundheitszustand und die körperliche Entwicklung und auch mangelnde Versorgung im kulturellen Bereich. Alle fünf Dimensionen wirken sich negativ auf die Zukunftsperspektiven der betroffenen Kinder aus.
Der Kinderzuschlag, den weiterzuentwickeln Sie sich vorgenommen hatten, hat das Ziel, zu verhindern, dass Eltern wegen ihrer Kinder auf den Bezug von ALG II oder Sozialgeld angewiesen sind. Das ist eine gute Idee, leider schlecht umgesetzt. Die Geschichte des Kinderzuschlags im Bundeshaushalt liest sich wie folgt: Im Jahr 2005 wurde er mit 217 Millionen Euro veranschlagt. Weil aber die Regeln so schwierig und undurchschaubar waren, wurden neun von zehn Anträgen abgelehnt und der Etat im Jahr 2006 um 67 Millionen Euro gekürzt. Denn das Geld wurde nicht abgerufen. Diese Kürzung wird nun im Jahr 2007 fortgeschrieben. Allen großmütigen Ankündigungen zum Trotz: Die Kinderarmut steigt und der Kinderzuschlag sinkt. Das ist schwarz-rote Haushaltslogik.
Die Linke hat im Juni ein Konzept vorgelegt, das einen Ausbau des Kinderzuschlags mit dem Einstieg in eine bedarfsorientierte Kindergrundsicherung verbindet. Wir wollen alle Kinder aus der Sozialhilfe herausholen. Alle Kinder unter 18 Jahren sollen in Zukunft ein Kindergeld erhalten, das ihnen in voller Höhe zugute kommt. Gleichzeitig wollen wir den Kinderzuschlag zu einem einkommensabhängigen Instrument ausbauen, das jedem Kind den Zugang zu einem soziokulturellen Existenzminimum in Höhe von 420 Euro garantiert. Nach unseren Berechnungen würden von diesem Konzept circa 2,1 Millionen Familien mit 3,1 Millionen Kindern profitieren.
Unser Konzept ist im Vergleich zum heutigen Kinderzuschlag sehr viel einfacher und garantiert den Betroffenen ein Armut verhinderndes Leistungsniveau. Es ist mit einer gerechten Steuerpolitik - hiermit beantworte ich Ihre Frage - ohne weiteres finanzierbar. Schließlich ermöglicht es erhebliche Einsparungen bei Sozialgeld und Arbeitslosengeld II. Es kostet auch weniger, als die Bundesregierung mit ihrer Steuerreform den Unternehmen als Geschenk hinterherwerfen will.
Das beste Rezept gegen die Arbeitslosigkeit von morgen ist die Armutsverhinderung von heute. Die Verhinderung von Kinderarmut ist eine Investition in die Zukunft, die perspektivisch die sozialen Kassen entlasten und stabilisieren wird.
Demnächst steht unser Konzept in diesem Hause zur Abstimmung. Ich hoffe, Sie erinnern sich dann an Ihren Koalitionsvertrag. Sie können sich sicher sein, dass wir im Hinblick auf die Karte der Kinderarmut des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes dasselbe tun wollen wie Sie, nämlich zu verhindern, dass im Osten, aber auch in einigen Hochburgen der Kinderarmut im Westen rote Flecken zu sehen sind. Die Geduld der Menschen im Land mit dieser Regierung hat sicher bald ein Ende.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort der Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, vorhin sagten Sie, dass Sie für eine nachhaltige Familienpolitik stehen, in der nicht immer alles so bleiben kann, wie es ist. Das ist aus meiner Sicht ein frommer Wunsch, insbesondere wenn ich in Richtung CDU/CSU sehe und mir die konkrete Politik, die Sie im Moment machen, vor Augen führe; ich werde gleich noch darauf zu sprechen kommen.
Wie es schon beim ersten Haushalt, den Sie vorgelegt haben, der Fall war, müssen wir auch angesichts dieses Haushaltsentwurfs zur Kenntnis nehmen, dass Sie sich vieler Themen des Einzelplans 17 überhaupt nicht richtig angenommen haben. Ich frage mich, ob wir uns, wenn wir über Ihren Etat, den Etat des Einzelplans 17, sprechen, bis zum Ende der Regierungszeit von Union und SPD ausschließlich mit den Themen Elterngeld und Mehrgenerationenhäuser als den einzigen Akzent dieser Regierung beschäftigen müssen.
Familie, ältere Menschen, Frauen und Jugend, all diese Aspekte zusammen bilden doch die Kernelemente Ihres Ministeriums und sind der Auftrag für unser politisches Handeln. Oder etwa nicht?
- Ich habe der Ministerin sehr gut zugehört.
Einen Ihrer vier Schwerpunkte wollen Sie nun bei der Jugend setzen.
Ich frage mich allerdings: Wie passt das damit zusammen, dass Sie die Mittel für die Jugendsozialarbeit kürzen? Sie sollten sich einmal genauer mit der Jugendpolitik beschäftigen! Sie kürzen die Mittel für die Jugendsozialarbeit.
Dabei dachte ich, wir alle wissen, dass die Jugendsozialarbeit von zentraler Bedeutung ist: zur Herstellung von Chancengerechtigkeit und zur Ermöglichung der erfolgreichen Teilhabe junger Menschen am gesellschaftlichen Leben.
An dieser Stelle, meine Damen und Herren von der großen Koalition, nehme ich Sie in die Pflicht. Sie könnten zeigen, wie wichtig Ihnen dieses Thema wirklich ist. Aber hier passt etwas nicht zusammen. Erinnern Sie sich nur daran, wie wir hier im Parlament über die Ereignisse im Zusammenhang mit der Rütli-Schule diskutiert haben. Betroffenheits- und Sonntagsreden, wie sie damals gehalten wurden, passen nicht dazu, dass Sie nun die Mittel für die Jugendsozialarbeit kürzen.
Meine Damen und Herren von SPD und Union, anders als noch im letzten Haushalt, in dem die Ansätze für die Gleichstellungs- und Seniorenpolitik zugunsten des Ansatzes für die Familienpolitik gekürzt wurden, schlagen Sie jetzt von vornherein vor, alles in einem Topf zusammenzuführen. Sie wollen zwar ein paar Unterpunkte bilden, damit das, was Sie tun, nicht so sehr auffällt. Dennoch beabsichtigen Sie, diese Ansätze zusammenzuführen, damit alles wunderbar deckungsgleich ist.
Dann nennen Sie das Ganze ?Förderung von gesellschaftspolitischen Maßnahmen der Familien- und Gleichstellungspolitik sowie für die ältere Generation“. Diesen Schritt begründen Sie damit, dass Sie dem verstärkten generationen- und politikübergreifenden Ansatz Ihres Ministeriums folgen. An dieser Stelle will ich Ihnen sagen: Mein Eindruck ist, dass auch Sie sich, Frau Ministerin, auf diese Weise auf ganz leisen Sohlen von einer engagierten Frauen- und Gleichstellungspolitik in diesem Hause verabschieden.
Wir beobachten schon seit geraumer Zeit - meine Kollegin Schewe-Gerigk weiß das nur zu gut -, dass die Gleichstellungspolitik in allen Debatten, die über dieses Thema geführt werden - ob im Familienausschuss oder in öffentlichen Äußerungen -, ausschließlich darauf reduziert wird, die Bedeutung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu betonen. Das ist richtig und gut. Aber das ist nicht das, was wir mit Gleichstellungspolitik verbinden. Es gibt eine Reihe von Fragen, die offensiv gestellt werden müssten. Dabei geht es zum Beispiel um Folgendes: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Frauen und Führungspositionen und den Abschied vom Alleinverdienermodell. Diese Stichworte machen deutlich, wie wichtig es ist, darüber zu diskutieren und hier politische Akzente zu setzen.
Um noch eines oben draufzusetzen, sage ich: Die öffentliche Diskussion und unser politisches Handeln zeigen, wie notwendig es ist, in diesem Hause und im zuständigen Ausschuss weiterhin über Gleichstellung zu diskutieren und Akzente zu setzen. Denken Sie nur an die dümmlichen Äußerungen einer TV-Journalistin zur Rolle der Frau, die für alle emanzipierten Frauen und Männer eine Beleidigung sein muss.
Das Familienministerium hält sich sehr bedeckt, wenn es um neue Initiativen zur Gleichstellungspolitik geht.
Vermutlich hängt Ihnen, Frau Ministerin, noch das Ringen um die zwei Vätermonate - bereits das höchste der emanzipatorischen Gefühle für die Konservativen in Ihrer Fraktion - nach.
Lassen Sie mich jetzt zum Elterngeld kommen. Sie machen mit dem Elterngeld den zweiten Schritt vor dem ersten. Wir Grünen werden nicht müde, zu betonen: Wir brauchen eine flächendeckende Kindertagesbetreuung und einen Rechtsanspruch auf Betreuung ab dem ersten Lebensjahr. Wir haben keinen Anlass, Frau Humme, bei der Kinderbetreuung Entwarnung zu geben.
Natürlich ist dank der Initiativen von Grünen und SPD mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz der Betreuungsausbau in Gang gekommen. Das ist auch gut so. Aber das kann uns doch nicht zufrieden stellen. Wir brauchen mehr Betreuungsplätze und die Ausweitung des Rechtsanspruches,
uns zwar jetzt und nicht erst in ein paar Jahren.
Wir können nicht sagen, wir führen erst einmal das Elterngeld ein, warten einmal ab und sehen irgendwann, wie wir bei diesem Thema weiterkommen.
Wir Grüne schlagen Ihnen vor, das Ehegattensplitting abzuschmelzen, es in ein Individualsplitting umzuwandeln und die frei werdenden 2 Milliarden Euro für eine Kinderbetreuungskarte vorzusehen, durch welche Eltern vom Bund eine Geldleistung zur Inanspruchnahme von Kinderbetreuung erhalten. Es ist also ganz einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich werbe bei Ihnen für diese Idee um Zustimmung.
Wenn es wirklich so ist - wie die Kanzlerin gestern betonte -, dass Sie den Menschen nicht vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben, dann frage ich mich, warum Sie von der Union so stur sind und so viel Beharrungsvermögen zeigen, wenn es um das Ehegattensplitting geht.
Das Gleiche gilt für das Elterngeld. Hier privilegieren Sie ganz offensichtlich das Alleinverdienermodell. Dazu, Frau Ministerin, haben Sie nichts ausgeführt. Dabei hat die Anhörung zum Elterngeld sehr deutlich gemacht, dass beispielsweise Eltern, die sich dafür entscheiden, gemeinsam und gleichzeitig Kindererziehung und Berufstätigkeit zu verbinden, durch die Elterngeldregelung ganz klar benachteiligt werden.
Wenn Sie den Menschen wirklich nicht vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben, müssen Sie bereit sein, die Elterngeldregelung für den Fall, dass beide Eltern auf Teilzeit gehen, nachzubessern. Sonst werden Sie Ihrem Anspruch nicht gerecht, über den gesetzlichen Rahmen nicht nur, wie bisher, das Einernährermodell zu fördern.
Ein weiteres Beispiel von wegen ?Sie schreiben niemandem vor, wie er zu leben hat“ und ?Es herrscht Wahlfreiheit“ ist der Geschwisterbonus von 36 Monaten, der immer noch nicht vom Tisch ist.
Frau Humme hat darüber gesprochen und gesagt, im Moment will nur der Bundesrat das. Wer hat denn im Bundesrat die Mehrheit? Der Bundesrat wird bestimmt durch die CDU/CSU-Ministerpräsidenten.
Das ist kein Niemand, der das fordert. Ihre Ministerpräsidenten wollen die 36 Monate Geschwisterbonus; das muss man ganz deutlich sagen.
Jede und jeder von uns weiß, dass die Möglichkeiten, in den Beruf zurückzukehren, die Karrierechancen und die Altersvorsorge mit der Auszeit vom Beruf, die jemand nimmt, schlechter werden; Sie haben vorhin auch darüber gesprochen. Mit dem erklärten Ziel des Elterngeldes ist das nicht zu vereinbaren.
Im Übrigen kostet diese Forderung - das ist jetzt schon klar, das ist errechnet - über 100 Millionen Euro. Deshalb, Frau Ministerin, können Sie sicher sein, dass die grüne Fraktion an dieser Stelle alles dafür tun wird, dass die Regelung, die von der CDU/CSU verlangt wird, nicht in Kraft tritt. Ich fordere die große Koalition auf: Setzen Sie ein eindeutiges Zeichen, verabschieden Sie sich von dieser Regelung!
Zum Schluss möchte ich auf den Zivildienst eingehen. Mit Wehr- und Einberufungsgerechtigkeit hat das, was sich in diesem Bereich abspielt, nichts zu tun.
Wir haben das in diesem Haus schon einige Male thematisiert. In diesem Haushalt stellt sich aber, was Wehr- und Zivildienst angeht, nicht nur die Gerechtigkeitsfrage. Schauen Sie sich den Etat einmal an: Die Ansätze stimmen nicht annährend überein mit dem, was wir an Dienstpflichtigen zur Verfügung haben. Sie haben da also eine kleine Sparbüchse angelegt. Ich rate Ihnen, noch einmal darüber nachzudenken, die Jugendsozialarbeit, die die jungen Menschen leisten können, aufzustocken. Das wäre eine Maßnahme. Legen Sie keine Sparschatulle an für Dinge, die wir nicht brauchen!
Sehr geehrte Frau Ministerin, meine Damen und Herren, wir erwarten, dass Sie eine ausgewogene Politik für alle Generationen machen und dass sich dies nicht nur in Sonntagsreden widerspiegelt; denn dann würde sich aufgrund Ihrer Behandlung der Programme Elterngeld, Geschwisterbonus und Ehegattensplitting an der Familienpolitik langfristig leider nichts ändern.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Falk für die CDU/CSU-Fraktion.
Ilse Falk (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Haushaltsdebatte bedeutet das Ringen darum, wie das Geld, das der Staat durch direkte und indirekte Steuern einnimmt, in kluger und umsichtiger Weise den Menschen wieder zugute kommen kann. Wir erleben das nun schon seit drei Tagen und finden immer wieder Beispiele dafür. Wir streiten um Geldsummen, deren Höhe wir uns oft gar nicht mehr selber vorstellen können, und begründen, warum welche Ausgabe im jeweiligen Haushaltsplan gerechtfertigt ist.
Unser Problem ist, dass der Haushalt in sich zwar ein logisches Zahlenwerk ist, dass sich die Begründung der einzelnen Ausgaben aber hartnäckig jeder mathematischen Beweisbarkeit entzieht. Das ist natürlich auch beim Einzelplan 17 nicht anders. Ich will aber trotzdem den Versuch unternehmen, deutlich zu machen, warum es gerade bei diesem Haushalt ein hohes ökonomisches Interesse an der Bereitstellung von Mitteln geben muss. Gerade dieses Ministerium der Generationen spiegelt Veränderungen in der Gesellschaft wie ein Seismograf wider, auf die es zu reagieren gilt, wenn nicht alles noch viel teurer werden soll.
Eine Vorbemerkung zu den wichtigsten Veränderungen der letzten Jahrzehnte: Männer und natürlich besonders auch Frauen leben neue Lebensentwürfe, weil ihnen Bildung, Wissenschaft und Forschung völlig neue Perspektiven eröffnet haben. Neue Lebensentwürfe bedeutet, dass die Familien neue Formen des Miteinanders finden müssen. Niedrige Geburtenraten und hohe Lebenserwartung - gemeinhin als demografischer Wandel bekannt - fordern uns mächtig heraus. Traditionelle Formen der Arbeit und lebenslanges Verweilen in demselben Beruf werden seltener. Weil wir von diesen Veränderungen wissen, müssen wir uns damit befassen, was wir durch diese Veränderungen gewinnen, was wir möglicherweise verlieren und was wir von dem Vertrauten auf jeden Fall bewahren sollten.
Fangen wir mit dem Beginn des Lebens an. Wir wissen, dass Kinder zuallererst die Beziehung zu ihren Eltern suchen und dass sie gerade in ihrer ersten Lebensphase feste Bezugspersonen und eine liebevolle Zuwendung brauchen, damit sie ihre Talente entfalten können. Zuwendung bedeutet Anwesenheit, also Zeit. Deshalb müssen die Eltern ihr Leben so gestalten können, dass sie Zeit für ihre Kinder haben und dass Familie tatsächlich auch gelebt werden kann.
Deshalb sollten wir uns freuen, wenn sich Mütter oder Väter auf ihre Rolle einlassen und zum Beispiel von dem neuen Elterngeld und den damit einhergehenden Vätermonaten in möglichst großer Zahl Gebrauch machen.
Ich gehe jetzt nicht auf die Einzelheiten ein. Die Ministerin hat schon einiges dazu gesagt und das steht bei der Verabschiedung demnächst auch noch einmal ganz groß auf der Tagesordnung. Ich will nur so viel sagen: Das Elterngeld und die Vätermonate sind für uns speziell mit der Hoffnung verbunden, dass gerade auch Väter die Gelegenheit und Chance haben, das Abenteuer Kind und Haushalt zu erleben, wodurch sie lernen, die Leistungen der Mütter besser wertzuschätzen, und wodurch sie ihre Erfahrungen hoffentlich nutzbringend für alle in die Arbeitswelt tragen können. Das heißt also: hoher Nutzen für das Miteinander in der Gemeinschaft und großer Gewinn für die Kinder.
Eine weitere Folge sind positive Auswirkungen auf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, die von den allermeisten Frauen nun einmal so gewünscht wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil wir wissen, dass die Verwirklichung des Wunsches, zwei Berufsfelder miteinander zu vereinbaren, die Zeit für die Familie knapper werden lässt und die Kräfte unter Umständen auch überfordert - ich glaube, das müssen wir uns ab und zu auch einmal eingestehen -, muss die Inanspruchnahme von Dienstleistungen leichter und auch selbstverständlicher werden.
Durch die Bereitstellung flexibler Kinderbetreuung durch Tagesmütter, Kita oder Hilfen zu Hause, durch die vollständige Absetzbarkeit der Kosten für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Privathaushalt wie in jedem Betrieb
und durch Förderung von Dienstleistungszentren, in denen bezahlbare Teilzeitangebote für den Haushalt abgerufen werden können, entlasten wir Eltern von den Aufgaben, die andere ebenso gut oder vielleicht sogar besser erledigen können, und verschaffen wir ihnen Freiräume, die für das entspannte Miteinander in der Familie notwendig sind.
Die Konsequenz ist: Die Nachfrage von Dienstleistungen schafft Arbeitsplätze und damit natürlich auch Vorteile für diejenigen, die sich zwar selber diese Hilfe nicht leisten können, aber Arbeit suchen. Wir haben hier mit der verbesserten Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres erste Schritte getan. Aber von der Verwirklichung der Idee ?Haushalt als Betrieb“ sind wir leider doch noch ein ganzes Stück entfernt.
Wir haben es im privaten Haushalt mit einem riesigen Schwarzarbeitsmarkt zu tun. Deshalb sollten wir alles daransetzen, attraktive Angebote für reguläre Arbeit zu machen.
Das wäre nicht nur gut investiertes Geld, sondern es könnte auch dazu ermutigen, den so lange diskreditieren Arbeitsplatz Haushalt aufzuwerten, sowohl als Ausbildungsberuf, als anspruchsvolle Fortentwicklung zu selbständiger Haushaltsführung als auch für einfachere Arbeiten für Menschen mit eher praktischen Fähigkeiten. Das Ziel sind der Abbau von Schwarzarbeit und die Schaffung neuer sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze.
An dieser Stelle ein Wort zu der immer wieder angesprochenen Kinderarmut. Kinderarmut ist immer abhängig von der Lebenssituation der Eltern. Es spiegelt sich in den Zahlen wider, dass wir es mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu tun haben. Deshalb ist das Wichtigste, was wir für die Kinder tun können, um sie aus der Armut herauszuholen, all unsere Kraft darauf zu verwenden, Arbeitsplätze zu schaffen, und zwar auch im Bereich Haushalt.
Bleiben wir einen Moment bei der Wirtschaft. Auch sie kann dazu beitragen, Fehlentwicklungen und hohe Folgekosten zu vermeiden. Familiengerechte Arbeitsplätze und Betriebsstrukturen, die auch die Wahrnehmung von Familienaufgaben zulassen, müssten im ureigenen Interesse der Unternehmen liegen. Gerade Arbeitgeber sollten nicht unterschätzen, wie wichtig gute Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern sind, damit sie später einmal - da sollten die Unternehmen ganz egoistisch sein - tüchtige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen oder aber verantwortungsvolle Chefs werden, die wir uns in stärkerem Maße wünschen.
Sowohl Tugenden wie Pflichterfüllung, Pünktlichkeit und gegenseitiger Respekt als auch das Verständnis von ethischer Unternehmensführung werden im Elternhaus grundgelegt. Darüber hinaus erwarten wir von Unternehmern, dass sie sich, wenn nicht bereits geschehen, noch stärker der Ausbildung Jugendlicher annehmen. Ich weiß, es wird vielfach beklagt, dass Jugendliche nicht die nötigen Voraussetzungen mitbrächten, die für eine Erfolg versprechende Ausbildung nötig seien. Aber weil eben alles mit allem zusammenhängt, müssen wir die Defizite aufzeigen und Hilfestellung geben. Deshalb bin ich dem Arbeitsminister dankbar, dass er gerade Jugendlichen, die besondere Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen will.
Weil wir wissen, dass die Unsicherheit der Eltern in der Erziehung häufig groß ist und ihnen eine Vielzahl von Miterziehern das Leben noch zusätzlich schwer macht, müssen wir sie in ihrer Erziehungskompetenz stärken und sie ermutigen, die ihnen - ganz altmodisch - zuvörderst obliegende Pflicht der Erziehung verantwortungsvoll wahrzunehmen. Politik muss aber auch mit der Verbesserung frühkindlicher und schulischer Bildung, der Qualifizierung der Erziehenden, der Stärkung der Lehrkräfte und der Verbesserung des schulischen Umfelds Ernst machen. Diese Bereiche finden sich zwar nicht alle im Bundeshaushalt wieder, aber es spielt eben alles zusammen.
Wo Fehlentwicklungen zu befürchten sind oder bereits sichtbar werden, brauchen wir mehr präventive Angebote, damit nicht aus kleinen Anfängen große Schädigungen entstehen. Erziehungsberatung und ambulante Erziehungshilfen sind teuer, aber immer noch preiswerter als Reparaturmaßnahmen.
Das gilt natürlich auch für den Bereich - die Ministerin hat ihn vorgestellt - der aufsuchenden Hilfen, das heißt, Familien werden zu Hause aufgesucht, weil diese Familien nicht zu den Hilfseinrichtungen kommen und sie anders nicht zu erreichen sind. Wir müssen Familien begleiten, um die Kinder aus dem Teufelskreis der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern, in dem sie aufwachsen, zu befreien.
Die aufsuchende Hilfe ist hochkomplex und kostenintensiv. Dabei ist es sehr wichtig, die Kinder im Blick zu behalten. Es lohnt sich für die Kinder und die Eltern. Aber - das kann man immer wieder feststellen - es lohnt sich auch für die Kasse.
Was für das Aufwachsen der Kleinkinder gilt, setzt sich in allen Altersstufen fort. Jugendliche brauchen in der schwierigen Phase des Erwachsenwerdens eine gute Mischung aus Begleitung und Herausforderung, damit sie ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Hier setzt der Einzelplan 17 wichtige Akzente, zum Beispiel mit der Förderung vielfältiger Angebote der Jugendarbeit, der Finanzierung von Freiwilligenjahren und Maßnahmen zur Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements. Mittel zur Integration junger Menschen mit Zuwanderungsgeschichte dienen der Konfliktprävention ebenso wie der Verbesserung ihrer Ausbildungschancen. Das alles sind wertvolle Investitionen in die Zukunft.
Im Bundeshaushalt 2007 sind mehr als 5 Milliarden Euro für die Generationen veranschlagt. Darüber hinaus werden jährlich etliche Milliarden - die Zahlen schwanken - für staatliche Maßnahmen und Leistungen für Familien in unterschiedlichen Lebenslagen aufgewendet. Wir unterstützen das Familienministerium ausdrücklich in seinem Vorhaben, dieses Geld effektiver einzusetzen. Das System staatlicher Familienleistungen soll sortiert und bilanziert werden. Es wird geprüft, ob wir künftig die Ausgaben in einer Familienkasse bündeln, um sie genauer und zielgerichteter einsetzen zu können.
Ich komme zum Schluss. Unternehmensbilanzen kann man auf Euro und Cent nachrechnen. Soziale Bilanzen hingegen bilden Zukunftsfähigkeit ab. Lassen Sie uns öfter die gesellschaftlichen Zusammenhänge in den Blick nehmen, damit wir die knapp gewordenen Finanzmittel klug anlegen. Die Sozialhaushälter aller Ebenen werden es uns danken.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.
Sibylle Laurischk (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, ich möchte vorab etwas zu Ihren Ausführungen anmerken. Das Elterngeld wirft nach meinem Dafürhalten verfassungsrechtliche Fragen auf, die noch zu klären bleiben. Dazu wird gerade die FDP in der Zukunft noch einiges zur Diskussion beisteuern. Darauf möchte ich kurz hinweisen, weil die Haushaltsmittel in diesem Bereich deutlich aufgestockt werden.
Zur Kinderarmut haben Sie nach meinem Dafürhalten nichts Substanzielles gesagt. Dabei ist die Kinderarmut ein Problem, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. Ich hätte mir durchaus vorstellen können, dass Sie zum Beispiel auf das Unterhaltsvorschussgesetz oder auf den Kinderzuschlag eingegangen wären.
Sie verantworten auch die Mittel für die Integration junger Zuwanderinnen und Zuwanderer. Diese Mittel werden wie im Vorjahr - ich zitiere aus den Anmerkungen zum Haushaltsplan - ?bedarfsgerecht“ veranschlagt. 19 Prozent eines Jahrgangs von Schülern mit Migrationshintergrund verlassen die Schule ohne Abschluss. Damit wächst ein großer sozialer Sprengsatz heran. Die Bedeutung von Integration durch Spracherwerb hat auch der Bundesinnenminister in seiner Haushaltsrede für seinen Bereich ?Integrationskurse für Erwachsene“ deutlich gemacht. Aber auch er stockt die Ansätze für die Integrationskurse 2007 nicht auf.
Ich weise an dieser Stelle insbesondere darauf hin, dass die Integrationskurse für Mütter und Kinder mit Migrationshintergrund nicht ausreichend wahrgenommen werden können, weil die notwendigen Mittel fehlen. Ich halte es für wichtig, dass Sie sich als Frauen- und Familienministerin gerade um diese Möglichkeiten verstärkt kümmern. Das Abhalten eines Integrationsgipfels reicht eben nicht aus.
An dieser Stelle möchte ich auf etwas hinweisen, was mich in der jüngsten Berichterstattung sehr erschüttert hat. Die Situation muslimischer Frauen ist mittlerweile so schwierig, dass sich eine Anwältin in Berlin, die diese Frauen vertritt, nicht mehr in der Lage sieht, ihren Beruf auszuüben, weil sie ebenfalls Angriffen ausgesetzt ist. Ich meine, dass die Frauenministerin der Bundesrepublik zu diesem Thema etwas hätte sagen müssen.
Es ist nach meinem Dafürhalten eine sehr bedenkliche Entwicklung, wenn eine Anwältin, die als Mitglied der Anwaltschaft Organ der deutschen Rechtspflege ist, ihren Beruf wegen integrationspolitisch fragwürdigen Zuständen in Deutschland aufgibt. Wir müssen in dieser Frage ganz intensiv arbeiten. Egal welches Ministerium oder welcher Ausschuss, wir sind hier als Abgeordnete gefordert.
Ich bin der Meinung, dass junge Migrantinnen und Migranten vom Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle 2007 profitieren sollten. Sie haben ausgeführt, dass Sie ein Programm ?Jugend für Vielfalt und Demokratie“ auflegen wollen. Wir hoffen auf ein schlüssiges Konzept. Das von uns sehr kritisierte so genannte Gleichstellungsgesetz allein darf nicht als ausreichend betrachtet werden. Hier muss mehr getan werden.
Das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle muss auch für Senioren von Bedeutung sein. Wir fordern die Bundesregierung auf, darzulegen, wie sie vorgehen will, damit auch Senioren angesprochen werden und in ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung stärker vernetzt werden. Sie sprechen zwar ständig von Mehrgenerationenhäusern. Aber das reicht uns als seniorenpolitische Aussage nicht aus.
Die Formen der Altersdiskriminierung beispielsweise sind subtil. Das ist insbesondere auf dem Arbeitsmarkt zu spüren. Wir wissen, dass der Altenbericht einige Lösungsvorschläge beinhaltet. Dazu haben Sie bislang noch nichts gesagt. Das Verzögern der Vorlage des Altenberichts kritisieren wir ausdrücklich.
Frau von der Leyen, Familienpolitik muss alle Generationen und beide Geschlechter umfassen. Nur dann hat das bewährte Netz Familie eine Chance, seinen Mitgliedern und Angehörigen Halt und Perspektive zu geben. Frau Ministerin, es bleibt viel zu tun.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion.
Wolfgang Spanier (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade in Haushaltsdebatten ist es sehr schwer, Wiederholungen zu vermeiden. Auch ich werde es nicht schaffen; aber ich erlaube mir deswegen, auf die grundsätzlichen Fragen nicht näher einzugehen.
Frau Ministerin von der Leyen ist auf die demografische Entwicklung und deren Auswirkungen eingegangen. Das erspare ich mir.
Ich will mich auf einige wenige Punkte konzentrieren. Frau Ministerin, ich möchte - Sie ahnen es wahrscheinlich - eine Anmerkung zur Seniorenpolitik machen. Sie haben vorhin mit Vehemenz, ja geradezu mit Verve von den Potenzialen, der Leistungsfähigkeit und den Kompetenzen der Älteren gesprochen. Das hat mir gut getan.
Vom finanziellen Volumen her geht es - wenn man den Betrag beispielsweise mit dem Zuschuss zur Rentenversicherung in Höhe von 78,4 Milliarden Euro vergleicht - um eine ganz bescheidene Summe. Es sind gerade einmal 10 Millionen Euro. Übrigens bewegen wir uns damit auf dem finanziellen Niveau zuzeiten von Rot-Grün. Nichtsdestotrotz ist es Aufgabe des Ministeriums und des zuständigen Ausschusses, dafür zu sorgen, dass wichtige gesellschaftliche Impulse gegeben werden und dass neue Initiativen, die in der Gesellschaft entstehen, aufgegriffen und unterstützt werden.
Es handelt sich zwar nur um 10 Millionen Euro. Aber die damit finanzierten Maßnahmen sind in gesellschaftspolitischer Hinsicht durchaus wichtig.
Ich will kurz auf drei Bereiche eingehen. Zur Fortsetzung der Baumodelle der Alten- und Behindertenhilfe: Insgesamt sind es nun bundesweit 39 Projekte. Hinzu gekommen sind elf Projekte, die unter der Überschrift ?Das intelligente Heim“ laufen. Das finde ich sehr gut; denn die Technikunterstützung des Lebens älterer, aber auch behinderter Menschen wird dabei in den Blickpunkt gerückt. Auch dabei geht es nur um bescheidene 2,5 Millionen Euro. Darin stecken aber viele Anregungen. Das erinnert mich an Klostergründungen, als Mönche ins Land geschickt wurden, die dann eine breite Öffentlichkeit erreichten.
Neu ist das Modellprogramm ?Neues Wohnen - Beratung und Kooperation für mehr Lebensqualität im Alter“. Dessen Budget ist noch kleiner, dennoch ist das ein wichtiger Ansatz. Es sollen zehn Projekte bundesweit gefördert werden. Dabei geht es um ganz wichtige Themen, neue Kooperationsmodelle, damit auch andere Beteiligte in den Stadtquartieren zusammengebracht werden können. Mit dem Projekt ?Wohnen im Stadtteil“ erreichen wir eine Nähe zum Programm ?Soziale Stadt“. Wir müssen dabei darauf achten, was bezüglich der Innovationen von überregionaler Bedeutung ist. Auch dieses Programm zielt in die richtige Richtung und wird hoffentlich - ich bin mir sogar sicher - wichtige Impulse geben.
Ich kann nicht umhin, auf das Aktionsprogramm ?Mehrgenerationenhaus“ zu sprechen zu kommen. Es ist mit 88 Millionen Euro in unserem kleinen Etat ein dicker finanzieller Brocken. Man darf die Mehrgenerationenhäuser jedoch nicht mit Erwartungen überfrachten. Mit ihnen werden wir nicht die Probleme und Verwerfungen unserer Gesellschaft lösen können, das erwartet auch niemand. Der Ansatz ist jedoch richtig und da er heute schon mehrfach beschrieben worden ist, werde ich nicht weiter darauf eingehen. Stattdessen will ich ein paar konkrete Anmerkungen machen.
Die ersten 50 Mehrgenerationenhäuser sollen demnächst bewilligt werden. Die Bewerbungen laufen. Ich habe mir sagen lassen, dass eine große Anzahl von Onlinebewerbungen eingegangen ist. Das ist sehr erfreulich. Bis zum 20. September läuft die erste Tranche. Ich bin darauf gespannt, wie die Beurteilung ausfallen wird. Ich hoffe, wir stimmen darin überein, dass es sich hier um ein lernendes Programm handelt und man auch prüfen sollte, ob es wirklich 27 Kriterien sein müssen, die man bei der konkreten Vergabe einhalten muss. Ich möchte darum bitten, die Erfahrungen aus der ersten Tranche zu nutzen, um hier möglicherweise wichtige Veränderungen vornehmen zu können.
Da es sich hier um einen vagen Begriff handelt, möchte ich ein paar weitere Anmerkungen machen. Es soll sich um einen ?offenen Tagestreff“ handeln. Ein wesentlicher Bestandteil ist ferner, dass vier Generationen berücksichtigt werden müssen. Zuerst habe ich gestutzt. Es geht um Kinder und Jugendliche, Erwachsene, die Älteren, also 50 plus, und die Hochbetagten. Jeder mag sich einordnen. Ich erachte es als wichtig, dass gleichzeitig die frühe Förderung von Kindern hier mit verankert werden soll. Ein entscheidendes Bewertungskriterium ist, dass Ehrenamtliche und Hauptamtliche auf gleicher Augenhöhe miteinander umgehen. Dieses Kriterium wird sicherlich auch angelegt werden.
Ich bin der Meinung, dass die Entscheidungen, die jetzt anstehen, transparent gemacht werden müssen. In meinem Wahlkreis gibt es mehrere Bewerbungen. Ich bin in dieser Angelegenheit völlig neutral.
Die Bewerber werden darauf achten, ob sie wirklich gleich behandelt werden. Ich mahne die Gleichbehandlung nicht an, sondern setze einfach voraus, dass das Entscheidungsverfahren die notwendige Transparenz hat.
Selbstverständlich gehört dazu, dass wir regelmäßig über den weiteren Fortgang informiert werden.
Bei der Entscheidung ist es sicherlich hilfreich, dass eine Kooperationsgruppe eingerichtet wird, die eine Art Beiratsfunktion übernehmen soll. Vielleicht sollte man aber darüber nachdenken, Frau Ministerin, ob wir wirklich noch zwei zusätzliche Gremien brauchen. Brauchen wir noch einmal einen Nachhaltigkeitsrat? Es gibt im Deutschen Bundestag einen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Warum soll er sich nicht auch mit unseren Themen befassen? Wir haben einen Nachhaltigkeitsrat bei der Bundesregierung verankert. Man sollte noch einmal darüber nachdenken, ob ein zusätzlicher Nachhaltigkeitsrat nicht überflüssig ist. Wenn das Kompetenznetzwerk wirklich ein neues Gremium wird, sozusagen institutionalisiert wird, dann hätte ich meine Bedenken. Hingegen Fachleute zusammenbringen, das kann man machen. Das wollte ich mit auf den Weg geben. Zu einem ?lernenden Programm“ gehört auch, dass man kritische Nachfragen stellen kann und das eine oder andere überprüft.
Wir werden uns mit der Lage der älteren Generation sicherlich noch ausführlicher befassen, wenn wir den Fünften Bericht zur Lage der älteren Generation hier im Haus diskutieren.
- Da gebe ich Ihnen Recht. - Deswegen möchte ich zwei Anregungen geben. Die Situation der älteren Migranten ist ein Schwerpunkt in dem fünften Altenbericht. Man sollte auch einmal auf die Lage der älteren Menschen mit geistiger Behinderung eingehen. Es hat historische Gründe, auf die ich nicht näher eingehen muss, dass jetzt zum ersten Mal Menschen mit geistiger Behinderung in das Seniorenalter hineinwachsen. Wir sollten überlegen, ob wir Impulse setzen können, um die besonderen Bedürfnisse dieser älteren Menschen zu berücksichtigen.
Ganz zum Schluss noch eine Bemerkung, die ich mir nicht verkneifen kann. Als ich zur Einbringung des Haushalts 2006 eine kleine Rede halten durfte, bin ich auf das Heimgesetz eingegangen. Wir waren uns alle einig, wie das geregelt werden sollte.
Mittlerweile ist die Föderalismusreform in Kraft. Leider hat es sich ergeben, dass die Länder mit 14 : 2 Stimmen nicht bereit waren, auf unsere übereinstimmende Vorstellung einzugehen.
Das ist bedauerlich. Wir hätten die Chance gehabt, nicht nur die stationäre Altenhilfe, sondern auch die ambulante Altenhilfe durch eine Modifizierung des Heimgesetzes zu fördern und zu unterstützen. Ich hoffe, dass die 16 Länderparlamente diese Aufgabe sobald wie möglich in Angriff nehmen. Da wir alle den Ländern und den Länderparlamenten zumindest parteipolitisch verbunden sind, würde ich Sie bitten, das zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Reinke, Fraktion Die Linke.
Elke Reinke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau von der Leyen, Sie haben sich für Ihre Regierungszeit große Ziele gesteckt. Sie wollen junge Familien in der Phase der Familiengründung unterstützen - sprich: Elterngeld eingeführt -, den Zusammenhalt zwischen den Generationen mit den Mehrgenerationenhäusern stärken und Sie wollen sich mehr um die Kinder kümmern, die auf der Schattenseite des Lebens geboren wurden.
Über das erschreckende Ausmaß der bestehenden Kinderarmut hat meine Kollegin Diana Golze bereits gesprochen. An Ihrer Stelle, Frau Ministerin, hätte ich mich zuerst dieser Herausforderung gestellt. Ich bin sehr gespannt, welche Antworten Ihr Ministerium auf dieses dringende Problem entwickelt.
Frau Ministerin, Sie haben erreicht, dass wieder mehr über Familien gesprochen wird. Ich habe aber den Eindruck, dass Sie damit nicht die Familien von Geringverdienenden, Erwerbslosen, Studierenden und Auszubildenden meinen.
Ich finde einige Ihrer Grundgedanken richtig. Sie erklären, dass Sie bei der Drehscheibe Mehrgenerationenhaus sozialpolitische Maßnahmen mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten verbinden wollen. Herausgekommen ist allerdings eine Mischung aus einem ausgeweiteten Niedriglohnsektor und ehrenamtlicher Arbeit. Ihr Dienstleistungsunternehmen Mehrgenerationenhaus ist nichts anderes als eine moderne Fassung der alten Dienstmädchengesellschaft.
Auch die Leute, die zu Armutslöhnen diese Arbeit verrichten müssen, haben oftmals Kinder, die dann wieder im Schatten der Armut groß werden müssen.
Für Sie, Frau von der Leyen, ist das Mehrgenerationenhaus eine Antwort auf das Verschwinden der traditionellen Großfamilie. Sie wollen auf der einen Seite künstlich Familien erzeugen, auf der anderen Seite werden Familien durch eine völlig verfehlte Arbeitsmarktpolitik zerrissen. In Sachsen-Anhalt ist das völlig normal. Für die Niedrigverdienenden ist es zumutbar, dass sie von ihren Familien getrennt werden.
In meinem Bekanntenkreis ist ein fünffacher Familienvater mehrere Jahre lang quer durch die Bundesrepublik zu verschiedenen Arbeitsorten gefahren, um seine Familie zu versorgen.
Vor einem Jahr hat er seine Arbeit verloren. Jetzt hat er Zeit und er hat neue Zukunftsängste. Die Bundesagentur für Arbeit fordert ihn jetzt auf, seine Wohnung zu verlassen, weil sie nicht mehr angemessen ist. Jahrelang hat er versucht, diesen Wohnsitz zu erhalten. Er hat alles versucht, damit seine Familie in diesem Umfeld bleiben kann. Nun wird sie aus diesem sozialen Umfeld herausgerissen. Die Agentur wird ihm auch keine neue Stelle vermitteln, weil es genug jüngere Arbeitssuchende gibt, die nun ebenfalls wochenlang durch die Republik reisen. Wie erklärt er seinem ältesten Sohn, dass er jetzt eine Genehmigung braucht, wenn er aus dem Haushalt der Eltern ausziehen will?
Nur zur Erinnerung: Durch den Arbeitslosengeld-II-Bezug des Vaters ist die Familie jetzt eine Bedarfsgemeinschaft. Nun kommen Sie mir nicht damit, dass Sie sagen: Das ist ein Einzelfall. Ich kann Ihnen etliche dieser Fälle schildern; daran sind Familien zerbrochen. Wenn Sie mit offenen Augen durch Ihren Wahlkreis gehen, dann werden Sie Fälle dieser Art sicherlich ebenfalls sehen.
Machen wir es uns nicht zu einfach. Als gewählte Volksvertreter sollten wir Probleme offen benennen. Unbequeme Wahrheiten auszusprechen, ist kein Populismus, im Gegenteil: Unsere Wähler und Wählerinnen erwarten klare Worte. Ihre Ankündigung zu den Mehrgenerationenhäusern hat ein reges Interesse bei vielen freien Trägern und sozialen Institutionen hervorgerufen. Sie hofften auf qualifizierte Arbeitsplätze und auf finanzielle Unterstützung, um neue Projekte zu entwickeln bzw. um bestehende auszubauen. Das war in meinem Wahlkreis nicht anders.
Doch nach genauem Studium der Ausschreibungsunterlagen blieb von der geweckten Erwartung nicht allzu viel übrig. Eine Förderhöhe von jährlich 40 000 Euro für ein Projekt hört sich nach sehr viel an. Von diesem Betrag sind 50 Prozent für Personalkosten vorgesehen. Davon kann man gerade einmal eine halbe Stelle finanzieren, wenn man nach Tarif zahlt. Die Förderung ist teilweise an fragwürdige Bedingungen gebunden. Projektteilnehmer werden unter anderem aufgefordert, Werbefahrten zu anderen Mehrgenerationenhäusern zu veranstalten. Das Ganze ist also nichts anderes als eine gut durchdachte Propagandaveranstaltung für Ihr Ministerium.
Ihr Mehrgenerationenhaus könnte - aber nur, wenn es finanziell solide ausgestattet wäre - als ein soziales Zentrum funktionieren. Hier könnten Jüngere und Ältere, Menschen mit und ohne Behinderung lernen, respektvoll und gleichberechtigt zusammenzuleben.
Es gibt viele Tätigkeitsfelder, durch die Familien unterstützt werden können und durch die gleichzeitig neue Erwerbsarbeit entsteht, die so dringend benötigt wird. Sie argumentieren, dass sich viele ältere Bürger mehr soziale Nähe wünschen und gerne gebraucht werden wollen. Senioren bieten nicht nur Hilfe an. Immer mehr ältere Menschen brauchen Unterstützung, weil das Problem der Altersarmut immer prekärer wird. Diese Entwicklung hat Ihre Regierung mit der Fortentwicklung von Hartz IV und der Halbierung der Rentenbeiträge für ALG-II-Empfänger verstärkt.
Wenn die Regierung keine armutsfesten Mindestrenten einführt, dann werden Ihre Mehrgenerationenhäuser noch einen ganz anderen Schwerpunkt bekommen: Ältere Menschen müssen untereinander die Solidarität ersetzen, die die Gesellschaft ihnen gegenüber nicht mehr aufbringt.
Ein Dialog zwischen den Generationen ist notwendig. Dazu muss der Staat keinen künstlichen Familienersatz schaffen. Sie können sich ein Programm in dieser Form sparen. Sie könnten mit diesem Geld dem Ziel einer bedarfsdeckenden und beitragsfreien Kinderbetreuung ein großes Stück näher kommen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun die Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich in meinem Beitrag auf das Bundesprogramm gegen Rechtsextremismus, für Vielfalt und Toleranz beziehen. Frau Bundesministerin von der Leyen hat dankenswerterweise schon dieses neue Programm erwähnt. Allerdings ist die Aussicht für viele Akteure leider nicht so rosig, wie das hier geschildert wurde.
Nach monatelanger Unklarheit darüber, ob das Geld ganz gestrichen, gekürzt oder für neue Inhalte ausgegeben werden soll, blieb der Ansatz für 2007 nun doch bestehen. Das ist erfreulich. Aber wie geht es jetzt weiter?
Ende 2006 laufen die bisherigen Bundesprogramme ?Civitas“ und ?Entimon“ nach fünfjähriger Modellphase aus. Diese Modellphase war ausgesprochen erfolgreich. Bürgerinnen und Bürger lernten in Projekten vor Ort, Zivilcourage zu zeigen. Es gab Aufklärung, unter anderem in Schulen und Behörden. Opfer rechtsextremer Gewalt bekamen endlich spezifische Hilfe. Viel Erfahrung und Fachwissen liegen jetzt vor. Der Bund ist nun in der Verantwortung, die gewachsenen Strukturen auch weiterhin zu unterstützen.
- Selbstverständlich. Darüber sind wir uns einig.
Das ist doch überhaupt kein Problem. Ich bin ja erst am Anfang; darauf komme ich noch.
Bundesfinanzmittel zur Stärkung der Zivilgesellschaft sind im Entwurf 2007 wieder eingeplant. Die entscheidende Frage ist: Für welche Projekte und auf welchem Weg soll dieses Geld ausgegeben werden? Dazu sind die Vorstellungen der Bundesregierung leider noch unkonkret. Was wird etwa aus den mobilen Beratungsteams, den Netzwerkstellen und der Opferberatung
und was aus Aussteigerprojekten wie ?Exit“? Für sie geht die Zitterpartei weiter, auch wenn im Haushalt die gleiche Summe zur Verfügung stehen wird. Viele Träger sind stark verunsichert, müssen Büros schließen und sich arbeitslos melden; Kollegin Golze hat dankenswerterweise auch darauf schon hingewiesen. Sollen sich etwa die Rechtsextremen ab dem nächsten Jahr freuen, wenn die engagierten Aufklärer nicht mehr vorhanden sind? Ich kann und will mir das nicht vorstellen.
Natürlich müssen sich auch die Länder an der Finanzierung angemessen beteiligen.
Wir wissen, dass nicht alle das tun. Thüringen gibt da leider ein sehr schlechtes Beispiel.
Ich hoffe, ab nächstem Jahr tut sich da etwas. Aber es sieht nicht allzu gut aus.
In Sachsen zum Beispiel haben etliche Projekte Geld aus dem Programm ?Weltoffenes Sachsen“ erhalten, aber oft erst, nachdem dieses durch das Bundesprogramm ?Civitas“ gefördert wurde. Durch das neue Bundesprogramm, das Anfang 2007 beginnt, entsteht aber ein Übergangszeitraum. Dann wird es für die Projekte schwierig, da es Anfang des Jahres Zusagen weder vom Bund noch vom Land gibt. Diese Lücke muss noch geschlossen werden.
Auch beim Antragsverfahren sind Veränderungen angedacht. Künftig sollen nur noch die Kommunen Anträge auf Fördergelder stellen dürfen. Ich halte es für richtig, dass die Verantwortung der Kommunen gestärkt wird. Leider aber sind viele Kommunen und Landkreise oft noch Teil des Problems. Ihnen fehlt die Sensibilität für das Thema oder, schlimmer noch, sie teilen die Ansichten. Gerade dort aber ist die Arbeit gegen Rechtsextremismus nach wie vor notwendig. Wenn jedoch freie Träger selbst keine Förderanträge mehr stellen können, besteht die Gefahr, dass sie zu Bittstellern werden.
Deshalb brauchen wir ein gemeinsames Recht für Kommunen und Träger vor Ort, Fördermittel zu beantragen.
Nur so können sich beide auf Augenhöhe gleichberechtigt gegenüberstehen. Nur so wird es auch eine inhaltliche Auseinandersetzung geben, die gleichberechtigt ablaufen kann.
Es gibt in den Ländern und Kommunen viele Aktionen, um die Zukunft der Strukturprojekte abzusichern. Aktiv sind dabei Menschen aus allen demokratischen Parteien. Zum Beispiel hat die CDU-Landtagsfraktion von Mecklenburg-Vorpommern in einem Brief vom 15. August an Bundeskanzlerin Merkel geschrieben - ich zitiere -:
Leider zeigt sich, dass die demokratische Grundordnung in unserem Land noch nicht tief genug verankert ist, als dass sie nicht doch noch ins Wanken geraten kann.
Diese Warnung sollte auch die Bundesregierung ernst nehmen und den gefährlichsten Feinden unserer Demokratie, den Rechtsextremen, keinen Raum lassen. Zu diesem Kampf gehört, die Initiativen zu stärken, inhaltlich und finanziell.
In dem Brief heißt es weiter:
In den letzten Monaten hat die CDU-Landtagsfraktion mit unterschiedlichen Partnern eine Reihe kleinteiliger Veranstaltungen … organisiert. Dabei haben uns die kompetenten Mitarbeiter des mobilen Beratungsteams … durch Detailkenntnis und Kompetenz geholfen. Wir halten deren Arbeit in Mecklenburg-Vorpommern auch in der Zukunft für unerlässlich und wünschen uns, dass der Bund hier auch künftig seinen finanziellen Beitrag leistet.
Das ist eine sehr eindeutige Aussage.
Leider gibt es noch keine Antwort von der Bundeskanzlerin. Ich hoffe, sie will nicht abwarten, ob die NPD am 17. September in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern einzieht, um dann gegebenenfalls hektisch zu reagieren.
Ich hoffe ebenfalls, die Bundesregierung findet rechtzeitig Lösungen für die Strukturprojekte, damit sie sich ganz auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können und nicht länger als Bittsteller von Tür zu Tür laufen müssen. So viel sollte unsere Demokratie uns allen wert sein. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich für unsere Demokratie einsetzen. Auch die Politik muss ihre Aufgaben erledigen. Wir haben jetzt die Chance, Zivilcourage nicht nur moralisch, sondern auch finanziell zu unterstützen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Familie steht vor einer Renaissance. Wir wollen diejenigen unterstützen, die in einer Familie zusammenleben. Die erste finanzwirksame Entscheidung des Haushalts 2006 war die bessere steuerliche Anrechenbarkeit der Kinderbetreuung. In diesem Haushalt, dem Haushalt 2007, spielt das Elterngeld eine zentrale Rolle.
Wir wollen - und tun das auch - eine moderne Familienpolitik betreiben, allerdings keine Familienpolitik ohne Grundsätze. Wir wissen, Familie ist nicht das Idyll im Winkel. Harte Realität ist auch, dass immer mehr Ehen geschieden und weniger geschlossen werden, viele Menschen zeitlebens kinderlos bleiben und die Öffentlichkeit immer öfter über spektakuläre Fälle von Kindesmisshandlung diskutiert.
Für die ganz große Mehrheit der Menschen in Deutschland ist das Zusammenleben in der Familie trotzdem erwünscht, erhofft und auch alternativlos. In einer vor kurzem veröffentlichten Umfrage des Allensbach-Instituts wurde untersucht, welche Gruppe sich als besonders glücklich empfinde. Ich glaube, es erstaunt wenig, dass sich vor allem Eltern mit kleinen Kindern trotz aller Probleme als besonders glückliche Gruppe empfinden. Deshalb macht es Sinn, Familienpolitik zu betreiben und diese als roten Faden zu betrachten. Denn wenn es den Familien in unserem Land gut geht, dann geht es auch unserem Land gut.
Wir wissen, dass sich die Lebensmodelle von Familien in den vergangen Jahrzehnten mehr verändert haben als in den vergangenen Jahrhunderten.
Dem tragen wir Rechnung: mit der Einführung des Elterngelds, mit der Förderung der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mit dem besseren Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und mit der besseren Einbindung der älteren Generation durch die Nutzbarmachung der Potenziale des Alters vor dem Hintergrund einer veränderten demografischen Alterspyramide.
Wichtig ist aber auch - lassen Sie mich das an dieser Stelle sagen -, dass es beim Haushalt, bei der Einbringung des Haushalts, der Diskussion darüber und der Entscheidung über die Ausgaben, nicht ausschließlich darum geht, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und zu verwalten, sondern auch darum, zu gestalten. Zum Gestalten gehört, dass nicht auf Leitbilder verzichtet wird. Familienpolitik und Leitbilder gehören zusammen. Es lohnt sich, die Leitbilder wieder in den Fokus zu rücken, die unser Grundgesetz aus gutem Grund gewählt hat. In Art. 6 des Grundgesetzes steht:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
Das ist auch gut so.
- Wenn Sie die Verfassung ändern wollen, sollten Sie das hier sagen. Wir wollen das nicht.
Wir folgen dem Grundsatz der Wahlfreiheit.
- Gleich komme ich noch zu Ihnen.
Der Grundsatz der Wahlfreiheit bedeutet für uns vor allem, dass es in der Verantwortung der Eltern liegt, wie sie ihre Kinder betreuen und erziehen.
Für uns ist es wichtig, dass sich die Väter und Mütter entscheiden können, ob sie sich ganz der Familie widmen oder wie sie Familie und Erwerbsarbeit miteinander verbinden. Wir haben in der Vergangenheit überwiegend auf die Betreuung der Kinder innerhalb der Familie gesetzt. Wegen der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen fördern wir heute zugleich die Betreuung außerhalb der Familie.
Gerade diese Frage wird sich vermehrt im Zusammenhang mit der Einführung des Elterngeldes stellen.
Eines sage ich Ihnen aber auch - um einmal Wahlfreiheit an einem praktischen Beispiel zu dokumentieren -: Frau Haßelmann, Sie haben das Ehegattensplitting angesprochen. Sie wollen das Ehegattensplitting zum Teil schleifen
und begründen das mit einem besonderen Zugewinn an Humanität. Ich bitte Sie, auch einmal an die Millionen von Frauen zu denken, die in der Vergangenheit einen anderen Lebensentwurf gewählt haben
und die jetzt, nachdem die Kinder aus dem Haus sind - Sie wollen ja das Ehegattensplitting erkennbar daran knüpfen, ob Kinder im Haus sind oder nicht - und weil sie sich ganz der Kindererziehung gewidmet haben, ein wesentlich geringeres Alterseinkommen haben als ihr Ehemann. Wenn Sie das Ehegattensplitting jetzt schleifen, dann treffen Sie Millionen dieser Frauen. Das ist kein Zugewinn an Humanität, sondern - das sage ich Ihnen an dieser Stelle - eine ganz grobe Ungerechtigkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Deligöz?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Ich gestatte eine Zwischenfrage, wenn Sie die richtige Frage stellen, Frau Deligöz.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Singhammer, ich stelle Ihnen immer die richtige Frage; das wissen Sie doch.
Geben Sie mir Recht, wenn ich sage: Eine Familie mit zwei Einkommen - die Frau ist womöglich als Verkäuferin im Supermarkt tätig, der Mann als Fernfahrer; beide verdienen also nicht viel - hat, obwohl beide Ehepartner arbeiten, um ihrer Familie einen Mindestunterhalt zu gewährleisten - denn beide sind keine Großverdiener -, nichts vom Ehegattensplitting. Denn bei einem etwa gleich hohen Einkommen ist der Betrag, der sich aus dem Ehegattensplitting ergibt, für diese Familie null. Im gleichen Zug hat ein sehr gut verdienender Ehemann - ein Bundestagsabgeordneter, sagt meine Kollegin Schewe-Gerigk - mit einer Frau, die nicht erwerbstätig und zu Hause ist, bei diesem Einkommen Vorteile von bis zu 8 000 Euro, und dies auch ohne Kinder.
Dies ist ungerecht gegenüber Kinder erziehenden Eltern, die trotz ihres niedrigen Einkommens die Kosten für ihre Kinder tragen müssen.
Stimmen Sie mir darin zu, dass es ein Aspekt der Gerechtigkeit ist, Familien, die die Verantwortung übernehmen, Kinder zu erziehen, staatlich mehr zu unterstützen als diejenigen, die keine Kinder haben! Das müsste doch eigentlich auch in Ihrem Programm stehen. Denn auch Sie definieren ?Familie“ als den Ort, wo Menschen miteinander und füreinander Verantwortung übernehmen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, Sie hatten sich zu einer Zwischenfrage gemeldet.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das ist eine Zwischenfrage. Ich würde gern wissen, ob mir Herr Singhammer da zustimmt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wenn ich mir nicht notiert hätte, dass ich Ihnen zu einer Zwischenfrage das Wort erteilt habe, könnte ich das gar nicht mehr als solche erkennen.
Deswegen wäre es gut, wenn nach der bestellten guten Frage nun auch eine gute Antwort erfolgte.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich habe ja von Ihnen gelernt, dass gut Ding Weile braucht, Herr Lammert. Von daher stelle ich jetzt meine Frage.
- Das war liebenswürdig von mir gemeint.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das hat auch jeder so verstanden. Es muss jetzt auch wirklich damit sein Bewenden haben. Der Kollege Singhammer sollte den Teil der Ausführungen, die er als Frage verstanden hat, beantworten.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dann stelle ich meine Frage: Wie vereinbaren Sie das mit Ihren CSU-Grundsätzen? Diese Gerechtigkeitsfrage würde mich sehr interessieren.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Deligöz, ich werde mich bemühen, Ihre Fragen umfassend zu beantworten.
Zunächst einmal haben Sie danach gefragt, ob das Ehegattensplitting bei dem von Ihnen skizzierten Beispiel eines Ehepaares, das über ein gleich hohes Einkommen verfügt, zu Begünstigungen führt.
Das ist ganz klar zu beantworten - das ist nichts Neues -: In diesem Fall nicht.
Dann haben Sie danach gefragt, ob es gerecht sei, wenn ein Partner mehr und der andere weniger verdient und diese Unterschiede im Rahmen des Ehegattensplittings als Vorteil zu Buche schlagen. Dazu möchte ich Ihnen sagen, dass dieses Zerrbild, das hier gelegentlich gemalt wird - oft werden der Zahnarzt und die Zahnarztgattin bemüht, die aus dem Vorteil, den das Ehegattensplitting bietet, Tennisstunden bezahlen kann -, so nicht zutrifft.
In einer Untersuchung wurde vor kurzem ganz klar festgestellt, dass das Ehegattensplitting zielgenau den Familien mit Kindern Vorteile bringt. Damit dient es genau der Gruppe, der es dienen soll. Dabei bleibt es.
- Ob Ihnen das passt oder nicht: Es ist so.
Es kommt noch ein entscheidender Grund hinzu. Ehepartner übernehmen in der Ehe eine ganz besondere Verantwortung füreinander, auch unterhaltsrechtlich. Deshalb ist es richtig - das Bundesverfassungsgericht hat dies wiederholt festgestellt -, dass diese besondere Verpflichtung einen besonderen Schutz braucht. Deshalb ist das Ehegattensplitting zu Recht eingeführt worden. - Ich denke, ich habe Ihre Fragen damit gut beantwortet.
Wahlfreiheit - ich möchte auf diesen Punkt zurückkommen - erfordert natürlich auch finanzielle Gerechtigkeit für Familien. Das ist heute schon angesprochen worden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Singhammer, es gibt noch eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Aber sehr gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Ina Lenke (FDP):
Herr Singhammer, ich möchte noch einmal auf das Ehegattensplitting zurückkommen. Sie sagen, die Ehe solle geschützt werden und Kinder sollten vom Staat gefördert werden. In meiner Frage geht es um die finanzielle Förderung der Kinder durch den Staat.
Bitte beantworten Sie mir die Fragen: Finden Sie es richtig, dass Alleinerziehende mit Kindern vom Ehegattensplitting nicht profitieren? Finden Sie es weiterhin richtig, dass auch eine Frau, die genauso viel verdient wie ihr Mann und die gleichzeitig die Kinder erzieht, keinen Vorteil durch das Ehegattensplitting hat?
Das Ehegattensplitting wurde vor 30 oder 40 Jahren eingeführt, als die Ehefrau zu Hause blieb, Kinder bekam und Kinder erzog, während der Ehemann erwerbstätig war. Sind Sie mit mir darin einig, dass wir jetzt eine Vielfalt von Lebensgemeinschaften haben, auf die dieses von Ihnen vielleicht präferierte Modell nicht passt?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Lenke, ich denke, ich habe vorweg einen Teil Ihrer Frage schon beantwortet. Bei der ganzen Diskussion gefällt mir nicht - gestatten Sie mir noch diese Bemerkung -, dass wir uns mit der Frage beschäftigen, wo wir bei der Familie und bei der Ehe noch ein paar Millionen Euro einsparen können.
Ich finde diese ganze Richtung falsch. Ich bin der Meinung, dass wir uns überlegen sollten, wie wir noch mehr für die Familien und gerade für die Kinder tun können.
Die Menschen draußen im Lande erwarten, dass wir genau darauf und nicht darauf, wo man in diesem Bereich noch Geld einsparen kann, den Fokus setzen. Das sage ich im Hinblick auf die Frauen, die eine andere Lebensentscheidung getroffen haben und die unter einer Änderung besonders leiden würden.
Wahlfreiheit erfordert aber auch finanzielle Gerechtigkeit für Familien. Das Deutsche Jugendinstitut hat vor kurzem eine Studie vorgelegt, in der nachgewiesen wird, dass es allein aufgrund des Geburtenrückgangs im Jahr 2010 weniger Kinder geben wird und deshalb für die Beibehaltung des Status quo hinsichtlich der Kindertagesbetreuung weniger Ausgaben nötig sind. Das betrifft alle politischen Ebenen, auch die Kommunen. Das Deutsche Jugendinstitut beziffert die Minderausgaben auf 3,6 Milliarden Euro.
Unsere Botschaft ist klar: Niemand, der mit Finanzplanung zu tun hat und für geordnete Haushaltsführung Sorge trägt - das ist weiß Gott ein schwieriges Unterfangen -, sollte der süßen Versuchung erliegen, durch immer weniger Kinder sich zu immer mehr Einsparungen auf dem Rücken der Familien verführen zu lassen. Zu Ende gedacht würde diese Form des Einsparens uns alle frösteln lassen. Eine derartige Rendite - das Wort traut man sich in diesem Zusammenhang gar nicht in den Mund zu nehmen - wäre zynisch und alles andere als klug.
Moderne Familienpolitik auf Grundlage eines familienpolitischen Leitbildes wird den Herausforderungen am besten gerecht. Ich möchte zum Schluss an dieser Stelle der Familienministerin herzlich danken. Ihr ist es in den vergangenen Monaten gelungen, die Familienpolitik dahin zu bringen, wo sie hingehört, nämlich ins Zentrum des politischen Geschehens.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke von der FDP-Fraktion.
Otto Fricke (FDP):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bundeshaushalt und Familie, Senioren und Kinder: Frau Ministerin, ich glaube, Sie müssen in der nächsten Zeit neben der Frage der Programme, die Sie vorstellen - mittlerweile sind es fast unüberschaubar viele geworden, sie werden haushälterisch inzwischen ja auch zusammengezogen -, mehr und mehr Ihre Aufgabe darin sehen, die Umstellung unserer Sozialsysteme den Familien, den Kindern und insbesondere den Senioren - den kommenden Senioren - klarzumachen.
Ich weiß, dass das haushaltärisch nicht in Ihren Haushalt fällt. Aber es wird Ihre wesentliche Aufgabe sein, nicht nur darüber zu reden, wie man das alles verbessern will, und mit Ihrer hellen und klaren Stimmen zu sagen, wie wichtig Familie und Kinder sind, sondern auch klarzumachen, was alles auf die betroffenen Personenkreise in Zukunft zukommen wird.
Ich vermisse Ihre Stimme bei der Unterstützung des Sparkurses. Es muss Kindern, Familien und Senioren klar sein: Sparen heißt in eurem Interesse dauerhafte Sicherheit. Ich gehe davon aus, dass Sie diese Position vertreten. Ich glaube aber, dass es dringend notwendig ist, das unseren Bürgerinnen und Bürgern zu erklären.
Zur Antidiskriminierungsstelle, die Frau Humme angesprochen hat: Frau Humme, sie ist schon im aktuellen Haushalt enthalten. Sie ist zwar gesperrt, aber sie ist drin.
Insofern ist das nichts Neues und nichts Besonderes. Sie haben die Hoffnung geäußert, dass das Geld nun tatsächlich auch richtig eingesetzt wird. Ich kann nur davon abraten, die Antidiskriminierungsstelle im nächsten Jahr schon in Kraft zu setzen. Ich sehe, dass wir in den Ministerien schon am ersten Korrekturgesetz - wahrscheinlich auch am zweiten Korrekturgesetz - arbeiten, weil so viel Murks gemacht worden ist. Die Justizministerin hat in der Debatte sogar indirekt zugegeben, dass diese Stelle erst dann kommen sollte, wenn das Gesetz auch in der Form vorliegt, wie es im Übrigen von den Koalitionsfraktionen tatsächlich gewollt ist, und nicht, wie es fälschlicherweise beschlossen worden ist.
Ich komme zum Elterngeld: Ja, es ist richtig, es ist gut, dass dieses Elterngeld kommt. Aber was ist denn das Elterngeld? Da habe ich ein Problem. Dient es der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder ist es, wie ich oft höre, eine Sozialleistung? Das macht sich deutlich fest an der Frage des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger.
Sie können mich jetzt in die böse Ecke stellen und behaupten, ich würde es den Hartz-IV-Empfängern nicht gönnen, dass sie Elterngeld bekommen. Wenn das Elterngeld die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Ziel hat, dann dürfen wir es bei Hartz IV nicht machen. Wenn Sie aber zu dem Ergebnis kommen, dass die Hartz-IV-Empfänger mit Kindern zu wenig Geld bekommen und es deswegen für diesen Personenkreis notwendig ist, Elterngeld zu geben, dann sollten Sie sagen: Die Leistungen aus Hartz IV sind für Eltern zu wenig.
Das können Sie auch an der Antwort auf die Frage festmachen: Was ist denn nach dem ersten Jahr? Ist es nach dem ersten Jahr, in dem die Leistung gegeben wurde, auf einmal so, dass die Eltern, die Hartz-IV-Empfänger sind, genügend Geld haben? Ich glaube kaum, dass Kinder nach einem Jahr auf einmal weniger Geld kosten. Jeder von uns weiß doch: Je älter Kinder werden, umso mehr Geld kosten sie und umso mehr sollten sie uns auch wert sein.
- Sie sagen, das verstünden die Familien nicht. Sie meinen, wenn Sie das Geld rausgeben, verstünde das jeder. Als Haushälter weiß ich: Wenn ich heute gebe und morgen nichts habe, dann ist das schlecht. Wenn ich heute weniger gebe, aber morgen noch etwas habe, dann ist das gut. Das ist wahrscheinlich der Unterschied zwischen der Haushaltspolitik Ihrer Art und der Haushaltspolitik einer liberalen Fraktion.
Ich komme - Herr Singhammer hat es gerade in einer Weise angesprochen, der ich nicht ganz zustimmen kann - zu dem Buch, das heute vorgestellt worden ist.
- Welche Reaktionen! Keine Angst! Ich halte von der Position von Frau Herman nichts. Aber ein Bundestag, der sich mit der Frage, warum dieses Buch so gut läuft, nicht beschäftigt, der macht einen Fehler.
Der Jurist sagt: Hör immer der anderen Seite zu! Das gilt auch hier, auch wenn das nicht mein Familienbild und nicht mein Frauenbild ist! Emanzipation ist meiner Meinung nach dringend notwendig gewesen. Sie zurückzudrehen wäre ein Fehler für unsere Gesellschaft. Aber Sie machen die Rollladen runter und sagen: Das ist schlecht. Auch das ist ein Fehler. Schauen Sie lieber nach, wo die falschen Denkansätze in diesem Bereich liegen! Wo läuft es falsch?
Dann müssten Sie eines sehen: Weder von konservativer noch von sozialdemokratischer Seite kann ein bestimmtes Familienbild vorgegeben werden. In diesem Land muss jeder Bürger im Bereich Familie die für ihn richtige Lösung finden. Tut er das nicht, wird er auf Dauer nicht glücklich sein. Und das ist es doch, was wir erreichen wollen: Wir wollen glückliche und zufriedene Familien. Jeder soll auf seinem Weg glücklich werden.
Zum Schluss will ich noch etwas zur Seniorenpolitik sagen. Frau Ministerin, es ist richtig - auch Herr Spanier hat Recht -, auf diesem Gebiet passiert etwas. Es gibt aber ein Problem: Im Bundestag sitzen zu wenig ?Ältere“. Herr Spanier hat gesagt, er wäre mit seinen dreiundsechzigeinhalb Jahren schon ein Senior. Das stimmt doch nicht. Sie stehen doch voll im Leben. Mit ?Senior“ haben Sie mit dreiundsechzigeinhalb Jahren doch noch nichts zu tun.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Fricke, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sager?
Otto Fricke (FDP):
Aber selbstverständlich.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Sager, bitte.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke schön. - Ich möchte auf Ihre Ausführungen von eben zurückkommen. Herr Kollege, viele Frauen beklagen zu Recht, dass es verdammt schwer ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Könnte es sein, dass der Grund dafür nicht nur im Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen liegt? Müssten nicht die Unternehmen angesichts des demografischen Wandels deutlich familienfreundlicher werden? Sollten nicht gerade die Vertreter des Turbokapitalismus dafür werben, dass die Unternehmen familienfreundlicher werden?
Otto Fricke (FDP):
Liebe Frau Kollegin, bis auf die Aussage zum Turbokapitalismus, die ich nicht ganz einordnen konnte, weil ich nicht weiß, wen Sie damit gemeint haben,
stimme ich Ihnen ausdrücklich zu.
Ich komme auf meinen Redebeitrag zurück.
Frau Ministerin, gehen Sie auf das ein, was von den Senioren in Zukunft erwartet wird. Wenn Sie die Planungen von Herrn Müntefering zur Rente mit 67 und zur Hinterbliebenenrente unterstützen, dann sollten Sie den Bürgern sagen, warum das unterstützenswert ist. Halten Sie sich nicht zurück; warten Sie nicht, bis die Wolken vorübergezogen sind. Es ist Ihre Aufgabe, klarzumachen, was der Staat zukünftig noch leisten kann.
Es ist fast nicht nötig, Ältere zu fördern. Sie können das nämlich selber. Als Beispiel nenne ich Ihnen unseren Kollegen Schily. Er wird nächstes Jahr 70 Jahre alt und hat im letzten Jahr seine erste Legislaturperiode angetreten. Wir mussten ihn nicht fördern. Er ist angetreten, weil er die entsprechenden Fähigkeiten hatte und sagte: Es geht um meinen Einsatz für die Politik. Ihre Aufgabe ist es, den Bürgern in unserer Gesellschaft das klar zu machen. Wenn Sie das vorhaben, haben Sie unsere Unterstützung.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Sönke Rix von der SPD-Fraktion.
Sönke Rix (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt dafür entschuldigen muss, dass ich erst 30 Jahre alt bin.
Herr Fricke, Frau Herman wird sich sicher dafür bedanken, dass Sie Werbung für ihr Buch gemacht haben. Ich bin aber froh, dass Sie in Ihrer Antwort auf die Zwischenfrage Frau Sager Recht gegeben haben und nicht letztendlich doch Frau Herman.
Die Lesung des Bundeshaushalts ist für die einen ein sehr trockenes Geschäft. Für die anderen hängt ihre persönliche Zukunft daran, weil sie Angestellte einer Einrichtung sind oder weil sie dort nachmittags betreut werden bzw. eine warme Mahlzeit erhalten. Manchmal hängt aber auch die Zukunft einer ganzen Einrichtung oder des gesamten Bereichs der Kinder- und Jugendhilfe daran.
Hier wurden bereits einige Informationen über den Einzelplan preisgegeben. Ich bin in der glücklichen Lage, Ihnen und denen, die es vor allem betrifft, zu sagen, dass es im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik im Vergleich zum Haushalt 2006, den wir vor der parlamentarischen Sommerpause verabschiedet haben, nur kleine Unterschiede gibt. Natürlich hätte ich größere Freude daran gehabt, zu verkünden, dass die Mittel aufgestockt wurden. Geld ist aber nicht alles. Es nützt nichts, schlechtem Geld noch gutes Geld hinterher zu werfen.
Genau das passiert, wenn man keine Ideen mehr hat. Gerade die sind in der Kinder- und Jugendpolitik mehr denn je gefragt. Kinder und Jugendliche sind eigenständige Persönlichkeiten mit vielfältigen Fähigkeiten. Sie haben eigene Rechte. Die Stärkung der Persönlichkeit und die individuelle Förderung müssen das Ziel aller kinder- und jugendpolitischen Maßnahmen sein.
Alle Kinder und Jugendlichen sollen von Anfang an die gleichen Voraussetzungen erhalten, damit sie die Chancen haben, ihre vielfältigen Fähigkeiten und Talente zu entwickeln. Unser Ziel ist eine gute Qualität von Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an. Wir brauchen dazu ein Gesamtsystem, das auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist. Wenn hier viele kleine Zahnräder ineinander greifen, kann auf einen großen teuren Reifen getrost verzichtet werden.
Kinder brauchen andere Kinder, um Beziehungserfahrungen sammeln zu können. Denn sie sollen sich emotional, sozial und kognitiv gut entwickeln. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist daher von elementarer Bedeutung. Eine qualifizierte frühe Förderung ergänzt die Bildungsangebote über das Elternhaus hinaus. Sie ermöglicht den Kindern eine echte Chancengleichheit bei Bildung und Erziehung. Absolut notwendig sind dabei die Qualifizierung der Tagespflege und die Weiterentwicklung der Qualität der Kinderbetreuung.
Bei der notwendigen Modernisierung des schulischen Lernens spielt die Einrichtung von Ganztagsschulen eine entscheidende Rolle. Ganztagsschulen bieten mehr Zeit und Raum, jedes Kind individuell zu fördern. Dabei ist die Kinder- und Jugendhilfe ein zentraler Partner. Von ihren Erfahrungen in der Bildungsarbeit, in Kindertagesstätten, in kulturellen Einrichtungen, Sport- und Freizeitverbänden sowie in der Schul- und Jugendsozialarbeit kann die Entwicklung eines durchgängigen Bildungsangebotes nur profitieren.
Eine kurze Anmerkung: Frau Haßelmann, Sie haben vorhin von einer Kürzung der Mittel für die Jugendsozialarbeit gesprochen. Dort ist nur eine Neustrukturierung vorgenommen worden. Die Summe ist immer noch die gleiche.
Nicht alle Kinder haben die gleichen Zugänge zu Bildung. Dies gilt vor allem für Kinder und Jugendliche aus sozialen Brennpunkten und mit Migrationshintergrund. Rund 12 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben keinen Schulabschluss. Zudem finden sie auch mit Schulabschluss seltener einen Ausbildungsplatz. Die Konsequenz daraus ist der Aufenthalt in schulischen und berufsvorbereitenden Warteschleifen. Damit es nicht so weit kommt und die Jugendlichen keine wertvolle Zeit verlieren, muss früher angesetzt werden.
Ein Ausbau der Frühprogramme für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ab dem Kindergarten, so, wie wir ihn vereinbart haben, ist der erste und wichtigste Schritt. Denn wir alle wissen: Bildung ist der Grundstein jeglicher Integration. Dies gilt auch für die berufliche Integration, die besonders Hauptschülerinnen und Hauptschülern schwer fällt. Von ihnen bleiben circa 9 Prozent eines Jahrgangs ohne Schulabschluss. Ihre Chancen auf eine berufliche Integration sind deshalb erheblich schlechter.
Für Kinder und Jugendliche aus sozialen Brennpunkten und mit Migrationshintergrund gilt gleichermaßen: Die Spirale von Armut und mangelnden Bildungschancen muss durchbrochen werden. Die grundlegende Bereitschaft, sich für die eigene berufliche Zukunft zu engagieren, muss bei den Jugendlichen geweckt, gefördert und - das füge ich bewusst hinzu - gefordert werden. Das Prinzip der ausgestreckten Hand muss dabei Grundlage allen politischen Handelns sein.
Werte, die in der Arbeitswelt geschätzt werden, wie etwa Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Durchhaltevermögen, müssen bereits früh in der Erziehung und Bildung vermittelt werden. Es ist unabdingbar, die Situation benachteiligter junger Menschen zu verbessern. Gerade diese jungen Menschen brauchen ausgezeichnete Entwicklungs- und Bildungsangebote. Sonst verbauen wir ihnen jeden Weg in eine selbstbestimmte Zukunft.
Zukunftsweisende Politik für Kinder und Jugendliche wird durch eine ganzheitliche Familienpolitik ergänzt, die den Zusammenhalt der Generationen fördert und stärkt und damit den Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft sichert. Geteilte Werte und gelebte Gemeinsamkeit schlagen Brücken, auch zwischen den Generationen.
Erziehung bedeutet, Kinder stark für das Leben zu machen, ihnen zu helfen, ihren Platz in unserer Gesellschaft zu finden und eigenverantwortlich zu handeln. Alle Kinder verfügen über besondere Stärken, Talente und Neigungen. Unsere politischen Entscheidungen müssen wir daran messen lassen, ob sie den Interessen der Entwicklung der nachfolgenden Generationen gerecht werden, dem Wohle von Kindern und Jugendlichen dienen und den Zusammenhalt der Generationen und damit der gesamten Gesellschaft fördern und stärken.
Meine Kolleginnen und Kollegen, Kinder- und Jugendpolitik ist eine Querschnitts-, Langzeit- und Zukunftsaufgabe. Leider ist dieser Haushaltsansatz nicht der größte des gesamten Zahlenwerks.
Gerade weil das so ist, sind alle handelnden Akteure gefordert, aus den vorhandenen Mitteln mit Kreativität, Einfallsreichtum und engagierter Arbeit das Maximum herauszuholen.
Ich danke an dieser Stelle allen, die sich jeden Tag um die Kinder- und Jugendarbeit in unserem Land verdient machen, und bitte sie, dies gemeinsam mit allen Beteiligten auch weiterhin zu tun.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ole Schröder von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Haushaltsentwurf 2007 setzen wir ein deutliches Signal für Familien und Kinder. Mit dem Elterngeld erreichen wir eine deutliche Verbesserung für Familien und Kinder. Hierfür sind erstmalig 1,6 Milliarden Euro eingestellt worden.
Trotz der Erhöhung des Volumens des Einzelplans 17, bedingt durch das Elterngeld, aber auch durch die Mehrgenerationenhäuser, steht natürlich auch dieser Haushaltsentwurf unter dem allgemeinen Konsolidierungsdruck. So haben wir beispielsweise die Verwaltungsausgaben der institutionell geförderten Zuwendungsempfänger um circa 2,2 Prozent gekürzt.
Frau Haßelmann, bei der sozialen und beruflichen Integration haben wir allerdings nicht gekürzt. Dieses Kapitel ist mit 12,1 Millionen Euro gleich hoch geblieben. Wir haben innerhalb dieses Bereichs allerdings eine Umschichtung vorgenommen, und zwar von der Jugendsozialarbeit - minus 400 000 Euro - hin zum Titel ?Jugend und Arbeit“, um in diesem Rahmen ein Programm für Schulverweigerer zu finanzieren.
Für den von Ihnen genannten Titel ?Jugendsozialarbeit“ wird dennoch weiterhin genauso viel Geld ausgegeben wie bisher. Das ist möglich, weil es dem Ministerium gelungen ist, Gelder aus dem EU-Sozialfonds zu generieren. Diese Gelder fließen direkt in die geplanten Programme. Insofern ist die Befürchtung, die Sie eben geäußert haben - dass wir hier sparen würden -, unbegründet.
Darauf können wir aber in den Beratungen sicherlich noch eingehen.
Nach wie vor müssen wir uns fragen, ob wir in Deutschland 20 Zivildienstschulen brauchen; sie kosten immerhin 47 Millionen Euro. In diesem Haushaltsentwurf sind an dieser Stelle erneut Mehrausgaben in Höhe von 500 000 Euro zu verzeichnen. Vor dem Hintergrund der Überkapazitäten in unseren Zivildienstschulen zeigt sich hier deutliches Einsparpotenzial. Darauf sollten wir in den Beratungen noch einmal zu sprechen kommen. Das Ministerium arbeitet bereits an entsprechenden Verbesserungsvorschlägen. Ich denke, dass wir hier in guter Zusammenarbeit zu vernünftigen Lösungen kommen werden.
Zudem werden wir auch die Entwicklung des Kinderzuschlages genauer beobachten müssen. Gegenwärtig wird ein Volumen von 150 Millionen Euro dafür veranschlagt. Das entspricht der Höhe der Ausgaben, die nach der derzeitigen Rechtslage zu erwarten sind. Aber wir sollten darauf drängen, die im Koalitionsvertrag vereinbarte Weiterentwicklung in diesem Bereich energisch anzupacken. In diesem Zusammenhang denke ich vor allen Dingen an die immens hohen Verwaltungsaufwendungen. Hier können wir sicherlich Geld einsparen, damit mehr Geld für die Kinder zur Verfügung gestellt werden kann.
Meine Damen und Herren, wir als Haushälter haben die Aufgabe, uns auch die kleinen Titel genau anzusehen und sie intensiv zu kontrollieren. Das tun wir. Doch bei aller Liebe zum Detail, die wir im Haushaltsausschuss haben: Noch viel wichtiger ist es, ein familienpolitisches Gesamtkonzept zu erstellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine verbesserte Ausgestaltung der Familienpolitik ist wesentlich für die Zukunft unserer Gesellschaft. Wir haben schon in der letzten Debatte, zum Haushalt 2006, intensiv darüber diskutiert. Die Familienpolitik der letzten Jahre ist immer noch zu ineffektiv, zu ineffizient, zu intransparent und zum Teil, wie ich meine, ungerecht. Ihre Systematik weist Schwächen auf, gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Das Problematische ist, dass durch den Förderdschungel der vielen familienpolitischen Maßnahmen eigentlich keiner mehr richtig durchblickt.
Nicht umsonst hat das Bundesverfassungsgericht schon vor drei Jahren in seinem Urteil zur verfassungsrechtlichen Prüfung des Kinderunterhaltsrechts mehr Normklarheit gefordert. Das sollten wir umsetzen.
Das Geld sollte den Kindern und Eltern zugute kommen und nicht in der Förderbürokratie versickern. Die unterschiedlichen familienpolitischen Leistungen müssen daher gebündelt werden. Wir brauchen ein Gesamtpaket, in dem die Anzahl der unterschiedlichen Fördermaßnahmen reduziert und die unnötige Bürokratie in der Familienpolitik abgebaut wird. Letztendlich sind es drei Säulen, die wir brauchen: eine einkommensunabhängige Leistung wie das Kindergeld, um die Grundsicherung jedes Kindes zu gewährleisten; einkommensabhängige Leistungen wie das Elterngeld und die steuerliche Berücksichtigung von Kindern, um auch Berufstätigen die Realisierung ihres Kinderwunsches zu erleichtern; und natürlich, drittens, bedarfsabhängige Leistungen zur Übernahme der Kosten für Kinderbetreuung, wodurch die Wahlfreiheit garantiert wird und die Schwarzarbeit im Betreuungssektor vermieden werden kann. Was wir nicht brauchen, sind 50 verschiedene monetäre Leistungen, die man nur noch nachvollziehen kann, wenn man dicke wissenschaftliche Studien von über 100 Seiten zu Rate zieht.
Eine solche Bündelung der Maßnahmen ist auch sinnvoll, um ein weiteres wichtiges Projekt der Koalition zu ergänzen: die einheitliche Familienkasse, eine Kasse neuen Typs, eine einheitliche Anlaufstelle.
Frau Familienministerin, ich bin gespannt, was die von Ihnen jetzt ausgeschriebene Evaluation der familienpolitischen Maßnahmen bringen wird. Nur, eins ist klar: Letztendlich entscheiden nicht die Gutachten, sondern entscheidend ist der politische Mut, dieses Reformprojekt auf den Weg zu bringen. Ich hoffe, dass Sie weiter so mutig voranschreiten. Wir werden Sie dabei unterstützen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt Kollegin Kerstin Griese von der SPD-Fraktion.
Kerstin Griese (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zum Abschluss unserer Debatte etwas dazu sagen, was der rote Faden unserer Politik für Kinder und Jugendliche, für Familien, für die Gleichstellung von Frauen und Männern, für die Solidarität der Generationen und für die Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Engagements ist. Uns geht es um den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Es geht um den Einsatz füreinander und um mehr und bessere Chancen von Anfang an. Deshalb begrüße ich es wie schon meine Vorredner, dass dieser wichtige Haushaltstitel gestärkt wird.
Es geht uns Sozialdemokraten - ich glaube, das können Sie alle hier teilen - um die wichtige Frage: Was hält die Gesellschaft zusammen? Was stärkt die Menschen, damit sie sich füreinander und miteinander engagieren, sei es in der Familie, im Stadtteil, in der Schule, in der Ausbildung, im Arbeitsleben oder zwischen den Generationen? Uns geht es - dafür brauchen wir keine Bücher, wie sie heute erscheinen - nicht darum, jemandem einen Lebensentwurf aufzuzwingen.
Es geht uns darum, Freiheit und Gerechtigkeit - das gehört immer zusammen - herzustellen, damit ein solidarisches Zusammenleben möglich ist, und es geht dabei um die Verantwortung füreinander.
Es geht darum, dass wir Menschen stärken, damit sie nicht wegsehen, wenn Kinder schlecht behandelt werden oder wenn Rechtsextremisten jemanden anpöbeln.
Ganz besonders sind diese großen Werte, über die wir hier reden, gefragt, wenn es um die Schwächsten in der Gesellschaft geht, nämlich die Kinder, deren Chancen in Deutschland immer noch viel zu sehr davon abhängen, welche und ob überhaupt Bücher im Regal der Eltern stehen und in welchem Stadtteil sie aufwachsen. Meine Vorredner haben schon viel dazu gesagt. Weniger Bildungschancen bedeuten weniger Zukunftschancen. Genau da setzen wir an. Auf frühe Förderung und Unterstützung kommt es an, auf Mehrgenerationenhäuser und den Ausbau von Bildung und Betreuung.
Frau Golze, ich will auf das eingehen, was Sie zur Kinderarmut gesagt haben. Ja, in Deutschland leben 2,5 Millionen Kinder von ALG II, also schon längst nicht mehr von Sozialhilfe, was deutlich weniger wäre. Betroffen ist jedes sechste Kind in Deutschland. Das ist schlimm, aber nicht mit Kinderarmut gleichzusetzen. Kinderarmut kann man nämlich nicht allein materiell und statistisch und vor allen Dingen nicht mit dem ALG-II-Satz begründen. Es ist ja auch nicht so, dass wir in den letzten Jahren weniger Geld für die Familien ausgegeben haben. Die Leistungen sind kontinuierlich gestiegen. Wir müssen alle gemeinsam - da stimme ich Herrn Schröder zu - darüber nachdenken, wie man dieses Geld zielgerichteter ausgeben kann.
Kinderarmut macht sich insbesondere durch eine fehlende Förderung der Kinder und durch fehlende Bildungsanreize durch das Elternhaus bemerkbar. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen auf Bundesebene verstärkt Chancengleichheit ermöglichen und viel früher damit beginnen. Ich appelliere dabei aber auch an die Länder, weil sie für die Schulpolitik zuständig sind. Ich glaube, Kinderarmut muss durch mehr Bildungschancen und mehr Möglichkeiten zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit für die Eltern bekämpft werden. Das ist die nachhaltigste Lösung.
Wenn Alleinerziehende ihr Leben selbst in die Hand nehmen können sollen, dann muss die Politik dafür sorgen, dass es ein gut funktionierendes Netz an Kinderbetreuungsmöglichkeiten, mehr Familienfreundlichkeit am Arbeitsplatz und gezielte finanzielle Hilfen gibt. In diesem Sinne tun wir sehr viel für die Bekämpfung von Kinderarmut.
Wir als SPD haben schon vor Jahren in der Regierung damit begonnen, Kindern früher und mehr Chancen auf Bildung und Betreuung zu geben. Sie kennen das Ergebnis: mehr Ganztagsgrundschulen. Ich bin froh, dass wir endlich den Einstieg in den Ausbau der Betreuung für unter 3-Jährige geschafft haben, und zwar auch in Westdeutschland. Wir warten nicht ab, Frau Haßelmann. Die erste Evaluation liegt vor; der Ausbau beginnt. Wenn Sie in die Kommunen gehen, dann sehen Sie das selbst. Alle bemühen sich, den Bedarf zu erheben. Wir sind uns sicherlich einig, dass wir alle das gerne noch sehr viel schneller hätten. Ich bin aber froh, dass nun endlich mit dem Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für unter 3-Jährige begonnen wird.
Ich muss aber sagen, dass man die Schwerpunkte in NRW zurzeit leider etwas anders setzt. Dort ist die FDP übrigens mit in der Regierung. Durch die massiven Kürzungen der Zuschüsse für die Kindergärten haben wir dort in den Kommunen ein großes Problem. Die Kommunen, denen es am schlechtesten geht, müssen diese Kürzungen nun auf die Eltern abwälzen. Das ist keine Familienfreundlichkeit.
- Das habt ihr eingeführt.
Wir führen gerade eine Debatte darüber, dass sich Leistung wieder lohnen muss. ?Leistung muss sich wieder lohnen“ ist früher eher von der rechten Seite des Hauses als Ruf erklungen. Ihnen ging es dabei meistens um weniger Staat. Die Debatte hat sich aber geändert. Die Menschen wollen nämlich, dass die Gesellschaft und der Staat mehr Verantwortung übernehmen. Deshalb sage ich heute als Sozialdemokratin: Leistung muss sich lohnen.
Wir müssen darum etwas tun, damit unsere Gesellschaft nicht mehr so starr und undurchlässig ist. Wir müssen mehr in die Chancen für Kinder investieren. Die Leistungsträger in unserer Gesellschaft sind eben auch die Mütter und Väter in der Mitte der Gesellschaft, die Beruf und Familie erfolgreich vereinbaren.
Durch das Elterngeld, das wir einführen, wird genau diese Mitte der Gesellschaft unterstützt. Herr Fricke, es gibt keinen Gegensatz zwischen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der Sozialpolitik; wir haben beides gemeinsam geschafft. Das Elterngeld wird nämlich insbesondere denen zugute kommen, die geringe und mittlere Einkommen erzielen. Der übergroße Teil geht an diese Einkommensschichten. Das heißt, wir haben beides sinnvoll miteinander verbunden.
Ich halte die Geringverdienerregelung, die wir im Rahmen der Ausgestaltung des Elterngelds vorgeschlagen haben, bis heute für eine der besten Regelungen. Davon können sich die Sozial- und Arbeitsmarktpolitiker einiges abschauen. Es ist nämlich der richtige Ansatz dafür, dass sich Arbeit wieder lohnt.
Mit diesem Konzept werden übrigens auch einmal die Männer als Leistungsträger angesprochen. Sie werden durch das Elterngeld darin unterstützt, sich mehr um ihre Rolle als Elternteil zu kümmern und genauso Verantwortung zu tragen wie die Frauen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Griese, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollege Otto Fricke?
Kerstin Griese (SPD):
Wenn er keine Werbung für Bücher macht, dann gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Fricke.
Otto Fricke (FDP):
Nein, ich glaube, das Buch kursiert im Moment in anderen Reihen.
Geschätzte Kollegin Griese, Sie sagten gerade, dass das Elterngeld eine Sozialleistung ist. Wenn das so ist und wenn auch die CDU/CSU das als eine Sozialleistung ansieht, dann hätte ich von Ihnen doch gerne eine Antwort auf die Frage, warum die Zahlung dieser Sozialleistung nach einem Jahr abrupt endet.
Kerstin Griese (SPD):
Geschätzter Kollege Fricke, Sie haben mir nicht richtig zugehört. Ich habe gesagt: Das Elterngeld ist eine Verbindung beider Komponenten, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und einer sozial gerechten Ausgestaltung. Es ist nämlich so, dass 63 Prozent der Elterngeldzahlungen Familien mit kleinen und mittleren Einkommen zugute kommen. Das ist ein Beweis für die sozialgerechte Ausgestaltung dieser Leistung. Das Neue an unserer Politik ist, dass wir an beides denken, an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und an soziale Gerechtigkeit.
Leistungsträger in unserem Land sind auch die vielen ehrenamtlich engagierten Menschen. In Deutschland sind das 23 Millionen. Sie sind der Kitt, der unsere Gesellschaft stark macht. Ein gutes Beispiel dafür sind die Freiwilligendienste, die wir mit diesem Haushalt weiter ausbauen; es sollen weitere Plätze geschaffen werden. Dass es noch immer mehr Bewerbungen von jungen Menschen als freie Plätze gibt, ist ein erfreuliches Zeichen.
Das gilt auch für den internationalen Jugendaustausch, den wir weiter fördern. Ich will angesichts der aktuellen Lage nur einen Satz zum deutsch-israelischen Jugendaustausch sagen, der unter schwierigen Bedingungen weitergeführt werden muss. Wir alle hoffen, dass in dieser Region die Waffen schweigen. Ich möchte denen danken, die sich weiterhin für den deutsch-israelischen Jugendaustausch und diese Begegnungen engagieren; denn wir brauchen diese Arbeit.
Ein Thema, das uns ebenfalls sehr wichtig ist, ist die Arbeit gegen Rechtsextremismus. Ich bin sehr froh, dass wir gemeinsam durchgesetzt haben, dass die Mittel in Höhe von 19 Millionen Euro für das Programm ?Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ langfristig zur Verfügung stehen werden. Das ist notwendig. Es geht eben nicht um Strohfeuerprogramme, sondern es geht um eine langfristige Verstetigung der Arbeit, wie wir das im Koalitionsvertrag festgehalten haben. Ich bin froh - das war uns als SPD sehr wichtig -, dass der Schwerpunkt auf der Arbeit gegen Rechtsextremismus liegt; denn wir alle wissen, wie hoch dort das Gefahrenpotenzial ist.
Für uns ist eine kontinuierliche und nachhaltige Arbeit für Demokratie und Toleranz die beste Prävention. All das kann nur funktionieren, wenn die Projekte und Initiativen vor Ort unterstützt werden. Ich habe in diesem Sommer einige Bürgerbündnisse und mobile Beratungsteams besucht und konnte mich davon überzeugen, in welcher gesellschaftlichen Breite dort gearbeitet wird: parteiübergreifend mit Kirchen, Verbänden und Vereinen. Ich danke auch den vielen Menschen, die sich bei der Ministerin dafür eingesetzt haben, dass diese Arbeit fortgeführt wird.
Wir als SPD wollen, dass erfolgreiche Arbeit fortgeführt werden kann. Die Struktur von mobilen Beratungsteams, Opferberatungsstellen und Netzwerkstellen bildet einen überregionalen Hintergrund, vor dem sich sehr viele Menschen ehrenamtlich engagieren können. Diese Arbeit ist wichtig und muss sicherlich weiterentwickelt werden. Aber sie darf nicht beendet werden.
Gerade angesichts der aktuellen Situation müssen wir wachsam sein. Wir erleben in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, wie Menschen im Wahlkampf von Rechtsextremen belästigt und fotografiert, wie Autokennzeichen aufgeschrieben werden, wie sie sogar bedroht und verfolgt werden. Das ist Mitgliedern meiner Partei mehrfach passiert. Das zeigt uns, dass wir alle gemeinsam dafür einstehen müssen, dass rechtsextreme, rassistische und Menschen ausgrenzende Parteien nicht noch einmal in die Landtage einziehen dürfen.
Viele von Ihnen haben Patenschaften für Projekte wie ?Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage“ übernommen. Ich nenne hier auch das Netzwerk für Demokratie und Courage in Sachsen; Sachsen ist übrigens das Bundesland mit der höchsten Dichte an organisierten Rechtsextremen. Die Arbeit gegen Rechtsextreme, die von der Zivilgesellschaft geleistet wird, ist wichtig. Ich halte auch die Idee der Kollegin Lazar für unterstützenswert, uns zu überlegen, ob wir ausschließlich Kommunen oder auch Verbünden von Trägern die Möglichkeit geben, Projekte zu beantragen.
Ich komme zum Schluss, nur noch ein paar Sekunden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Eine Minute ist nicht mehr drin.
Kerstin Griese (SPD):
Frau Laurischk, wir sind nicht die Bösen. Der Titel für die Integration junger Zuwanderinnen und Zuwanderer ist in unserem Haushalt weder gekürzt noch gestrichen worden. Er liegt weiterhin bei einem Volumen von 66 Millionen Euro. Ich habe mich noch einmal erkundigt: Kein Projektträger, der um Unterstützung gebeten hat, ist zurückgewiesen worden. Wenn Sie das im Innenausschuss kritisieren wollen, können Sie das dort tun. Da, wo es um die Integration junger Migranten geht, haben wir die Mittel in gleicher Höhe für die Weiterführung der Arbeit bereitstellen können.
Vielen Dank.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 47. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 7. September 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]