52. Sitzung
Berlin, Freitag, den 22. September 2006
Beginn: 11.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, Punkt 28 - Beratung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem Titel ?Für die unbeschränkte Geltung der Menschenrechte in Deutschland“ - von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Annahme einer Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 16/2620 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man ist ja fast versucht, jeden der anwesenden Kollegen per Handschlag und mit Namen zu begrüßen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das geht dann aber von Ihrer Redezeit ab.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Deswegen erspare ich mir das, Herr Präsident. - Ich glaube nicht, dass dies der Bedeutung der heutigen Debatte gerecht wird. Bundestag und Bundesregierung schließen heute nämlich eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union, wie es etwas nüchtern heißt. Es geht dabei jedoch weniger um rein organisatorische und technische Fragen der europapolitischen Kooperation zwischen Parlament und Regierung. Vielmehr wagen wir mit dieser Vereinbarung mehr Parlamentarismus und Demokratie. Der Bundestag kann zukünftig das Gesicht Europas stärker gestalten als jemals zuvor. Diese Vereinbarung ist längst überfällig.
Wir alle, die sich mit Europa beschäftigen, spüren: Die Idee eines vereinigten Europas hat in den vergangenen Jahren an Strahlkraft verloren, und zwar nicht nur bei den Bürgerinnen und Bürgern, den Medien und vielen Organisationen, sondern auch bei uns: In allen Fraktionen ist das Unbehagen gegenüber der europäischen Integration gewachsen. Viele von uns schimpfen über den Bürokratiekoloss in Brüssel. Nicht wenige schütteln den Kopf über die vermeintlich weltfremde europäische Gesetzgebungsmaschinerie. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen bedauern den sinkenden Einfluss nationalen Handelns. Viele sehen keine Spielräume mehr für eigene Akzente und Ideen, wenn es gilt, Richtlinien in nationales Recht umzusetzen. In den Augen einiger von uns ist die EU nur noch ein Büttel der Globalisierung und nicht mehr das Instrument, um Globalisierung demokratisch und sozial zu gestalten.
Das ist eine ziemlich deprimierende Zustandsbeschreibung. Ich halte diese Beschreibung aber für falsch. Auch wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind Europa. Wir sind Teil der europäischen Gesetzgebung. Wir vertreten die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, die auch Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind. Auch wir tragen in hohem Maße für dieses Europa Verantwortung. Daher müssen wir Europa parlamentarisieren. Wir müssen unser Parlament europäisieren.
Auf diesem Weg sind wir mit der Vereinbarung gemeinsam einen großen Schritt vorangekommen.
Auch das ist im parlamentarischen Alltag selten. Aber es ist folgerichtig. Wenn Parlamentsrechte unmittelbar berührt sind, dann sollten die traditionellen Linien zwischen der Opposition einerseits und der Koalitionsmehrheit andererseits verschwimmen.
Ich danke daher ausdrücklich den Kollegen Rainder Steenblock, Markus Löning, Alexander Ulrich, Thomas Silberhorn, Michael Stübgen und Axel Schäfer. Ich danke auch den Vertretern der Bundesregierung, Staatsminister Günter Gloser und Staatssekretär Peter Hintze, die für die Bundesregierung die Verhandlungen führten. Bei ihnen hat man das parlamentarische Herz noch sehr stark schlagen gehört; auch das hat sicherlich zum Erfolg der Beratungen beigetragen.
Dank gilt aber auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die im Hintergrund engagiert und hoch kompetent zum Erfolg beitrugen.
Der europäische Gesetzgebungsprozess ist bislang stark von der Exekutive geprägt; im Rat sitzen Ministerinnen und Minister. Unser Auftrag ist es, innerstaatlich deren Handeln zu kontrollieren und Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Zukünftig werden die Informationsrechte des Bundestages erheblich ausgeweitet. Alle Bundestagsabgeordneten haben Zugang zu allen Dokumenten und Berichten der EU-Kommission, des Rates und der Bundesregierung. Endlich befinden wir uns mit dem Bundesrat auf einer Augenhöhe. Die im Verhältnis zum Bundestag bedenklich starke Position der Länderregierungen, zugrunde gelegt im Art. 23 Grundgesetz, war, ist und bleibt für uns ein Ärgernis. Daran hat auch die Föderalismusreform substanziell nicht viel geändert.
Im Bereich der originären Bundeszuständigkeiten - Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Handelspolitik - verfügen wir zukünftig über mehr Informationsrechte als der Bundesrat. Stellungnahmen des Bundestages werden verbindliche Grundlage für die Verhandlungen der Bundesregierung im Rat. Abweichen kann die Bundesregierung nur dann, wenn sie es mit außen- oder integrationspolitischen Gründen zu rechtfertigen vermag. Die Bundesregierung ist verpflichtet, Rechenschaft gegenüber dem Bundestag abzulegen. Bei grundlegenden europäischen Weichenstellungen - Eröffnung von Beitrittsverhandlungen, Vertragsänderungsverfahren - muss sich die Bundesregierung um ein Einvernehmen mit dem Bundestag bemühen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gefällt nicht allen. Einige Kommentatoren sprechen von neuer Blockade in der Europapolitik. Ein vermessener Vorwurf! Kann man von Blockaden sprechen, wenn der Bundestag zu einer besseren Gesetzgebung beizutragen versucht? Kann man von Blockaden sprechen, wenn wir nicht erst bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht, sondern schon bei deren Erarbeitung Einfluss zu nehmen versuchen? Kann man von Blockaden sprechen, wenn Abgeordnete die Europapolitik des Bundes auf ein breiteres Fundament stellen? Parlamente sind kein überflüssiges Beiwerk, kein Sahnehäubchen, sondern das Fundament unserer Demokratie.
Die Beratungen über die Dienstleistungsrichtlinie zeigen auf eindrucksvolle Weise, wie frühzeitige und umfassende Mitwirkung von Abgeordneten zu besserer Rechtsetzung führen kann. Lassen wir diesem Beispiel weitere folgen!
Wir übernehmen zukünftig verstärkt Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Schutzbehauptung einzelner von uns, man habe nichts gewusst und nichts gehört, gilt nicht länger. Diese Verantwortung verpflichtet uns zu größerem Einsatz, größerer Aufmerksamkeit, größerer Sorgfalt und größerer Wertschätzung gegenüber den Europapolitikerinnen und -politikern im ganzen Hause.
Europa darf auch nicht länger nur Angelegenheit der Mitglieder des Europaausschusses sein. Wir brauchen den Sachverstand aller Fachpolitikerinnen und -politiker. Außerdem müssen dieser Vereinbarung weitere Schritte folgen: mehr europapolitische Kompetenz in der Bundestagsverwaltung und in unseren Fraktionen, Änderungen der Geschäftsordnung, die die Zusammenarbeit zwischen Fachausschüssen und EU-Ausschuss verbindlicher regeln, sowie ein Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel, nicht in Konkurrenz, sondern in Partnerschaft zu unserer ständigen Vertretung der Bundesrepublik. Dies sollten wir selbstbewusst nach außen vertreten; schließlich folgen wir damit dem Beispiel fast aller nationalen Parlamente in der Europäischen Union.
Wir brauchen eine noch engere Kooperation mit dem Europäischen Parlament in der Gesetzgebung. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, einen kontinuierlichen Kontakt zu unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament zu halten. Dennoch ist dies notwendig, um die Rechtsetzung zu verbessern. Außerdem brauchen wir hier im Bundestag regelmäßigere Plenardebatten zu aktuellen europapolitischen Projekten.
Wir brauchen schlussendlich eine EU-Verfassung. Wir brauchen eine europäische Verfassung, weil sie Europa handlungsfähiger und demokratischer macht und weil sie den nationalen Parlamenten weitere Mitwirkungsrechte eröffnet.
Niemand von uns sollte sich der Illusion hingeben, dass auf einen Schlag alles besser wird. Aber es gilt nun die großartige Chance zu nutzen, die uns die zur Diskussion stehende Vereinbarung eröffnet. Auch wenn es heute nicht danach aussehen mag - wir beraten ja in überschaubarer Runde -, könnte diese Vereinbarung durchaus einen bedeutenden Platz im Geschichtsbuch des Parlamentarismus in Europa finden. Allein, es liegt in unserer Hand.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDP-Fraktion.
Markus Löning (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir als ersten Satz aufgeschrieben - so ähnlich hat es auch der Kollege Roth gerade formuliert -: Das wurde Zeit. Seit 1993 existiert eine solche Vereinbarung zwischen Bundesrat und Bundesregierung. Zwar möchte ich mich dem berechtigten Lob meiner Vorredner aus vollem Herzen anschließen und hinzufügen, dass wir, die Opposition, von den Koalitionsfraktionen und den Mitgliedern der Bundesregierung, die das verhandelt haben, sehr fair behandelt wurden. Dafür gebührt ihnen unser Dank, insbesondere den Herren mit den zwei Herzen in der Brust, Herrn Gloser und Herrn Hintze.
Dennoch möchte ich kritisch fragen - diese Frage stellt sich für mich leicht, weil ich dem Bundestag erst seit 2002 angehöre -, was mit den Kollegen eigentlich los gewesen ist, die seit 1993 dabei sind und die gewusst haben, dass der Bundesrat und die Bundesregierung eine solche Vereinbarung beschlossen haben. Welches Selbstverständnis hatte der Deutsche Bundestag in den letzten Jahren? Wir, die Abgeordneten, sollten uns also nicht nur lobend äußern, sondern auch deutlich machen, dass so etwas nicht wieder passieren darf. Der Bundestag braucht in Zukunft deutlich mehr Selbstbewusstsein. Das ist auch das richtige Stichwort im Hinblick auf diese Vereinbarung.
In der Substanz stimmen wir alle der Vereinbarung zu. Nun muss diese Vereinbarung aber auch umgesetzt werden. Dabei wird es verstärkt darauf ankommen, dass nicht nur wir als Fachabgeordnete, die Europapolitiker, uns damit beschäftigen, sondern dass auch in den Fachbereichen und den Fachausschüssen - egal ob es nun die Bereiche Arbeit, Inneres, Justiz oder Finanzen sind; ich begrüße es deshalb außerordentlich, dass die Bundesregierung mit einer ganzen Reihe von Fachministern vertreten ist - an den europapolitischen Vorlagen zu einem Zeitpunkt gearbeitet wird, zu dem wir noch Einfluss nehmen können. Wir müssen unsere Arbeitsweise umstrukturieren und früher in die Prozesse eingreifen. Ich appelliere insbesondere an die Koalitionsabgeordneten: Haben Sie die Traute, der Bundesregierung zu sagen, in welche Richtung sie marschieren soll! Es wird darauf ankommen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, dass Sie der Bundesregierung gegebenenfalls die Leviten lesen und sagen: Wir, die Parlamentarier, bestehen darauf, dass es behandelt wird und dass ein bestimmter Beschluss gefasst wird. - Sie können sich darauf verlassen, dass wir, die Opposition, das auf jeden Fall machen werden.
Die große Chance der Vereinbarung besteht in zwei Dingen. Zum einen wird das Demokratiedefizit in Europa ein Stück weit abgebaut. Wir haben immer beklagt, dass Europa zu undemokratisch ist und dass die Parlamentarier zu wenige Mitspracherechte haben. Das ändern wir mit dieser Vereinbarung. Die Parlamentarier können wieder mitreden, und zwar dann, wenn sie die Entscheidungen noch beeinflussen können.
Zum anderen versetzt uns die Vereinbarung in die Lage - das halte ich für fast noch wichtiger -, Debatten in Europa, die bislang mehr oder weniger unter Ausschluss der nationalen Öffentlichkeit geführt werden, in den Fokus der nationalen Öffentlichkeit zu rücken. Wir können Europaangelegenheiten im Deutschen Bundestag thematisieren und so die Aufmerksamkeit der deutschen Bürger und der deutschen Medien darauf lenken. Wir können hier Europaangelegenheiten, über die bislang in Brüssel hinter verschlossenen Türen beraten wurde, thematisieren, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem wir noch Einfluss ausüben können.
Wir tragen eine große Verantwortung, das auch zu tun. Nur wenn für die Bürger deutlich wird, dass wir zu einem Zeitpunkt mitreden können, zu dem noch ein Eingreifen möglich ist, werden wir in der Lage sein, die Europamüdigkeit der Bürger zu bekämpfen und den Bürgern zu zeigen, dass man bei Europa mitreden kann. Man kann es vielleicht auf folgenden Nenner bringen: Es wird unsere Aufgabe sein, anhand dieser Vereinbarung in den nächsten Jahren das Raumschiff Brüssel dazu zu bringen, öfter hier in Berlin auf dem harten Boden der Realität zu landen und sich hier mit den Tatsachen vor Ort auseinander zu setzen. Ich glaube, das ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe, die in den nächsten Jahren auf uns zukommt.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann mit Blick auf die nicht übermäßige Präsenz vielleicht auch formulieren, dass unsere Kolleginnen und Kollegen, die jetzt nicht hier sind, ein derartig fundamentales Vertrauen in uns haben, dass sie wissen, dass wir das vernünftig und richtig hinbekommen, und sie sich den wichtigen tagespolitischen Aktivitäten widmen können.
Wenn wir diese Zusammenarbeitsvereinbarung, über die wir jetzt beraten und die Gegenstand unseres Antrags ist, verabschieden und wenn sie in Kraft tritt, ist das eine entscheidende Wegmarke in einem ungefähr 15 Jahre währenden Prozess. Wir haben in Deutschland und in Europa mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages 1992 endgültig die Wende von Außenpolitik in Europa zu europäischer Innenpolitik eingeleitet. Während des Zeitraums der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages hat sich der Bundesrat richtigerweise - darauf ist schon hingewiesen worden - umfassende Informations- und Mitwirkungsrechte bei der europäischen Rechtsetzung gesichert. Der Bundestag hat sich damals bei der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages - ich war damals nicht nur dabei, sondern auch Berichterstatter - deutlich weniger Informationsrechte und faktisch keine Mitwirkungsrechte gesichert.
Man könnte lange darüber spekulieren, warum das so ist und warum es fast 15 Jahre gedauert hat, bis wir eine Zusammenarbeitsvereinbarung, die der des Bundesrates gleichwertig ist, abschließen konnten. Auf jeden Fall war es so, dass dieses Thema in den Ausschüssen des Bundestages immer wieder beraten worden ist. Das geschah aber nach dem klassischen Schnittmuster, das wir bei vielen wichtigen Themen kennen. So haben SPD-Fraktion und Grüne dieses Thema immer wieder aufgegriffen, aber sie haben 1999 gänzlich den Mut verloren, nachdrückliche Forderungen zu stellen. Ich muss zugeben, dass auch CDU/CSU und FDP diesen Mut, etwas zu fordern, erst 1999 gewonnen haben. Es ist nun einmal einfacher, aus der Opposition heraus Forderungen zu stellen, als wenn man Verantwortung in der Regierungskoalition trägt. Ich sage das deshalb, weil ich unterstreichen möchte, von welch besonderer Bedeutung die Tatsache ist, dass dieser Zusammenarbeitsvereinbarung, die wir heute beschließen, von allen Fraktionen dieses Hauses zugestimmt worden ist. Ich glaube, das ist ganz entscheidend für die Qualität dieser Vereinbarung.
Wir werden mit dieser Vereinbarung neue Wege in der Europapolitik und der Befassung mit Europapolitik in diesem Bundestag gehen. Wir werden in Zukunft ein allumfassendes Informationsrecht für alle europäischen Belange haben. Wir werden alle Dokumente und Berichte der Gemeinschaftsorgane, der Kommission und ihrer Dienststellen, des Rates und seiner Arbeitsgruppen, und auch die Dokumente der ständigen Vertretung in Brüssel zu allen europäischen Aktivitäten bekommen. Wir werden sie sehr frühzeitig bekommen, nämlich nach spätestens zehn Tagen. Sofern es sich um Rechtsetzungsakte handelt - das ist ein Punkt, der mir bei den Verhandlungen besonders wichtig war -, werden wir innerhalb dieser zehn Tage von der Bundesregierung eine umfassende Folgenabschätzung, eine Prüfung der Rechtsgrundlage und eine Subsidiaritätsprüfung bekommen. Das ist deshalb wichtig, weil wir im Gegensatz zum Bundesrat nicht die Expertise haben, das alles in unserem Haus mit unseren Referenten und Ausschusssekretariaten prüfen zu können. Wir werden in Zukunft die Möglichkeit haben, auf die Expertise der Bundesregierung und ihrer Europaexperten zurückzugreifen. Es ist wichtig, dass wir uns auch in diesem Fall umfassend informieren können.
Es wird in einem zweiten Kernbereich eine entscheidende Weichenstellung geben. Es geht um unsere Mitwirkungsrechte. Jeder weiß, dass in Art. 23 Grundgesetz Mitwirkungsrechte für den Deutschen Bundestag definiert sind. Jeder von uns weiß auch, wie sie in den letzten 15 Jahren angewandt oder eher nicht angewandt worden sind. Wir schaffen mit dieser Vereinbarung nun Kernbereiche, in denen der Deutsche Bundestag stärker als bisher und eindeutiger als bisher bei der europäischen Rechtsetzung mitwirken kann. Ich will kurz auf drei Kernbereiche eingehen.
Wenn der Deutsche Bundestag in Zukunft nach Art. 23 des Grundgesetzes einen Beschluss zu einem europäischen Rechtsetzungsvorhaben fasst, dann wird dieser Beschluss von der Bundesregierung nicht nur zu berücksichtigen sein, wie das bisher der Fall ist, sondern dieser Beschluss wird für die Bundesregierung eine verbindliche Grundlage für ihre Verhandlungen bei den europäischen Räten sein. Wir führen in diesem Zusammenhang ein neues Instrument ein, das auf unsere Beschlussfassung folgt. Wenn die Bundesregierung bei ihren Beratungen in den europäischen Räten die wesentlichen Grundlagen unseres Beschlusses nicht umsetzen kann, was natürlich vorkommen kann, dann wird sie einen Parlamentsvorbehalt einlegen und sich bemühen, vor der endgültigen Beschlussfassung im Europäischen Rat Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. Das heißt, wir werden in jedem Fall die Möglichkeit haben, uns mit den neuen Rahmenbedingungen hier im Bundestag zu befassen und uns eine eigene Meinung zu bilden.
Bei einem anderen Schwerpunkt geht es um, wie ich es nenne, politisch schwerwiegende Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union. Ein Beispiel ist die so genannte Passerelle. Das heißt, der Europäische Rat kann einstimmig beschließen, dass in bestimmten Politikbereichen der Europäischen Union nicht mehr Einstimmigkeit erforderlich ist, sondern die Mehrheitsentscheidung genügt. Solche Entscheidungen sind politisch deutlich brisanter, als auch ich mir das vor 15 Jahren noch vorgestellt habe, als dieses Verfahren eingeführt wurde. Es geht dabei nämlich darum, dass die Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit verliert, und zwar endgültig, in diesen Politikbereichen durch ein Veto irgendeine europäische Rechtsetzung, die dann ja auch für Deutschland verbindlich ist, aufzuhalten.
Die Bundesregierung hatte auf der Grundlage der alten Zusammenarbeitsvereinbarung bisher die Auffassung, dass es für diese Vorhaben keine besondere Information des Bundestages und auch kein Mitentscheidungsrecht des Bundestages gebe, weil nämlich alle diese Möglichkeiten schon bei der Ratifizierung von europäischen Verträgen ziemlich genau festgelegt worden seien, allerdings pauschal. Wir legen in dieser Vereinbarung nun fest, dass es sich dann, wenn solche Vorhaben beraten werden, um Vorhaben im Sinne dieser Vereinbarung handelt. Das heißt, wir werden allumfassende Informationsrechte und die vollen Mitwirkungsrechte haben. Es wird eine öffentliche Debatte dazu geben, sodass auch die Bürger von solch entscheidenden Vorhaben mehr erfahren.
In einem weiteren Bereich geht es darum, dass die Europäische Union bestimmte Beschlüsse fasst, der Europäische Rat zum Beispiel Beitrittsverhandlungen mit einem assoziierten Land oder Vertragsveränderungsverhandlungen aufnimmt. Wir alle wissen, dass eine solche Entscheidung im Vorhinein viel wichtiger ist als letztlich die Ratifizierung, bei der wir nur noch Ja oder Nein sagen können und faktisch - jedenfalls in der Koalition - eigentlich gar nicht mehr Nein sagen können. Entscheidend ist, dass wir vor solchen Beschlüssen damit befasst werden.
Hierzu wird geregelt, dass die Bundesregierung in Zukunft vor Beginn von Beitritts- oder Vertragsveränderungsverhandlungen versucht, Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen. Auch hierzu werden wir eine öffentliche Debatte haben. Hierüber können wir uns ebenfalls eine Meinung bilden. Sowohl die Bundesregierung als auch wir werden der Öffentlichkeit gegenüber Rechenschaft darüber ablegen müssen und können, warum wir uns für oder gegen solche Entscheidungen aussprechen.
Diese Zusammenarbeitsvereinbarung wird fundamentale Auswirkungen auf unsere tägliche Arbeit, auf die Arbeit eines jeden Kollegen haben.
Es wird sich zum Beispiel die Menge an Informationen, die uns zur Verfügung stehen, sehr stark verändern. Wir werden in Zukunft eine Informationsflut bekommen, die mir manchmal schon Angst macht. Vor allen Dingen wird für uns wichtig sein, dass wir in der Lage sind, die wirklich wichtigen und entscheidenden Informationen rechtzeitig herauszufiltern und mit ihnen zu arbeiten, um Einfluss auf die europäische Rechtsetzung nehmen zu können.
Ich sage es unumwunden: Wir brauchen, und zwar möglichst bald, eine Datenbank für diese Informationen. Ich weiß, der Bundesrat hat viele Jahre an solch einer Datenbank gearbeitet. Es handelt sich dabei auch um ein sehr komplexes und kompliziertes Verfahren. Ich will dazu nur sagen: Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, gemeinsam mit dem Bundesrat kollegial solch eine Datenbank zu nutzen. Symbolisch ist das auch sehr vernünftig, weil wir beide ja die Verfassungsorgane sind, die über europäische Rechtsetzung mitentscheiden können.
Es wird aber auch etwas Positives passieren. Ich glaube, fast jeder von Ihnen hat schon das frustrierende Erlebnis gehabt, dass man Berichterstatter für einen Richtlinienvorschlag der Europäischen Union geworden ist, sich dann intensiv damit beschäftigte, aber dann, wenn man aufs Datum schaute, oft merkte, dass die Richtlinie zwei bis drei Jahre alt war und in den europäischen Gremien schon längst umgesetzt worden war. Trotzdem wurde darüber beraten und man musste sich intensiv damit beschäftigen. Zum Schluss konnte man nur noch mutig ?Kenntnisnahme“ empfehlen. Diese frustrierenden Erlebnisse werden der Vergangenheit angehören. Wir sind jetzt in der Lage, uns bei Rechtsetzungsvorhaben zu einem sehr frühen Zeitpunkt in die Beratungen einzumischen. Wir werden in der Lage sein, europäische Rechtsetzung mitzugestalten. Wir müssen dies aber auch tun.
Wenn wir uns in Zukunft nicht bewegen, wird sich auch in der Art und Weise der Behandlung der Europapolitik nichts ändern.
Das heißt, diese Zusammenarbeitsvereinbarung gibt uns die Möglichkeit, Europapolitik mitzugestalten. Unsere Aufgabe ist es, dies dann auch zu tun. Wir werden also in Zukunft hoffentlich die Lust haben, europäische Politik direkt mitzugestalten. Wir werden aber auch die Last haben, dass sich das Ausmaß des Aufwands von jedem Einzelnen von uns für die Beschäftigung mit europäischer Politik massiv ausweiten wird.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun hat Kollege Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke, das Wort.
Alexander Ulrich (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner haben darauf hingewiesen, dass die Anwesenheit der Abgeordneten bei diesem doch wichtigen Thema sehr bescheiden ist. Es steckt vielleicht auch eine gewisse Symbolik dahinter, dass mehr Zuschauer, die ich ganz herzlich begrüße, als Abgeordnete da sind. Es zeigt nämlich, dass scheinbar die Menschen in diesem Land mehr Interesse an Europa haben, als der Bundestag bisher an den Tag gelegt hat. Das zeigt mir aber auch - Herr Löning, auch Sie haben das ja kritisiert -, warum es so lange gedauert hat, bis es zu dieser Vereinbarung gekommen ist.
- Wir beide waren nicht dabei; da gebe ich Ihnen Recht. - Es ist aber auch wichtig, festzuhalten, dass mit dieser Vereinbarung, die wir heute verabschieden, der Aufruf an uns alle ergeht, sie mit Leben zu erfüllen. Wir haben monatelang um diesen interfraktionellen Antrag gerungen, über ihn verhandelt und auch gestritten. Es kommt jetzt wirklich darauf an, wie die einzelnen Abgeordneten diese erweiterten Rechte des Bundestages wahrnehmen. Nur dann, wenn das geschieht, entfaltet diese Vereinbarung eine langfristige Wirkung.
Wir von der Fraktion Die Linke begrüßen die vorliegende Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Verbesserung der Europatauglichkeit dieses Hauses. Es gibt jedoch - das ist angemerkt worden - bereits seit 1993 eine ähnliche Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Länderregierungen. Der 15. Deutsche Bundestag hatte bereits ein verstärktes Mitwirkungsrecht in EU-Angelegenheiten angemahnt. Wahrscheinlich musste jedoch erst die Linke in den Bundestag einziehen - das ist jetzt etwas scherzhaft gemeint -, um den notwendigen Rückenwind für das Gelingen dieser Vereinbarung zu geben.
Es ist gut, dass es in den Verhandlungen nicht um Partei- und Fraktionsinteressen ging, sondern uns die Rechte des Bundestages so wichtig waren, dass ein interfraktionelles Handeln möglich wurde.
Die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung ist ein zentraler Baustein für eine stärkere Einbeziehung des Bundestages in Fragen der Europapolitik. Der Auftrag des Grundgesetzes, das gesetzgeberische Handeln der Bundesregierung im Europäischen Rat zu legitimieren, soll damit weitaus besser als bisher abgesichert werden.
Es geht nicht darum - darin sind sich alle Fraktionen einig -, neue Blockaden in der Europapolitik zu errichten. Vielmehr geht es darum, die Europapolitik des Bundes auf eine breitere Grundlage zu stellen und innerstaatlich zu einer besseren Gesetzgebung der Europäischen Union beizutragen.
Was ist das Neue an der Vereinbarung? Die Informationsrechte des Bundestages werden erheblich ausgeweitet, das heißt, die bisherige Informationspraxis wird um schriftliche Berichte, Bewertungen und Folgenabschätzungen ergänzt. Darüber hinaus geht eine Initiative der Europäischen Kommission in dieselbe Richtung. Die nationalen Parlamente sollen und müssen stärker in die Konzipierung und Durchführung der EU-Politik eingebunden werden.
Diese Einbeziehung des Bundestages ist wichtig und ein Fortschritt, gerade in Anbetracht der deutschen Ratspräsidentschaft, die auch eine Präsidentschaft des Bundestags sein sollte.
Neu ist außerdem, dass die Stellungnahmen, die das Parlament gemäß Art. 23 Grundgesetz abgeben kann, verbindliche Grundlage für die Verhandlungen der Bundesregierung im Europäischen Rat sein werden. Die Bundesregierung darf nur aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen von den Stellungnahmen abweichen. Der Bundestag wird somit zu einem neuen, besseren politischen Akteur in der europäischen Gesetzgebung und er wird bei Entscheidungen von grundlegender Bedeutung stärker einbezogen.
Die Bundesregierung ist nun verpflichtet, sich vor der Eröffnung von Vertragsänderungsverfahren oder Beitritten um Einvernehmen mit dem Parlament zu bemühen. Auch wenn ich nicht glaube, dass die Regierungsfraktionen ihre erweiterten Rechte immer und tatsächlich nutzen werden, wird sich die Fraktion Die Linke auch weiterhin aktiv in die Gestaltung der Europapolitik einbringen.
Um die Vorfeldbeobachtung in Brüssel zu gewährleisten, wird eine Vertretung des Bundestages in Brüssel errichtet. Jede Fraktion wird Beschäftigte nach Brüssel entsenden. Vielen Dank auch an die Haushälter für die zusätzlichen finanziellen Mittel!
Verglichen mit anderen Mitgliedstaaten reagiert Deutschland auf die enorme Wichtigkeit der Europapolitik aber sehr spät. Wir gehören zu den Nachzüglern: Großbritannien, Schweden und Finnland verfügen bereits seit Jahren über gut ausgebaute, effektive Strukturen in Brüssel. Ich möchte hier nur Dänemark erwähnen. Dort wurden die Beteiligungsrechte des Parlaments bereits 1973 im Gesetz über den Beitritt zur EWG niedergelegt. Die Union der 25 - bald 27 - Mitgliedstaaten muss handlungsfähig bleiben. Die Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger von Europa ist groß. Das zeigt sich nicht nur in der Ablehnung des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden.
Fakt ist, Europa geht in die falsche Richtung: weniger friedlich, weniger sozial und ohne grundlegende Demokratisierung. Mehr als 60 Prozent der Gesetzesinitiativen haben ihren Ursprung in Brüssel. Dem deutschen Bürger verbleiben maximal 40 Prozent an demokratischer Einflussnahme. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner berühmten Maastrichtentscheidung die besondere Bedeutung der Parlamente der Mitgliedstaaten für die demokratische Legitimation europäischer Politik hervorgehoben - ich zitiere -:
Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben.
Dem wird der Bundestag bisher nicht gerecht. Vielmehr werden die Bürgerinnen und Bürger systematisch entmündigt und sie büßen politische Macht und Möglichkeiten ein.
Gerade die sozialen Bedürfnisse der europäischen Bevölkerung werden ständig ignoriert. Als Beispiel nenne ich bloß die Dienstleistungsrichtlinie, die dem Sozialdumping Tür und Tor öffnen wird. Im Europa der 25 hat sich ein dramatisches Gefälle im Wohlstands- und wirtschaftlichen Entwicklungsniveau abgezeichnet. Gerade einmal die Hälfte der neuen Mitgliedstaaten erzielt ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von mehr als 50 Prozent des EU-15-Durchschnitts.
Von einer Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen auf europäischer Ebene ist man, vom derzeitigen Stand aus gesehen, sehr weit entfernt. Für die Bürgerinnen und Bürger existiert sie praktisch nicht. Die EU braucht eine demokratische und handlungsfähige Struktur, das bedeutet, sie braucht nicht mehr undurchschaubare bürokratische Prozesse, sondern transparente, für jeden Bürger nachvollziehbare Entscheidungen.
Neben der verbesserten Beteiligung des Bundestages müssen wir bei wichtigen europäischen Fragen aber auch die Bevölkerung einbeziehen.
Wir müssen beim Thema Europa mehr direkte Demokratie wagen und die Bevölkerung zum Beispiel über eine veränderte EU-Verfassung in einer Volksabstimmung entscheiden lassen.
Ich begrüße ausdrücklich, dass heute in der ?Financial Times Deutschland“ steht: Merkel offen für geänderten EU-Vertrag. Ich wünsche mir, dass auch die anderen Fraktionen im Europaausschuss sagen: Dieser EU-Vertrag muss geändert werden; er muss dem Volk in einer Volksabstimmung vorgelegt werden.
Wir, die Linke, fordern, die Politik der geschlossenen Türen zu beenden. Wer die europäische Krise beenden will, muss die Angst vor den Bürgerinnen und Bürgern ablegen. Wir brauchen ein europäisches Bewusstsein bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Einen ersten kleinen Schritt in diese Richtung geht der Deutsche Bundestag mit der heute zu beschließenden Vereinbarung. Dies ist übrigens die erste und bisher einzige interfraktionelle parlamentarische Initiative in dieser Legislaturperiode. Wir begrüßen diese Vereinbarung ausdrücklich und bedanken uns für die konstruktive Zusammenarbeit mit den beteiligten Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen, in der Bundesregierung und aus der Verwaltung.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute ist ein guter Tag für die Demokratie in Deutschland. Denn wann haben wir in diesem Hohen Hause schon einmal die Gelegenheit, neue Rechte, die sich das Parlament gegen die Exekutive erkämpft hat, zu feiern? Das ist selten; ich weiß nicht, wie oft das in den letzten 20 bis 30 Jahren vorgekommen ist.
Man kann die vorliegende Vereinbarung sicherlich nicht hoch genug einschätzen. Sie ist ein Lehrstück dafür, wie man demokratische Errungenschaften wie die Entscheidungs-, Beteiligungs- und Informationsrechte für die vom Volk direkt gewählten Abgeordneten verankern kann. Allerdings muss man ehrlicherweise zugeben, dass diese Vereinbarung nicht nur aus der Kraft des Parlaments geboren wurde. Sie ist auch das Ergebnis einer historischen Konstellation, bei der alle Fraktionen sehr entschieden und engagiert in die gleiche Richtung gearbeitet haben.
Wie gesagt, die Situation, um zu dieser Vereinbarung zu kommen, war günstig: Die Unionsfraktion hatte sich, als sie noch in der Opposition war, in dieser Frage mit einem Papier ausgesprochen weit aus dem Fenster gelehnt; das hätte sie in der Regierungsverantwortung nie gemacht. Auch nach den Neuwahlen - die Entscheidung des damaligen Kanzlers für Neuwahlen haben wir nicht unbedingt begrüßt - war den vier Mitgliedern des Europaausschusses, die an diesem Papier mitgearbeitet hatten und die dann in die Regierung wechselten, dieses Papier noch im Kopf. Diese Situation mussten wir nutzen und wir haben sie genutzt. Dafür möchte ich mich bei den ehemaligen Mitgliedern des Europaausschusses und jetzigen Regierungsmitgliedern Günter Gloser, Peter Altmaier, Peter Hintze und Gerd Müller bedanken.
Nach meiner anderthalbjährigen Mitarbeit in der Föderalismuskommission und nach meiner Mitarbeit an dieser Vereinbarung weiß ich, wie schwer es ist, Rechte von Volksvertretern zu verankern, und wie weit wir schon auf dem Weg in eine Exekutivrepublik sind, in der es Parlamentarier schwer haben, auf Augenhöhe mit der Regierung zu sein.
Lassen Sie uns diesen Erfolg als Beispiel dafür nehmen, wie wir unsere Rechte als Parlamentarier einfordern können. Denn wir sind es, die vor den Bürgerinnen und Bürgern für die getroffenen Entscheidungen gerade zu stehen haben.
Eine Bemerkung zur Ausstattung der Abgeordneten, über die wir in letzter Zeit häufig diskutiert haben. Angesichts unserer Arbeit, die wir zu leisten haben, und angesichts der Informationspflichten, die durch diese Vereinbarung neu auf uns zukommen, müssen wir eine andere Mitarbeiterstruktur haben, um entscheidungsfähig zu sein.
Deshalb finde ich es richtig, wenn sich ein Parlament aus seiner Verantwortung heraus, begründete Entscheidungen zu fällen, die aufgrund von Sachkompetenz zustande kommen, in der Öffentlichkeit auch in diesen Fragen stark macht und sagt: Wir sind es, die hier die Entscheidungen fällen und die Regierung kontrollieren. Lassen Sie uns da weitermachen!
Die Einzelheiten der von uns getroffenen Vereinbarung will ich, da Sie diese schon von meinen vier Vorrednern gehört haben, nicht ein fünftes Mal erwähnen. Ich möchte vielmehr an fünf Punkten deutlich machen, was wir jetzt tun müssen, um diese Vereinbarung mit Leben zu erfüllen.
Der erste Punkt ist: Wir müssen die Debattenkultur europäisieren. Die Europäische Union legt jedes Jahr im Frühjahr ein Strategieprogramm vor, in dem die langfristigen Strategien der Europäischen Union aufgezeigt werden. Ich bin sehr dafür, dass dieses Strategieprogramm eine Grundlage unserer europapolitischen Arbeit wird und wir jedes Jahr im Frühjahr, wenn dieses Strategieprogramm der Europäischen Union veröffentlicht wird, im Deutschen Bundestag eine Debatte dazu führen, damit es nicht untergeht, sondern in den politischen Raum der nationalen Parlamente gehoben wird. Das halte ich für ein wichtiges Moment, um handlungsfähig zu werden.
Der zweite Punkt betrifft das Legislativprogramm. Das Legislativprogramm, also die Gesetzgebungsvorhaben der Europäischen Union, wird, ohne dass viele Fachkollegen es merken - das ist kein Vorwurf; ich kenne die Arbeit in den Fachausschüssen gerade im Verkehrsbereich und im Finanzbereich aus eigener Erfahrung; ich weiß, wie man da mit Papier zugeschüttet wird -, immer im Spätherbst veröffentlicht. Ich bin sehr dafür, dass wir dieses Legislativprogramm ernsthaft durch alle Ausschüsse jagen und sich die Fachleute aller Ausschüsse zu diesem Legislativprogramm der Europäischen Union verhalten müssen, um dann nicht hinterher sagen zu können: Wir haben diese Vorlagen viel zu spät erhalten. Wir müssen uns selber disziplinieren, diese Vorlagen ernst nehmen und rechtzeitig darüber diskutieren.
Der dritte Punkt, den ich vorschlagen möchte und der im Rahmen der Verhandlungen zwischen den Fraktionen schon zur Diskussion gestellt worden ist, ist die Einführung einer Europafragestunde. Das heißt, in bestimmten Abständen, zum Beispiel jedes Vierteljahr, soll die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ganz konzentriert zu europapolitischen Fragen befragt werden. Ich glaube, das wäre eine Möglichkeit, die europapolitischen Themen besser in unsere Arbeit zu integrieren und mit der Bundesregierung ad hoc in einen Dialog zu treten. Der dritte Vorschlag, eine Europafragestunde einzuführen, ist gut praktikabel. Diesen Vorschlag sollten wir zur Erhöhung unseres eigenen Informationsstandes vernünftigerweise rasch umsetzen.
Der vierte Punkt ist ein technischer, den wir klären müssen. Ziel ist - das begrüße ich sehr -, dass in der konkreten Arbeit in den Fachausschüssen mehr über Europa und europäische Vorhaben diskutiert wird. Wir müssen sehen, wie wir in den Fachausschüssen vorgehen - in einigen Ausschüssen gibt es schon Unterausschüsse zu europarechtlichen Fragen; ob das immer das beste Medium ist, um diese Fragen im Ausschuss zu behandeln, müssen die Fachausschüsse sicherlich selber entscheiden; es ist auch darüber nachzudenken, ob feste Tagesordnungspunkte zu europarechtlichen Fragen festgelegt werden -, um das, was wir hier erreicht haben, nicht versickern zu lassen. Denn das Schlimmste, was passieren kann, ist - einige Kollegen haben das schon angesprochen -, dass wir zwar jetzt Rechte haben, wir aber nach einem Jahr oder nach zwei Jahren, wenn ein kluger Journalist recherchiert haben wird, wie wir diese wahrgenommen haben, aufgrund dieser öffentlichen Recherchen feststellen müssen, dass wir von unseren Rechten zu wenig Gebrauch gemacht haben.
Deshalb stehen wir in der Verpflichtung, die Europaarbeit insbesondere in die Ausschussarbeit zu implementieren. Wir müssen dabei die Arbeit des Europaausschusses als Koordinationsgremium und die konkrete Arbeit in den Fachausschüssen neu justieren. Das ist ein ganz praktischer Ansatz. Ich glaube, wenn wir keine gute Konstellation zwischen den Ausschüssen hinbekommen, sondern Hakeleien einbauen, dann werden wir es eher mit Konkurrenzsituationen zu tun haben, als dass wir in der Sache vorankommen.
Ein letzter Punkt; er ist vom Praktischen her der wichtigste. Wir müssen unsere Bundestagsverwaltung in die Lage versetzen, dass sie uns in die Lage versetzt, vernünftige Arbeit zu machen.
Es wurden bereits viele Vorarbeiten geleistet, an denen auch die Fraktionen beteiligt waren. Herr Vizepräsident, Sie haben in Ihrer Zeit als Bundestagspräsident im Rahmen der Strukturierung der neuen Europaabteilung viele Erfahrungen gemacht. Dieses Vorhaben begleiten Sie auch weiterhin.
Ich möchte mich an dieser Stelle sehr deutlich für eine möglichst wenig ausdifferenzierte Verwaltungsstruktur aussprechen. Es sollte vermieden werden - das möchte ich deutlich sagen -, dass einzelne Einheiten der Verwaltung gegeneinander arbeiten können. Das ist zwar kein großes, öffentliches Thema, aber eine Verwaltungsstruktur, die mit internen Abgrenzungsproblemen oder Kompetenzrangeleien beschäftigt ist, kann uns in unserer Arbeit sehr stark behindern. In diesem Zusammenhang ist auch die Integration des Brüsseler Büros ein wichtiger Punkt.
Ich sage das zum Abschluss, weil ich den Verhandlungsprozess mit Herzblut begleitet habe und davon überzeugt bin, dass wir hierbei vorankommen müssen. Dieser Deutsche Bundestag hat diese Vereinbarung meiner Ansicht nach verdient, weil hier hoch kompetente Leute sitzen, die darauf warten, an die entscheidenden Schalthebel zu kommen, die inzwischen immer häufiger auf europäischer Ebene angesiedelt sind.
Solange das Europäische Parlament nicht die Möglichkeit hat, die demokratische Kontrolle in Gänze zu realisieren - wir Grünen haben das immer gefordert -, so lange müssen die nationalen Parlamente sehr viel mehr Arbeit übernehmen. Ich hoffe, dass wir das zusammen hinbekommen.
Diese Vereinbarung ist ein guter Ansatz zur Stärkung von Parlamentsrechten und zur Stärkung der europäischen Arbeit. Dieser Deutsche Bundestag kann dadurch in Bezug auf die Lösung seiner Aufgaben zukunftsfähiger werden. Ich wünsche uns allen viel Erfolg dabei.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Als nächster Redner hat Staatsminister Günter Gloser das Wort.
Günter Gloser, Staatsminister im Auswärtigen Amt:
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ungeachtet aller Erfolge in der Vergangenheit befindet sich die Europäische Union - einige Redner haben das bereits ausgeführt - in einer schwierigen Lage. An dieser Stelle wird immer an den Verfassungsprozess und an die in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Referenden erinnert. Niemand weiß genau, wie wir den ins Stocken gekommenen Prozess wieder in Gang setzen können. Wir wissen aber, dass wir ihn wieder in Gang setzen müssen. Die Akzeptanz der Europäischen Union in der Bevölkerung hat gelitten. Wenn man diesen Zustand mit ?Europaskepsis“ umschreibt, ist das vielleicht nicht ganz treffend; es gibt verschiedenen Facetten.
Wenige Monate vor dem 50. Jahrestag der Römischen Verträge möchte ich aber - auch wenn ich einige kritische Bemerkungen gemacht habe - betonen, dass die Europäische Union eine einmalige Erfolgsgeschichte ist und andere uns darum beneiden, dass wir es geschafft haben, eine solche Europäische Union auf friedlichem Wege zu gründen.
Ich möchte - in einigen Reden klang es so, als wäre heute ein revolutionärer Tag - auf die Dinge eingehen, die angesprochen worden sind. Die Menschen in Europa haben gerade in den letzten Monaten verstanden, dass die Europäische Union und die von ihr erlassenen Regelungen sie unmittelbar betreffen. Das belegen die intensiven Diskussionen über die bereits genannte Dienstleistungsrichtlinie, die Gleichstellungsrichtlinie, die Hafenrichtlinie oder über ein so großes Projekt wie die Erweiterung der Europäischen Union. Auch wenn die Debatten kontrovers geführt wurden und an der EU Kritik geübt wurde - wer ist die EU? -, ist erfreulich, festzustellen, dass die Menschen Europa wahrnehmen und über Europa diskutieren. Wir müssen uns aber fragen - mit ?wir“ meine ich die Bundesregierung und uns Parlamentarier -, ob wir nicht manchmal die falschen Botschaften gesetzt haben, ob wir nicht manche Gesetzgebungsinitiative durch eine oft sehr eingeschränkte Wahrnehmung diskreditiert haben. Ich glaube, hier müssen wir behutsam vorgehen, wenn wir einen offenen Diskurs mit der Bevölkerung wollen.
Dieses neue, wenn auch häufig kritische Interesse der Bürger ist gut für die Europäische Union; denn es erzeugt einen Rechtfertigungsdruck, dem sich die Organe der Europäischen Union, aber auch wir, die Regierung und das Parlament, stellen müssen. Wir müssen rechtfertigen, warum wir einen Rechtsakt auf europäischer Ebene für notwendig halten. Wir müssen erklären, was das dem Bürger bringt. Wir müssen auch manchmal vermitteln, warum etwas im Interesse der Europäischen Union wichtig ist und warum man nicht nur an die Interessen des eigenen Landes denken sollte.
Das kritische Interesse der Bürger verschafft uns auch die Chance, die konkreten Vorteile der Europäischen Union und der von ihr geschaffenen Rechtsakte zu vermitteln. Die Gesetzgebung von Bund und Ländern - wir haben das vorhin gehört - wird in wachsendem Maße von Entscheidungen geprägt, die auf der Ebene der Europäischen Union getroffen werden. Gemeinsam mit dem Dreieck der europäischen Institutionen - Europäisches Parlament, Kommission und Rat in seiner gesetzgebenden Funktion - bilden die nationalen Parlamente - davon bin ich felsenfest überzeugt -das demokratische Fundament der europäischen Bürger- und Staatenunion.
Nationale Parlamentarier müssen als Mitgestalter eines Gesetzgebungsprozesses begriffen werden, der immer häufiger von Brüssel aus angestoßen wird. Es ist vorhin selbstkritisch bespiegelt worden, warum es so lange gedauert hat. Man muss an diesem Tag objektiv sagen: Der Deutsche Bundestag verfügte bereits in der Vergangenheit über einige Rechte, die aber nicht entsprechend ausgestaltet waren. Aufgrund der Defizite gab es Nachholbedarf. Deshalb gab es die breite Diskussion über Möglichkeiten zu mehr Beteiligung. Diese nun erzielte Vereinbarung wird die Europapolitik des Bundes auf eine breitere Grundlage stellen und zur besseren Gesetzgebung der Europäischen Union beitragen.
Die Informations- und Beteiligungsrechte des Bundestages sollen durch diese neue Vereinbarung ausgeweitet werden. Alle von Ihnen angemahnten Dokumente und Berichte zu europäischen Aktivitäten, sowohl die der Gemeinschaftsorgane Kommission und Rat als auch die der Bundesregierung, insbesondere die der Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union, werden dem Bundestag umfassend vermittelt. Daneben wird eine Reihe von Unterrichtungsformen, die bereits Praxis sind, verbessert. Ich denke, diese Vereinbarung ist ein zentraler Baustein für die verbesserte Europatauglichkeit des Bundestages. Aber gleichzeitig - das hat in den Verhandlungen eine wesentliche Rolle gespielt - lässt diese Vereinbarung der Bundesregierung den nötigen Spielraum, den sie in den Verhandlungen in Brüssel braucht. Wenn man die Situation in der Anfangszeit mit der heutigen vergleicht, sieht man, dass sich vieles verändert hat.
Ich bin der Überzeugung, dass diese Vereinbarung uns eine Chance bietet, die Legitimität europäischer Rechtssetzung in Deutschland zu erhöhen. Ich möchte an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank sagen an diejenigen, die für die Fraktionen verhandelt haben, aber auch an diejenigen, die ihnen zugearbeitet haben, die auch uns in den Ressorts zugearbeitet haben. Das waren wichtige Beiträge. Ich danke auch dem Kollegen Peter Hintze, der mit mir für die Bundesregierung diese Verhandlungen geführt hat, und den anderen Kollegen in der Regierung, die uns im Hintergrund dabei unterstützt haben. Ich kann Ihnen versichern: Es bleibt bei dem einen Herz. Aber ich glaube, man braucht Kopf und Herz, um die Europapolitik voranzubringen. Ich finde es angesichts der Positionen, mit denen die Fraktionen in diese Debatte gegangen sind - Rainder Steenblock hat darauf hingewiesen -, bemerkenswert, dass wir einen, so denke ich, guten Kompromiss gefunden haben.
Wir sollten aber nicht vergessen, dass der Verfassungsvertrag, den ich eingangs erwähnt habe, für die weitere Einbindung der nationalen Parlamente wichtig ist. Denn er ist ein wichtiger Schritt, um mehr und früher beteiligt zu werden. Die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips war eine Intention der Bundesregierung. Sie war im Konvent wie auch auf der Regierungskonferenz ein besonderes deutsches Anliegen. Nicht zuletzt wegen der mit dem Vertrag in dieser Hinsicht erzielten Fortschritte setzt sich die Bundesregierung dafür ein, die im europäischen Verfassungsvertrag gefundenen Lösungen zu erhalten.
Die Elemente des Verfassungsvertrages machen die Europäische Union - das ist immer kritisiert worden - gerade demokratischer. Sie machen sie handlungsfähiger, effizienter und transparenter. Genau damit erreichen wir das Ziel, Europa den Bürgerinnen und Bürgern näher zu bringen. Ich gehe gern darauf ein - das wird auch ein Thema der Präsidentschaft Deutschlands im nächsten Jahr sein -, dass wir nicht nur fragen müssen: Welche Folgen haben bestimmte Gesetzesinitiativen für den Bereich Wirtschaft, für kleine und mittlere Unternehmen? Genauso wichtig ist natürlich die Frage: Welche sozialen Folgen hat eine Initiative? Ich denke, das hat die Vergangenheit gezeigt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ohne dass man jetzt das Primärrecht ändern müsste, ist die Kommission ohnehin bereits vom Europäischen Rat aufgefordert worden, die nationalen Parlamente frühzeitig einzubeziehen. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger für Europa gewinnen möchten, sollte unser Ziel sein, dass sich jeder Europäer ganz selbstverständlich sowohl als Bürger seiner Stadt und seines Mitgliedstaats als auch als Bürger der Europäischen Union versteht. Ich bin - weil ich ja auch Parlamentarier bin - davon überzeugt, dass die nationalen Parlamente, vor allem der Bundestag, dazu einen wesentlichen Beitrag leisten können. Ich denke, dass diese Vereinbarung die entsprechenden Werkzeuge liefert. Ich finde es gut, dass wir die Vereinbarung wenige Wochen vor Beginn der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union geschaffen haben; denn ich glaube, dass diese Präsidentschaft durch ein aktives Parlament begleitet werden muss.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Link, FDP-Fraktion.
Michael Link (Heilbronn) (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Staatsminister Gloser, ich würde nicht ganz so weit gehen, den heutigen Tag als revolutionär zu bezeichnen. Natürlich ist das ein guter Tag. Wir gehen nicht nur einen Schritt in die richtige Richtung, sondern ich glaube, hier wurde die richtige Balance gefunden zwischen den Mitwirkungsrechten des Bundestages einerseits und der Bewahrung der Kernbereiche exekutiven Handelns andererseits, die - das verstehen auch wir als Parlament - natürlich sein müssen.
Es ist aber schon etwas anderes - das will ich einfach noch einmal mit Blick auf die Öffentlichkeit sagen -, ob es, wie im Grundgesetz, das ja bestehen bleibt, heißt, die Bundesregierung berücksichtigt bei ihren Verhandlungen die Stellungnahmen des Bundestages, oder ob es, wie jetzt in unserer Vereinbarung, heißt, die Stellungnahmen werden den Verhandlungen der Bundesregierung zugrunde gelegt. Das ist ein substanzieller Unterschied und wir begrüßen die Formulierung in der Vereinbarung. Das ist genau die richtige Balance.
Alle wichtigen Punkte sind hier bereits angesprochen worden. Ich will deshalb ein Beispiel nennen. Oft beschworen wird ja das Demokratiedefizit in der Europäischen Union. Meine These ist: In keinem anderen Bereich ist das Demokratiedefizit größer als beim EU-Haushalt. In keinem anderen Bereich haben wir gegenwärtig so wenig Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente. Wir werden es nächstes Jahr erleben. Denn im Laufe des nächsten Jahres soll uns die Ratifizierung des neuen Eigenmittelbeschlusses vorgelegt werden - ein schwieriger Prozess -; der Beschluss soll aber bereits ab 1. Januar 2007 gelten. Über welches Recht haben wir da wirklich noch substanziell mit zu entscheiden?
Umso wichtiger wird sein, dass wir im Vorhinein, vor den Ratsverhandlungen - das sage ich besonders mit Blick auf die Kollegen im Haushaltsausschuss -, tätig werden. Wenn wir uns einmal vor Augen führen, um wie viel Geld es geht - jährlich über 22, 23 Milliarden Euro für Deutschland - und für wie lange wir uns mit dem Eigenmittelbeschluss völkerrechtlich verbindlich binden - für über sieben Jahre; das heißt, wir können danach nicht mehr darüber entscheiden -, dann können wir feststellen, dass es umso wichtiger ist, dass wir in Zukunft ein klares, deutliches Mitspracherecht bei der Formulierung der Verhandlungsposition der Bundesregierung haben, was dank dieser Vereinbarung der Fall ist.
Gleiches gilt übrigens auch für die - ich sage es einmal salopp - Schattenhaushalte - Europäischer Entwicklungsfonds, Globalisierungsfonds -, die jetzt anstehen. Dort ist das Demokratiedefizit vielleicht noch größer als bei dem Haupthaushalt der EU; denn der wird zumindest in der Öffentlichkeit besprochen. Beim Europäischen Entwicklungsfonds mit einem immensen Betrag - gerade für die Bundesrepublik Deutschland geht es da um sehr viel Geld; wir sind, für diejenigen, die es noch nicht wissen, jetzt der größte Zahler im Europäischen Entwicklungsfonds; wir haben die Franzosen überholt, sie liegen jetzt etwas hinter uns - ist das Demokratiedefizit noch größer. Dank der Vereinbarung können wir aber genau bei diesem Punkt in Zukunft vonseiten des Haushaltsausschusses und des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ganz konkret vor den Ratsverhandlungen eingreifen. Das ist ein echter Fortschritt und deshalb ist das heute ein guter Tag.
Zeitgleich zu der Vereinbarung, die wir heute beschließen, läuft in der Europäischen Union - Staatsminister Gloser hat es angesprochen - der Prozess der Verstärkung und Verbesserung der Informierung der nationalen Parlamente seitens der Kommission, Stichwort: Subsidiaritätsprüfung, Subsidiaritätskontrolle. Unser Petitum - ich vermute, ich spreche da auch für viele Kollegen aus anderen Fraktionen - ist, dass wir dann unverzüglich Vorlagen bekommen. Wichtig ist aber auch, dass dann geltendes Recht eingehalten wird, sprich: dass uns die Vorlagen auch in deutscher Sprache, der dritten Arbeitssprache der Europäischen Kommission, zugestellt werden. Hier muss die Bundesregierung dringend Druck ausüben, dass das in Zukunft regelmäßig geschieht.
Wenn die Subsidiaritätsprüfung tatsächlich erfolgt, wenn dieser Prozess einmal im Gange sein sollte, sei es - hoffentlich - mit einem Verfassungsvertrag, sei es mit einem gesonderten Protokoll, dann spätestens müssen wir hier im Hause beschließen, wer bei uns federführend für diese Subsidiaritätsprüfung zuständig ist.
Mein Petitum und das meiner Fraktion ist: Die Fachausschüsse sollen für die Stellungnahmen zu thematischen EU-Vorlagen zuständig sein. Aber die Federführung im Hinblick auf die Subsidiaritätsprüfung sollte naturgemäß beim Europaausschuss liegen. Das ist ein wichtiger Punkt. Hier muss der Europaausschuss eine sehr wichtige Verantwortung für das Gesamtparlament wahrnehmen.
Zu guter Letzt - Herr Präsident, ich komme langsam zum Schluss -: Es ist gut, dass wir neue Rechte bekommen haben. Wir müssen von ihnen aber auch Gebrauch machen können. Dazu gehört - Herr Steenblock und andere Kollegen haben das angesprochen - eine behutsame Ausweitung der Personalkapazitäten beim Parlament und bei der Kommission. Wenn das im Übersetzerstab beschäftigte Personal etwas aufgestockt würde, damit die Vorlagen auch in der dritten Arbeitssprache, in Deutsch, abgefasst werden können, hätte ich nichts dagegen.
Das gilt - das mag Sie überraschen - übrigens auch für die Bundesregierung. Unsere Zusammenarbeit im Haushaltsausschuss mit den Kollegen der Europaabteilung im BMF ist exzellent. Sie sind, was ihre Arbeitsbelastung angeht, am Limit. Wenn in Zukunft aufgrund der Vereinbarung mit uns und angesichts des Informationsaustausches zwischen Brüssel und den nationalen Parlamenten noch mehr Arbeit auf sie zukommt, dann können sie das irgendwann nicht mehr bewältigen. Wir müssen uns trotz aller Sparzwänge darüber im Klaren sein: Wir müssen die personellen Kapazitäten behutsam erweitern, damit wir das, was wir heute beschließen, mit Leben füllen können.
In den ersten Jahren, in denen diese neue Vereinbarung angewandt wird, entscheidet sich, was sie wert ist. Nun kommt es auf uns an. Heute ist der Bundestag europapolitisch erwachsen geworden. Machen wir etwas daraus!
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter Hintze.
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stell dir vor, es geht um Europa, und keiner geht hin. Dann kommt Europa zu dir und du darfst dich nicht beschweren, wenn dir eine Richtlinie nicht passt.
Das gilt nicht für die Anwesenden. In der Kirche ist es zwar immer so, dass die Anwesenden für diejenigen, die nicht kommen, kritisiert werden. Aber ich glaube, dass die Zahl der hier Anwesenden entgegengesetzt proportional zur Bedeutung dessen ist, worüber wir heute sprechen und was wir mit unserem Votum ausdrücklich unterstreichen werden.
Heute ist ein guter Tag für die Demokratie und ein guter Tag für das Parlament.
Die Bundesregierung, getragen von der großen Koalition, hat mit dem Bundestag eine große Kooperation in allen Europafragen vereinbart, und das ist gut so. Kollege Steenblock hat in seiner Rede, der ich mit Freude zugehört habe, ein gewisses Erstaunen darüber zum Ausdruck gebracht, dass die Unionsfraktion das, was sie in der Opposition gesagt hat, in der Regierung tatsächlich verwirklicht. Dieses Erstaunen dürfen Sie gerne ins Land tragen. Das ist nämlich ein Grundsatz, der uns bestimmt: In der Opposition wie in der Regierung reden wir gleich.
Es würde dem Parlament gut anstehen, wenn das generell so wäre.
- Absolut, Kollege Löning. Da Sie vorhin selbst gesagt haben, dass Sie zwar noch jung, aber voller Freude dabei sind, weise ich Sie darauf hin: Die Bundeskanzlerin hat die Initiative der Opposition zur Stärkung der Mitwirkungsrechte des Parlaments vorangetrieben. Als Verantwortliche auf Unionsseite hat sie darauf gedrungen, dass dieses Vorhaben in den Koalitionsvertrag aufgenommen wird. Das haben wir im Parlament umgesetzt. Darauf können wir gemeinsam stolz sein.
In der Tat werden nicht zuletzt die Rechte der Opposition gestärkt. Das war damals unser Anliegen. Das ist auch richtig. Regierungsfraktionen haben immer mehr informelle Kontakte. Da es um eine sehr wichtige Frage geht, wollten wir allerdings, dass das gesamte Parlament, Regierung und Opposition, die Chance hat, an diesem europäischen Prozess mitzuwirken, und wir wollten dafür sorgen, dass es über alle für seine Mitwirkung relevanten Informationen verfügt. Denn es ist unbefriedigend - das haben alle Redner gesagt -, wenn wir hier ohnmächtig Richtlinien in nationales Recht umsetzen müssen und nicht politisch beraten, wenn es in Brüssel um die Erstellung, um die Weichenstellung, um die Grundsätze dieser Richtlinien geht. Das wollen wir gemeinsam ändern.
Eben hat ein Redner von ?Doppelherz“ gesprochen. Ich glaube, damit meinte er nicht Gloser im Auswärtigen Amt und Hintze im Wirtschaftsministerium, sondern dahinter steckte etwas die Sorge, dass nach Karl Marx das Sein allzu sehr das Bewusstsein bestimmt - mit diesem Vorwurf mussten wir ja die ganzen Verhandlungen über leben - und dass wir den Wechsel auf die Regierungsbank nicht ohne Schaden für unser parlamentarisches Herz verkraftet hätten.
Ich glaube, das Ergebnis beweist, dass wir unser parlamentarisches Herz auch auf der Regierungsbank behalten haben, auch wenn der eine oder andere Kollege - ein prominenter sitzt in Reihe eins vorne rechts -
der Auffassung ist, man hätte noch mehr realisieren können, und auf andere Länder verweist.
Deshalb will ich gleich vorwegnehmen: Wir haben in unserer Vereinbarung die Grenzen, die das Grundgesetz hier setzt, wirklich parlamentsfreundlich - der FDP-Kollege hat das eben in seinem Beitrag auch so ausgedrückt -, bis zum äußersten Rand, ausgefüllt. Die Wünsche, die wir als Opposition geäußert haben, die über diesen Rand hinausgehen, hätten eine Änderung des Grundgesetzes vorausgesetzt. Möglicherweise wird diese Debatte einmal kommen; aber im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, die wir jetzt haben und innerhalb derer sich unsere Vereinbarung zu bewegen hat, sind wir eng an den Rand gegangen und haben eine parlamentsfreundliche, ja die parlamentsfreundlichste Regelung überhaupt geschaffen.
Ich will noch etwas Inhaltliches ansprechen. Manche verweisen auf Skandinavien, dort sei es noch besser, weil das Parlament die Regierung fesseln, binden könne. Doch wir wollten eine Regelung, die die Europafähigkeit des Bundestages stärkt und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit Deutschlands in Brüssel in vollem Umfange sichert. Das unterscheidet uns vielleicht. Deutschland hat ein großes Gewicht und eine große Verantwortung, dass wir uns diese Handlungsfähigkeit erhalten. Es ist im europäischen Rechtsetzungsprozess unmöglich, gefesselt am Tisch zu sitzen - so kann man keine Kompromisse schließen, so kann man keine Lösungen finden.
- Ehemalige Minister nicken aus der ersten Reihe der Opposition. Ich freue mich, Herr Trittin, dass Sie diese Erkenntnis aus der Regierung in die Opposition mitgenommen haben; das ist sehr schön. Wir haben das Ganze ja auch gemeinsam vereinbart. Deswegen glaube ich, dass wir insgesamt eine sehr kluge Regelung gefunden haben.
Ausgangspunkt des heutigen Tages war das Ja des Bundestages zur europäischen Verfassung. Damals haben wir mit breiter Mehrheit - alle Fraktionen, die hier im Parlament vertreten waren - Ja zu ihr gesagt. Ich darf herzlich bitten, sich nicht von einer Falschüberschrift in der ?Financial Times Deutschland“, die schon durch den Text unmittelbar darunter nicht gedeckt ist, einreden zu lassen, wir hätten hier einen Kurswechsel vorgenommen. Der Deutsche Bundestag hat klar Ja zum europäischen Verfassungsvertrag gesagt. Ich glaube, es steht uns gut an, auch heute klar Ja zu diesem gemeinsamen Projekt zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Denn diese europäische Verfassung bringt, was so viele Menschen sich wünschen: mehr Transparenz, mehr Effizienz und auch mehr Demokratie in Europa.
Es stimmt: Die Skepsis ist auch gestiegen; eine Langzeitstudie der Stiftung ?Wissenschaft und Politik“ zeigt das. Interessant ist: Die Zahl derer, die Ja zu Europa sagen, ist gleich geblieben. Die Zahl derer, die Nein sagen, ist gestiegen. Wo kommt das her? Es kommt aus dem großen Bereich der Bürger, die sich bisher in permissiver Enthaltung geübt haben, sich also wohlwollend nicht darum gekümmert haben, weil sie meinten: Es wird schon richtig sein, wie es läuft. - Bei ihnen besteht heute größere Skepsis. Diese können wir nur überwinden, wenn wir die europäischen Entscheidungsprozesse transparenter machen. Denn wir brauchen eher mehr als weniger Europa. Die Bürger wissen in ihrem Herzen auch, dass die Europäische Union die einzig tragfähige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung ist.
Mit der Vereinbarung, die wir heute getroffen haben, schreiben wir einen ganz kleinen Abschnitt im Buch der europäischen Geschichte fort, nämlich den Abschnitt über die Parlamentarisierung der Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union. Das steht dem Bundestag gut an. Ich bedanke mich bei allen, die daran mitgewirkt haben. Den Politikern ist gedankt worden. Ich will nun auch den Mitarbeitern danken
und pars pro toto Christoph Thum von der SPD nennen, der Mitarbeiter der ersten Stunde war, damals, als schon böse Schatten über der rot-grünen Regierung hingen, im Mai des Jahres 2005.
Die SPD hat damals gedacht: Wer weiß, wofür das gut ist, wir sollten uns jetzt schon einmal ein bisschen vorbereiten. - Es sah damals ja so aus, dass Sie vielleicht in der Opposition landen würden. Wir dachten: Wer weiß, wofür das gut ist, wir wissen ja auch nicht, ob wir in die Regierung kommen. - Wir haben dann gemeinsam etwas Gutes daraus gemacht.
Das schöne griechische Wort Krise bedeutet ja im Grunde Frage bzw. Anfrage. Wir haben die Frage positiv beantwortet und etwas Gutes aus der Krise gemacht. Lassen Sie uns das gemeinsam nutzen!
Schönen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile Kollegen Axel Schäfer, SPD-Fraktion, das Wort.
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europapolitik ist auch Parteipolitik. Deshalb wird es gerade in der Diskussion, die wir jetzt zusammengefasst vorangebracht haben, darauf ankommen, dass wir in Zukunft auch die parteipolitischen Unterschiede in der Europapolitik deutlich machen. Nur damit bringen wir Europa auch inhaltlich ein Stück voran.
Gleichzeitig ist Europa unser gemeinsames Anliegen. Deshalb war es so wichtig, dass es gelungen ist, sowohl die Fraktionen der Regierungskoalition als auch alle Fraktionen der Opposition für diese Vereinbarung zu gewinnen. Das ist in diesem Parlament nicht alltäglich und das kann auch gar nicht alltäglich sein. Weil es aber so etwas Besonderes ist, sollten wir dieses Besondere hier auch einmal ganz besonders unterstreichen.
Es bleibt unsere Aufgabe, das Parlament gemeinsam zu europäisieren; denn eines ist auch wahr: Diese Vereinbarung ist nicht das Ergebnis der bereits vollzogenen Europäisierung des Parlaments und der großen Fortschritte, die über 600 Abgeordnete und alle Ausschüsse erreicht haben, sondern ein Stück weit das Ergebnis dessen, dass der Europaausschuss als Leitwolf bzw. -wölfin vorangegangen ist. Auch das gehört dazu. Jetzt wird es darauf ankommen, dass die anderen nicht nur ein Rudel sind, sondern dass es zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung all derjenigen kommt, die hier Verantwortung tragen. Deshalb sollten wir das an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich unterstreichen.
Das ist in der Praxis ja auch schon ein Stück weit gelungen. Wir haben in einer wichtigen Frage gesagt, was wir wollen, was wir also von der Regierung im Rat erwarten. Um die Positionierung des Deutschen Bundestages in Europafragen vor allen Dingen gegenüber der Bundesregierung geht es ja. Ich erinnere hier an die Grundrechteagentur, die neu eingerichtet werden soll. Durch eine gemeinsame Position ist es uns gelungen, die Kanzlerin und den Außenminister im Rat darauf festzulegen, dass diese Agentur nicht einfach durchgewunken wird - mit einer Struktur, von der wir nicht sicher wissen, ob sie etwas bringt -, sondern dass an dieser Stelle weiterhin kritisch gearbeitet wird, bevor die Umsetzung erfolgt. Das ist ein Erfolg des Bundestages, zu dem es aufgrund eines gewandelten Bewusstseins und einer verbesserten Handlungsfähigkeit gekommen ist.
Kolleginnen und Kollegen, es gehört auch zu den Wahrheiten dieser geschlossenen Vereinbarung, dass hier eine Reihe von lang gedienten Kolleginnen und Kollegen am Ende gesagt haben, dass sie sich eigentlich mehr hätten vorstellen können. Na ja, denen muss man sagen, dass sie jetzt seit 25 oder 30 Jahren dabei sind und wissen müssten, dass man es sich nicht so leicht machen kann. Andere haben - ebenfalls parteiübergreifend; manche davon in großer Verantwortung - gesagt: Wenn ich hier hätte entscheiden können, dann hätte ich euch, dem Europaausschuss bzw. dem Parlament, bezüglich der Europäisierung nicht so starke Rechte zugestanden. - Auch dies zeigt, woran wir noch ein Stück mehr arbeiten müssen. Das sollte uns eine zusätzliche Motivation für die Überzeugungsarbeit sein; denn die Arbeit leisten wir weiterhin hier. Auch wenn wir uns deutlicher in Richtung Brüssel positionieren: Wir positionieren und kontrollieren vor allen Dingen die Bundesregierung und wir wollen sie auch zu einer Reihe von Dingen verpflichten. Ich glaube, das ist auch richtig so.
Was wir voranbringen wollen, ist eine Europäisierung. Europäisierung bedeutet immer auch Parlamentarisierung und Parlamentarisierung geht nur mit Demokratisierung. Die Kollegen von der Linksfraktion haben angesprochen, dass zur Demokratisierung auch die direkte Demokratie gehört. Ich bin sehr dafür und ich glaube, es gibt auch hier in diesem Hause eine Mehrheit dafür, dass wir in Konsequenz dieser Diskussion wieder die Debatte darüber aufgreifen, wie wir über das Instrument der Volksinitiative, des Volksbegehrens und des Volksentscheids mehr direkte Demokratie in Ergänzung der repräsentativen Demokratie einführen können.
- Gerade weil ich jetzt Beifall von der ganz linken Seite des Hauses bekomme, möchte ich deutlich machen, dass ein wichtiger Impuls, dies umzusetzen, die europäische Verfassung ist. Sie nimmt Elemente der direkten Demokratie in ganz Europa auf. Man kann aber nicht mehr direkte Demokratie in Deutschland fordern, wenn man gleichzeitig eine europäische Verfassung mit mehr direkter Demokratie ablehnt. Das passt nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Wichtigste aber ist: Lasst uns bei all den Diskussionen über die Instrumente, die wir in Zukunft haben werden und die wir verbessert nutzen wollen, immer auch über die Inhalte reden. Unser Ziel ist es, in diesem gemeinsamen Europa besser und erfolgreicher für den Frieden einzutreten und mehr für soziale Gerechtigkeit und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu tun. Wir wollen Bildung und Forschung voranbringen -
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
- wenn ich den Satz beendet habe - und den Nationalismus bekämpfen.
Jetzt habe ich meinen Satz beendet. Bitte, Kollege Dehm.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Es scheint heute ein revolutionärer Tag zu sein, weil sich Konsense andeuten, die gar nicht absehbar waren.
Grund unserer Ablehnung des Verfassungsvertrages waren nicht die plebiszitären Elemente. Können wir uns gemeinsam darauf einigen, den Verfassungsvertrag, wie es jetzt auch Frau Merkel sagt - so die ?Financial Times Deutschland“ von heute -, gründlich zu ändern, die Artikel des Grundgesetzes, die in dem europäischen Verfassungsvertrag nicht genügend berücksichtigt sind, die Sozialbindung des Eigentums und das Angriffskriegsverbot, darin aufzunehmen und diese Verfassung dann unserer deutschen Bevölkerung zur Abstimmung zu stellen?
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Lieber Kollege Dehm, diese Verfassung wurde gemeinsam von Abgeordneten und Regierungsvertretern auch dieses Parlaments sowie des Europäischen Parlaments und der Kommission auf der Basis einer Übereinkunft von 28 Ländern erreicht; das ist eine gute Grundlage. Sie gilt es jetzt zu beschließen und umzusetzen. Wir müssen also dafür werben, dafür Mehrheiten zu bekommen. Ich möchte Sie an unserer Seite haben, wenn wir hier über mehr Demokratisierung durch das Grundgesetz reden. Zunächst aber müssen Sie mit uns gemeinsam für Mehrheiten für diese europäische Verfassung werben. Darin wollen wir Sie überzeugen; wir setzen bestimmte Hoffnungen darauf.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Schäfer, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Seifert, auch Fraktion Die Linke?
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Ja, die gestatte ich.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Lieber Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen vielleicht entgangen, dass wir die europäische Verfassung nicht wegen der plebiszitären Elemente, sondern wegen ihrer Ausrichtung auf Militarisierung, das heißt: den Zwang zur Aufrüstung, und wegen der ausdrücklichen Festlegung auf ein neoliberales Wirtschaftskonzept abgelehnt haben?
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Erstens. Es gibt in der europäischen Verfassung, die wir gemeinsam wollen, überhaupt keine Festlegung auf Aufrüstung. Das muss man einfach einmal feststellen.
Zweitens. Wir sind für eine soziale Marktwirtschaft und eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Ich bin auch sehr dafür, dass man den Kapitalismus kritisiert, wo er bestimmte Auswüchse angenommen hat. Das allerdings hat mit den Festlegungen in der europäischen Verfassung nichts zu tun, lieber Kollege.
Ein Letztes: Wir wollen Europa weiter verbessern, weil wir in allen Ländern gegen einen zum Teil wachsenden Nationalismus kämpfen. Das gehört zur gemeinsamen europäischen Identität. Unsere gemeinsame Identität ist das Gegenbild zum Nationalismus. Das wichtigste Interesse, das wir als Nationalstaaten haben - in Deutschland wie in Frankreich, in Polen wie in Großbritannien und allen anderen Ländern -, ist die europäische Einigung. Mit dieser gemeinsamen Vereinbarung kommen wir diesem Ziel einen großen Schritt näher. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich reihe mich heute gerne ein in den fraktionsübergreifenden Konsens in diesem Hause. Die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung über die Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten ist ein erkennbarer Fortschritt auf unserem Weg, europäischen Angelegenheiten in Deutschland mehr Gewicht zu verleihen. Dieser Weg führt über die Beteiligung des Deutschen Bundestages zu unserem Ziel, mehr Verständnis und Akzeptanz für europäische Politik zu gewinnen, aber auch dazu, die Legitimationsbasis europäischer Entscheidungen zu stärken, indem in jedem Mitgliedstaat die nationalen Parlamente intensiv damit befasst werden.
Die Vereinbarung, die wir heute beschließen, bringt eine erhebliche Ausweitung der Unterrichtungspflichten der Bundesregierung mit sich. Dass es mehr als fünfzig Jahre europäischer Integration bedurfte, um so weit zu kommen, ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt. Aber umso mehr freut es mich, dass wir es sind, die diesen Fortschritt erreicht haben.
Wir ziehen damit in Bezug auf die Unterrichtung des Parlamentes mit dem Bundesrat gleich und können zuversichtlich sein, dass die Zeit der Vergangenheit angehört, als wir von den Länderregierungen oft besser unterrichtet wurden als von der eigenen Bundesregierung.
Allerdings trifft dieser Fortschritt, dass wir mit dem Bundesrat gleichziehen, nur auf die Unterrichtung zu. Fraglich ist, was künftig mit Stellungnahmen des Bundestages über die bloße Unterrichtung durch die Bundesregierung hinaus passiert. Immerhin haben wir die Bundesregierung dazu verpflichten können, dass sie künftig Rechenschaft darüber ablegen muss, inwieweit eine Stellungnahme des Bundestages in den europäischen Gremien umgesetzt werden konnte. Aber es bleibt dabei, dass Stellungnahmen des Bundestages von der Bundesregierung nicht beachtet, sondern nur zur Kenntnis genommen werden müssen. Kern des Problems ist Art. 23 des Grundgesetzes; das wurde bereits angesprochen.
Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es in einer Reihe von Mitgliedstaaten der Europäischen Union wesentlich weiter gehende Mitwirkungsrechte gibt, als wir sie heute beschließen. Man muss dazu nicht einmal auf die skandinavischen Staaten verweisen, lieber Kollege Hintze. Niemand von uns hat gefordert, das skandinavische Modell in Deutschland einzuführen. Warum wir uns allerdings nicht getraut haben, das österreichische Modell zu probieren, das dort seit vielen Jahren reibungslos funktioniert, konnte mir bislang niemand erklären.
Es bleibt also das Problem, dass Art. 23 des Grundgesetzes unsere Handlungsmöglichkeiten etwas beschränkt. Auch nach der Föderalismusreform ist das die mit Abstand unübersichtlichste Vorschrift des Grundgesetzes, die noch dazu in ihren praktischen Konsequenzen bescheidene Auswirkungen zeitigt. Ob und wann wir erneut darüber diskutieren müssen, hängt nach meiner festen Überzeugung vom Verhalten der Bundesregierung ab.
Wir werden die Bundesregierung daran messen müssen, wie sie künftig mit unseren Stellungnahmen umgeht, und müssen erwarten können, dass sich die Bundesregierung ernsthaft darum bemüht, unsere Positionen in den europäischen Gremien tatsächlich umzusetzen. Dazu ist es - dieser Hinweis sei mir gestattet - nicht immer erforderlich, im Ministerrat Mehrheiten zu organisieren. Es gibt auch Gelegenheiten, wo es genügt, seine Position zu markieren.
Ich darf daran erinnern, dass der Europaausschuss des Bundestages eine einvernehmliche Haltung zur europäischen Grundrechteagentur kommuniziert hat. Wir haben das höflich - nicht in Form einer Stellungnahme, sondern eines Briefwechsels - getan. Ich möchte aber auch darum bitten, dass die Bundesregierung dieses Votum sehr ernst nimmt. Wir werden genau darauf achten, ob sich die Bundesregierung unserer ablehnenden Haltung anschließt, und zwar nicht, weil wir etwas gegen einen effektiven Grundrechtsschutz hätten, sondern weil ich persönlich davon überzeugt bin, dass es besser wäre, den europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu stärken, als eine neue Behörde zu gründen, in der Beamte schöne Berichte schreiben.
Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung künftig auch bei europäischen Vorlagen den Bundestag in einer Form beteiligt, wie wir es von den nationalen Gesetzgebungsvorhaben gewohnt sind. Niemand hindert die Bundesregierung daran - zum Teil wird es schon praktiziert -, Berichterstattergespräche zu organisieren. Es sollten alle zuständigen Kollegen aus den Ausschüssen die Gelegenheit erhalten, mit den Beamten, die für die Bundesregierung in Brüssel verhandeln, eine europäische Initiative zu erörtern. Ich glaube, dass wir es mit einem solchen Modell versuchen sollten. Ich sehe darin auch eine Gelegenheit, den Parlamentarischen Staatssekretären diese Aufgabe mit zu übertragen.
Es gibt hin und wieder Diskussionen über den Aufgabenbereich der Parlamentarischen Staatssekretäre. Es wäre für sie eine vornehme Aufgabe, Berichterstattergespräche zu europäischen Vorlagen zwischen Regierung und Ministerialbeamten auf der einen Seite und den Mitgliedern dieses Hauses auf der anderen Seite zu organisieren.
Auch der Deutsche Bundestag wird seine Arbeitsweise ändern müssen. Wir müssen uns bei europäischen Vorhaben auch am Fahrplan der Europäischen Union orientieren. Wir müssen viel stärker als bisher Netzwerke in die europäischen Institutionen hinein knüpfen, aber auch zu unseren Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten. Außerdem wird es künftig viel stärker Aufgabe jedes einzelnen Abgeordneten sein - dies war es auch bisher schon -, die europäischen Implikationen seines Fachbereiches zu berücksichtigen und tatsächlich mit zu bearbeiten.
Durch die Vereinbarung, die wir heute beschließen, werden wir auch ein Stück weit in Mitverantwortung für das genommen, was die Bundesregierung in Brüssel mit berät und mit beschließt. Ich plädiere dafür, dass wir uns bei EU-Vorhaben auf die vorbereitenden Akte konzentrieren - auf Weißbücher, auf Grünbücher, auf das Jahresarbeitsprogramm der Kommission, auf die Legislativpläne -, damit wir schon im Vorfeld über das orientiert sind, was auf europäischer Ebene geplant ist, und rechtzeitig eingreifen können. Allerdings werden wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir das tun, immer dann, wenn es um eine förmliche Stellungnahme des Bundestages geht, vor dem Problem stehen, dass die Bundesregierung schon zwei, drei Jahre in Expertenrunden verhandelt und man uns dann vonseiten der Ministerialbeamten vorhält: Jetzt kommt Ihr Abgeordneten? Wir sitzen doch schon zwei Jahre daran!
Dazu gehört meines Erachtens auch die Bereitschaft des Parlaments einschließlich der Regierungsfraktionen, die Kontrollfunktion des Bundestages gegenüber der Bundesregierung sehr ernsthaft wahrzunehmen und sich bei Bedarf einzuschalten.
Lassen Sie mich noch einen europäischen Aspekt anfügen: Wir sind von der Europäischen Kommission eingeladen, unsere Stellungnahmen auch direkt an die Kommission zu richten. Ich wünsche mir, dass wir die Kommission dazu verpflichten, uns auch wirklich zu antworten,
denn ich möchte doch, dass ein nationales Parlament, das einen förmlichen Beschluss fasst, nicht wie ein x-beliebiger Lobbyverband behandelt wird.
Ich glaube, dass wir die konkrete Chance haben, im Zuge der Diskussion über den europäischen Verfassungsvertrag auch noch einmal über den Frühwarnmechanismus zu diskutieren und ihn vielleicht zu vereinfachen, aber auch, ihn um den Punkt zu ergänzen, dass die Kommission uns Antwort geben muss, wenn wir uns als Parlament an sie wenden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache. - Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Antrag zur Annahme einer Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 16/2620? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 52. Sitzung - wird am
Montag, den 25. September 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]