Die Selbsthilfe von Senioren gewinnt an Bedeutung
Der Eindruck täuscht gewaltig. Schwere gepolsterte Couchgarnituren, ordentlich gebügelte Deckchen auf den Tischen, die vielen Pflanzen, eine Vitrine mit selbstgefertigten Handarbeiten, all dies hat nichts mit dem Rückzug in eine kuschelig private Wohnzimmerwelt zu tun. Nicht umsonst liegen auf einem der Tische die wichtigsten Berliner Tageszeitungen bereit. Man muss und will informiert sein. Im Foyer des Altenselbsthilfe- und Beratungszentrums in Berlin-Wilmersdorf herrscht ein Kommen und Gehen. Im Keller rollen die ersten Kugeln über die Kegelbahn, im Erdgeschoss treffen sich an diesem Vormittag schon die Skatenthusiasten und aus dem ersten Stock dringen ganz andere Töne: Yoga sorgt für die richtige Stimmung im Bibliothekszimmer. Improvisation gehört dazu.
Mit Improvisation fing es im Jahr 1971 auch an, als Käte Tresenreuter, bis dahin Hausfrau, das Sozialwerk Berlin e. V. als Bürgerinitiative gründete. Von einem eigenen Gebäude mit Grundstück konnten die 30 Enthusiasten damals nur träumen. So begann der Seniorenclub seine Aktivitäten in den Räumen der Vaterunser-Gemeinde. "Ich wollte etwas gegen die Vereinsamung älterer Menschen tun", begründet die heute 81-jährige Tresenreuter ihre Motive. Das ist ihr gelungen. 1983 konnte das Sozialwerk in einem neu gebauten, durch Spenden, Lotteriegelder und Gründung einer gemeinnützigen GmbH finanzierten "Eigenheim" das Altenselbsthilfe- und Beratungszentrum eröffnen; damals das erste in der Bundesrepublik, das in voller Verantwortung älterer Menschen stand und von ihnen allein betrieben wurde. Über 1.700 Mitglieder zählt der Verein heute, und: "Es wird alles nur von ehrenamtlichen Mitarbeitern aufrechterhalten", betont die Gründerin mehrmals stolz. Über 200 sind es mittlerweile.
Der hohe Altersdurchschnitt der Ehrenamtlichen ist kein Zufall. Er gehört zum Prinzip des Sozialwerkes: "Ältere Menschen helfen älteren Menschen". Mit Skepsis gegenüber jüngeren Generationen hat das ebenso wenig zu tun, wie mit dem in der Öffentlichkeit oft beschworenen "Krieg der Generationen". Wenn hier ältere Menschen für sich selbst Englisch- oder Gymnastikkurse, Ausflüge, Geburtstagsfeiern und einen Damengesprächskreis organisieren spiegelt das nur eines wider: den Willen und die Fähigkeit, auch im Alter selbstbestimmt zu leben. Genau dieses Recht wird älteren Menschen oft genommen: "Die Akzeptanz älterer Menschen in der Gesellschaft, ihre Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen entspricht keineswegs ihrer tatsächlichen Bedeutung." Deshalb, so Tresenreuter weiter, sei das Sozialwerk nicht einfach nur ein Freizeitverein, sondern hat einen politischen Anspruch: "Warum", so fragt sie, "darf man ab 70 bei den behördlichen Organisationen nicht mehr ehrenamtlich tätig sein? Wir beweisen hier täglich, dass auch Menschen über 80 noch aktiv sein können!"
Um diesen Beweis bemüht sich auch ein Verein ein paar Kilometer weiter östlich. Seit 1992 existiert im Bezirk Lichtenberg "Miteinander Wohnen e. V.", in einem Kiez aus Plattenbauten, in dem fast 50 Prozent der Bewohner älter als 55 Jahre sind. In den drei Hochhäusern des Wohngebietes gibt es fast nur Ein-Zimmerwohnungen - 25 Quadratmeter, meist bewohnt von alleinstehenden älteren Frauen. Und in einem, aber ganz unten im Parterre, hat der 400 Mitglieder zählende Verein seit 1996 eigene Räume. Sie sind bei weitem nicht so großzügig wie die des Sozialwerks, werden aber von den 100 ehrenamtlich aktiven Mitgliedern und etwa 20 Mitarbeitern des zweiten Arbeitsmarktes (AMB und SAM) genauso engagiert mit Leben gefüllt: auch hier liegen Häkelarbeiten des Handarbeitskreises in einer Vitrine, auch hier gibt es Geburtstagsrunden, Gedächtnistraining, Sport und eine Wandergruppe und seit einigen Jahren einen "Club der aktiven 90-Jährigen". "Für uns war es wichtig, der drohenden Isolation der vielen Hochbetagten, die hier in ihren kleinen Wohnungen lebten, entgegen zu wirken", schildert Gudrun Hirche, die Gründerin und Vorsitzende des Vereins, seine Anfänge. Mit der politischen Wende 1989/90 seien ja nicht nur neue Freiheiten auf die Menschen zugekommen. Gerade für ältere Menschen bedeuteten veränderte Gesetze und finanzielle Rahmenbedingungen auch ein großes Maß an Verunsicherung. Hinzu kam die Schließung von bestehenden Freizeiteinrichtungen. Neben der Beratung beim Ausfüllen von Renten- oder Wohngeldbescheiden stand und steht eines daher immer noch im Mittelpunkt: "Der Verein bietet eine Möglichkeit, den kleinen Wohnungen zu entkommen, die alten Menschen mit der Außenwelt zu verkoppeln und ihnen einen Ort für gemeinschaftliche Aktivitäten zu geben." Eigeninitiative zu fördern ist dabei das Leitmotiv: "Wir wollen den Älteren nichts vormachen, sondern dass sie selbst aktiv werden, nicht nur zuhören, sondern Ideen einbringen." Es macht die 80-jährige Vorsitzende, die seit 1979 in dem Kiez lebt, stolz, wenn sie berichtet, dass über 90 Prozent der inzwischen verstorbenen Mitglieder in ihren Wohnungen gestorben seien. Denn genau das ist das Ziel: den Alten so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben jenseits der Anonymität der Altenheime zu ermöglichen.
Eine Politik, die hilfsbedürftige Senioren abschiebt in die Unselbständigkeit, in die teure und oft schlechte Rundumversorgung der Heime lehnen beide Vereinsvorsitzenden daher strikt ab. "Heime sind doch keine Lösung" empört sich die Lichtenbergerin Hirche. Und auch in Wilmersdorf kämpft man für einen anderen Ansatz, denn, so stellt Käte Tresenreuter fest, "die wenigsten Heime sind empfehlenswert". Nach längeren Krankenhausaufenthalten könne es den Alten jedoch schnell passieren, ins Heim abgeschoben zu werden "und dann haben die Betroffenen oft nicht die Mittel und die Kraft, sich zu wehren". Deshalb gründete die Chefin des Sozialwerks schon in den 80er-Jahren die "Koordinierungsstelle für ambulante Rehabilitation älterer Menschen", die nun "Koordinierungsstelle rund um das Alter" heißt. Heute arbeiten diese Stellen in allen Berliner Bezirken, auch in Lichtenberg, und bieten Beratung und Hilfe dafür, wie man auch mit den Folgen einer Krankheit in den eigenen vier Wänden selbstbestimmt leben kann.
Altenselbsthilfe verstehen beide Frauen deshalb nicht als Unterhaltungsveranstaltung. Es geht um den größeren gesellschaftlichen Kontext. Altenselbsthilfe, sagt Tresenreuter, sei der erste Schritt, das Recht der älteren Generation auf einen unabhängigen Lebensabend durchzusetzen. Fast 90 Kongresse zur Situation und Zukunft der Altenselbsthilfe veranstaltete das Sozialwerk seit seinem Bestehen. Die Gastredner aus Politik, von Wohlfahrtsverbänden oder aus der Medizin sind nicht schwer zu engagieren; das Sozialwerk ist inzwischen eine Institution, seine Gründerin für "zukunftsweisende Altenarbeit" ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Sie weiß aber auch um die Widerstände: "Diese Selbsthilfe mögen viele nicht so gern, weil sie bedeutet, dass wir mitbestimmen und über unsere Belange selbst entscheiden". Genau hier herrscht nach wie vor ein Handlungsbedarf, der sich nicht nur auf Fragen der Therapiegestaltung oder die Wohnsituation älterer Menschen konzentriert.
Selbst im Landesseniorenbeirat Berlin (LSBB), in dem sie immerhin stellvertretende Vorsitzende ist, vermisst Tresenreuter ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht der Älteren. Der Beirat versammelt sowohl Vertreter der bezirklichen Seniorenvertretungen als auch Mitglieder aus Organisationen, Vereinen und Institutionen. Berufen wird er vom zuständigen Senator mit dem Ziel, verbesserte Lebensbedingungen, Angebote und Hilfen für ältere Berliner zu diskutieren und durchzusetzen. Nur: "Auch hier werden wir immer nur in Kenntnis gesetzt und haben kaum ein Mitspracherecht für die Dinge, die wir uns wünschen würden". Zu viele Gremien würden von "Professionellen" dominiert, so Tresenreuter. Sie findet, dass die ehrenamtlichen Alten, sozusagen die "Betroffenen", nach wie vor zu wenig tatsächliche Einflussmöglichkeiten haben.
Seit Jahren schon setzt sie sich dafür ein, dass ehrenamtliche Mitarbeiter, die in ihrem Verein den Besuchsdienst für Menschen in Pflegeheimen organisieren, ermäßigte Fahrpreise für die Öffentlichen Verkehrsmittel erhalten. "Viele können sich das einfach nicht leisten." Als jedoch kürzlich ein Vertreter der Berliner Verkehrsgesellschaft zu Gast im Beirat war "interessierte den das genauso wenig wie unsere Probleme mit der Reform des Streckennetzes, das durch den Wegfall vieler Verbindungen zusätzliches, für alte Menschen beschwerliches Umsteigen bedeutet".
Kaum verwunderlich ist es daher, dass sich die Vereinschefinnen euphorisch über das "Kompetenznetz für das Alter" äußern. Dahinter verbirgt sich ein vom Bundesfamilienministerium gefördertes Modellprojekt für Berlin und Brandenburg, das Konzepte entwickeln soll, wie ältere Menschen "zur Bewältigung der aktuellen und zukünftigen demografischen Herausforderungen sinnvoll in die gerontologische Forschung und Lehre einbezogen werden können". Seit 2003 arbeitet das aus einer Initiative des Sozialwerks entstandene zweijährige Projekt. Sowohl Gurdrun Hirche und Käte Tresenreuter engagieren sich hier: "Erstmals sind die Betroffenen hier im Vorstand und als echte Partner anerkannt", beschreibt Tresenreuter diesen Erfolg.
Bis nach Italien hat Gudrun Hirche das ehrenamtliche Engagement in Sachen Altenselbsthilfe und Gerontologieforschung schon geführt. Sogar einen Videofilm mit englischen Untertiteln drehte der Verein, um sich auf einem Kongress in Turin vorzustellen. Rüstige Alte? Hier kann man sie sehen. Die mit dem vorhergesagten demografischen Wandel verbundene Schre-ckensvision von Millionen pflegebedürftiger, die Gesellschaft belastenden Alten gilt hier nicht. "Man sollte stattdessen das Alter als Kontinent der Lebensmöglichkeiten neu entdecken", findet Hirche.