Die Gesundheitswirtschaft gilt als Zukunftsbranche
Josef Hilbert muss es wissen. Der Direktor des Forschungsschwerpunktes Gesundheitswirtschaft und Lebensqualität am Institut Arbeit und Technik Gelsenkirchen macht in großen Teilen der sozialen Dienste eine "hochinteressante Umbruchsituation" aus. Erstens seien die sozialen Dienste dabei, ein neues Niveau der Effizienz zu erreichen. Im Klartext: Sie hätten erkannt, dass sie billiger und besser werden müssten. Zweitens seien sie auf dem Weg, ihr Zusammenspiel mit dem Ehrenamt zu verbessern. Und drittens - das ist für Hilbert der Beschäftigungsmotor schlechthin - "sehen sich viele Bereiche der sozialen Dienste nicht mehr nur als Teil der Versorgungsinfrastruktur, sondern als Wirtschaftsbranche".
Soziale Dienstleister wollen also nicht mehr nur die Grundversorgung sicherstellen, sondern mit der Befriedigung von Zusatzbedürfnissen auch Geld verdienen. Als Beispiel nennt der Gelsenkirchener Wissenschaftler (nicht nur wegen der hinlänglich bekannten demografischen Entwicklung) die Seniorenwirtschaft, für die sich inzwischen schon der wohlklingende Begriff der "silver economy" herausgebildet hat. Abgedeckt werden damit haushaltsnahe Dienstleistungen wie Einkaufengehen ebenso wie Seniorenreisen abseits der Kaffeefahrten mit Heizdecken-Verkaufsshows und anderen "Highlights".
Aber woher nimmt Hilbert den Optimismus, dass nun massenhaft reguläre Stellen entstehen? "In keiner anderen Branche sind in den vergangenen 20 Jahren so viele Arbeitsplätze entstanden wie in der Gesundheitswirtschaft", sagt er. Derzeit arbeiteten dort 4,6 Millionen Beschäftigte - eine Million mehr als vor 20 Jahren. Eine Zukunftsbranche.
Für Nordrhein-Westfalen rechnet Hilbert bis 2015 mit 200.000 neuen Arbeitsplätzen in der Gesundheitswirtschaft. Prognos spricht von 600.000 Stellen bis 2020 in ganz Deutschland. Das Diakonische Werk schätzt allein den Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften in den kommenden 20 Jahren auf 400.000 - allesamt Vollzeitarbeitsplätze.
Und das dürfte womöglich nicht alles gewesen sein. Peter Tobiassen, Geschäftsführer der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, sieht durch Privatisierungen im Bereich der sozialen Dienste ebenfalls eine Möglichkeit, neue Stellen zu schaffen. "Es sind doch schon längst Arbeitsplätze entstanden", sagt er. "Zum Beispiel in der privaten Altenpflege. Allein schon deshalb, weil dort keine Zivildienstleistenden arbeiten dürfen."
Hintergrund: Tobiassen wirbt hartnäckig dafür, dass der Zivildienst abgeschafft und die Arbeit von Zivildienstleistenden komplett von regulären Vollzeitbeschäftigten erledigt wird. Er verfährt nach einer klaren Faustregel: Zwei Arbeitsplätze ersetzen drei Zivildienststellen. Die Berechnung ist einfach. Ein Zivildienstleistender kostet im Jahr 15.000 Euro (7.000 Euro für Unterkunft, Verpflegung und Arbeitsentlohnung; 8.000 Euro schießt der Bund zu). Macht für drei Zivildienstleistende 45.000 Euro im Jahr. Und diese Summe entspreche genau dem Gehalt von zwei Stationshilfen zu je 22.500 Euro jährlich (Arbeitgeberbrutto). Tobiassen: "Nichts ist also einfacher, als aus den heute 75.000 Zivildienststellen schon morgen 50.000 Vollzeitstellen zu machen."
Eine Milchmädchenrechnung? Nicht unbedingt. Dirk Meyer, Professor für Volkswirtschaftslehre am Institut für Wirtschaftspolitik an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, und nicht von vornherein ein Gegner von Wehrpflicht und Zivildienst, kommt zu dem Schluss: "Volkswirtschaftlich wäre eine Abschaffung des Zivildienstes zu fordern." Meyer verficht einen konsequent marktwirtschaftlichen Kurs. Wohlfahrtsverbände hätten durch den Einsatz von Zivildienstleistenden einen Wettbewerbsvorteil gegenüber privat-gewerblichen Unternehmen und würden eben dort die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindern. Da zudem Zivildienstleistende nicht effektiv eingesetzt würden, sieht der Professor - zugespitzt formuliert - eine Verschwendung von Humankapital und vor allem von Steuergeldern. Wissenschaftlich ausgedrückt: "Fis-kalisch würde der Wegfall günstiger Arbeitskräfte die Belastung der Sozialhaushalte erhöhen. Zugleich führt der Wegfall dieser naturalen Sondersteuer zu vermehrter Steuergerechtigkeit. Die Akquirierung zusätzlicher finanzieller Mittel über die Sozialversicherungsbeiträge würde einen regressiven, die über vermehrte Steuereinnahmen einen eher progressiven Umverteilungseffekt bewirken."
Aber nicht nur der Wegfall des Zivildienstes könnte demnach die Arbeit der sozialen Dienste effizienter und besser werden lassen. Wie der Wissenschaftler Hilbert aus Gelsenkirchen sieht auch Meyer die Notwendigkeit, über die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen neu nachzudenken. Ein Zahlenbeispiel, das die Dimension des Ehrenamts verdeutlicht: Nach Berechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) vor wenigen Jahren arbeiten 2,5 Millionen Freiwillige wöchentlich im Schnitt 4,5 Stunden im sozialen Bereich; das ergibt ein Arbeitsvolumen von jährlich 585 Millionen Stunden - umgerechnet etwa 345.000 Vollzeitstellen. Zudem ist laut Meyer der Einsatz von Freiwilligen nicht selten unwirtschaftlich. Wegezeiten hätten am wöchentlichen Arbeitseinsatz einen Anteil von 20 Prozent, Fort- und Weiterbildungskurse seien kostspielig, und der Fiskus gewähre Freiwilligen einen persönlichen Freibetrag von knapp 2.000 Euro für Aufwandsentschädigungen. Geld, das womöglich bei der Schaffung von Arbeitsplätzen fehlt.
Nun will natürlich niemand - und das sei ausdrück-lich betont - das Ehrenamt abschaffen. Aber es geht den Experten um mehr Wettbewerbsmöglichkeiten und damit letzten Endes um neue Beschäftigungschancen. Wenn auch nicht in dem erhofften Umfang. Tobiassen, der Geschäftsführer der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, sieht sehr wohl die Gefahr, dass selbst bei einer Abschaffung des Zivildienstes nicht einfach 50.000 neue Stellen geschaffen werden, sondern dass einige Arbeiten sicher auch von den so genannten Ein-Euro-Jobbern erledigt würden. Aber er wehrt sich vehement gegen die Befürchtung, Ehrenamtliche könnten künftig die Arbeit etwa der Zivildienstleistenden übernehmen: "Wer freiwillig arbeitet, lässt sich nicht so leicht ausnutzen wie die Zivis, die ja gezwungen werden, zum Beispiel den Müll rauszutragen." Ehrenamtliche stärkten vielmehr die Qualität sozialer Dienstleistungen.
Tobiassen ruft die Wohlfahrtsverbände daher auf, die Bereitschaft junger Leute stärker zu nutzen, sich in einem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) zu engagieren. "Das ist eine gute Werbung für die sozialen Dienste." Diese Imagekampagne sei schon allein deshalb dringend geboten, um den künftigen Arbeitskräftebedarf decken zu können.
Dem kann der Wissenschaftler Hilbert, Experte für die Gesundheitswirtschaft nur beipflichten. Er befürchtet zwar auch, dass es in der derzeitigen Umbruchsituation der sozialen Dienste noch viele "windige Formen von Beschäftigung" geben werde. Das sei allerdings eine Übergangsphase. "Sehen Sie sich doch nur die ,Mucki-Buden' an", sagt Hilbert, der Fitness-Center zur Gesundheitsbranche zählt. "Diesen Bereich übernehmen jetzt die Ketten, die sich viel besser organisieren und damit eine höhere Qualität anbieten können."
Die nächste Welle sieht Hilbert in haushaltsnahen Dienstleistungen, also Einkaufsdienst, Unterhaltung vereinsamter Menschen etcetera. "Da wird in diesem Jahr viel experimentiert werden", prophezeit er. Natürlich auch mit "windigen" Beschäftigungsformen. "Aber am Ende werden die regulären Arbeitsplätze dominieren." Wenn sich erst die Spreu vom Weizen getrennt habe, dann werde es sich keiner leisten können, mangelhafte Dienstleistungen anzubieten. Hilbert: "Diese Leistungen können nur regulär Beschäftigte erbringen." - Und der Jobmotor kann langsam warm laufen.
Martin Teschke arbeitet als freier Journalist in Berlin.