> Sonderausgabe > Bundeswahlleiter J. Hahlen
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Terminhetze wegen der vorgezogenen Wahlen? Hektik, weil alle alten Planungen umgeworfen sind? Stress – weil nun vieles kurzfristig arrangiert werden muss? Bundeswahlleiter Johann Hahlen ist nichts davon anzumerken. Der 62-jährige Jurist mit dem fein frisierten, grau melierten Vollbart wirkt gelassen und entspannt, als käme er aus dem Urlaub. Dabei hat der Mann arbeitsintensive Wochen hinter und vor sich. Er muss als oberster „Manager der Wahl“ die vorgezogene Neuwahl des Bundestages am 18. September leiten und organisieren.
Statt in seinem Feriendomizil in Portugal am Strand zu liegen, schiebt Hahlen nun Nachtschichten. Denn zur Vorbereitung des großen Urnengangs bleiben dem Bundeswahlleiter statt vielen Monaten wie bei regulären Wahlen diesmal wegen der kurzen Neuwahlfristen nur wenige Wochen. „Als SPD-Chef Franz Müntefering am 22. Mai die Vertrauensfrage des Kanzlers ankündigte, ahnte ich: Das ist der Ernstfall“, erinnert sich Hahlen und lächelt. Er machte sich sofort an die Arbeit.
Der Bundeswahlleiter kann zwar viele Aufgaben delegieren, an die Wahlausschüsse in den Ländern, Kreisen und Gemeinden. Aber wenn etwas schief läuft am Wahltag – und sei es nur, weil ein örtlicher Wahlleiter die Wahlurne mit nach Hause nimmt und sich schlafen legt –, bleibt es an ihm hängen. Bei der letzten Bundestagswahl 2002, sie war nach 1998 seine zweite, hat Hahlen „vorsichtshalber“ zu Hause eine Kerze entzündet, auf das auch alles gut klappt.
Doch ohne Kerze geht es natürlich auch. Denn so leicht lässt sich der Bundeswahlleiter nicht irritieren. Daten, Zahlen, Statistiken gehören seit langem zu seinem Handwerk. Kein Wunder, ist der in Trier geborene Vater von zwei erwachsenen Kindern doch im eigentlichen „Hauptberuf“ seit 1995 Präsident des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden mit rund 2.800 Mitarbeitern. Da gehört das seriöse, aber schnelle Spiel mit Daten zur alltäglichen Praxis, ob es sich nun um die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche, um den Auftragseingang in der deutschen Industrie oder den monatlichen Verbraucherpreisindex handelt.
Dass das Präsidentenamt und das Amt des Bundeswahlleiters gekoppelt sind, hat historische Gründe: Schon das Statistische Reichsamt der Weimarer Republik war für Massendaten zuständig. Und bei der Gründung der Bundesrepublik 1949 hatte das Wiesbadener Amt Lochkartengeräte und später Großrechner und damit die „Hardware“ für die millionenfachen Wahldaten. „Heute sind unsere Computer längst nicht mehr die größten in der Republik“, bedauert Hahlen mit Blick auf die modernere Ausstattung der Großforschungsinstitute in Deutschland.
Würde sich der Bundeswahlleiter als ambitionierter Oberstatistiker und Computerfreund wünschen, dass eine Bundestagswahl in Zukunft „online“ möglich ist? Johann Hahlen gibt sich zurückhaltend: Zwar habe man vor einigen Jahren gehofft, dass es schon 2006 eine Onlinewahl geben könne. Derzeit sehe er „dies für Deutschland aber nicht“. Das Internet sei zwar ein „faszinierendes Instrument“, aber zugleich zu anfällig für Blockadeaktionen durch Außenstehende. Die technischen und praktischen Probleme, aber auch die finanziellen Anforderungen seien derzeit noch zu groß: „Wir können es uns nicht leisten, dass am Wahltag etwas blockiert wird.“
Wie bewältigt Johann Hahlen die doppelte Belastung zwischen Präsidentenamt im Statistischen Bundesamt und der Aufgabe als Bundeswahlleiter? „Vor einer Bundestagswahl übergebe ich die statistische Arbeit weitgehend an meine Wiesbadener Mitarbeiter und konzentriere mich auf meinen Job als Bundeswahlleiter. Die Organisation der Wahl steht absolut im Vordergrund.“
Organisation der Wahl – das klingt eher harmlos. In Wahrheit aber ist es eine Herkulesarbeit, die Hahlen und sein Team innerhalb kurzer Zeit zu bewältigen haben.
Dazu gehört etwa die Zulassungsprüfung der sich für die Wahl bewerbenden Parteien. Über 50 Parteien haben sich bis zum 2. August, 24 Uhr, dem Ablauf der Frist, angemeldet. Hahlen: „Das Telefon stand nicht still. Immer wieder fragen Menschen: Wir wollen als Partei mitmachen. Was müssen wir tun?“ Das Spektrum reicht von den im Bundestag oder den in Landtagen bereits etablierten Parteien über die in Linkspartei umbenannte PDS, die Mitglieder der WASG auf ihren Landeslisten kandidieren lässt, bis hin zu „Exoten“ wie die „Naturgesetzpartei“ oder die „Partei bibeltreuer Christen“. Bei einer früheren Bundestagswahl gab es sogar eine „Partei der Biertrinker“, aber den Freunden von Gerstensaft in Deutschland war das als Programm dann doch zu spärlich.
Hahlen und sein Team prüfen objektiv und streng nach Gesetz. „Eintagsfliegen“ werden ausgesondert. Entscheidende Kriterien aus dem Parteiengesetz sind, ob die Partei wirklich an der politischen Willensbildung im Bundestag oder einem Landtag teilnehmen will und ob sie die Gewähr für die Nachhaltigkeit dieser Mitwirkung dadurch bietet, dass sie unter anderem einen gewissen Mitgliederbestand aufweist und sich in der Öffentlichkeit betätigt. Schwierige Abwägungen, zumal einige kleine Parteien schon beim Bundesverfassungsgericht klagten, weil sie sich durch die kurze Vorbereitungszeit gegenüber den „Großen“ benachteiligt fühlten. Die endgültige Entscheidung für die Zulassung traf der Bundeswahlausschuss am 12. August.
Ein Sonderproblem bereitet diesmal die in Linkspartei umbenannte PDS mit ihren Spitzenkandidaten Gregor Gysi und Oskar Lafontaine. Bei ihr müssen die Landeswahlausschüsse ähnlich wie bei NPD und DVU prüfen, ob die Linkspartei nicht die neu gegründete WASG über ein verbotenes „Huckepack-Verfahren“ in den Bundestag bringen will und Letztere so die Fünf-Prozent-Klausel umgeht. Dazu der Bundeswahlleiter: „Unser Bundestagswahlrecht lässt nicht zu, dass sich mehrere Parteien zusammentun und eine Landesliste gemeinsam aufstellen.“
Zu prüfen ist weiterhin die Rechtmäßigkeit der Bundestagskandidaturen. Rund 1.900 Kandidaten der Parteien haben sich zur Bundestagswahl 2002 in den 299 Wahlkreisen gestellt, in die das Bundesgebiet aufgeteilt ist, ungefähr die gleiche Zahl findet sich auf den Landeslisten der Parteien. Über 3.500 Bewerbungen für 598 Bundestagssitze im Jahr 2002 – das bedeutete eine Menge Arbeit. Die wird zwar vorrangig in den Kreis- und Landeswahlausschüssen bewältigt – Problemfälle landen dann aber doch beim Bundeswahlleiter.
Schließlich müssen die Wahlhelfer rekrutiert werden. Über 630.000 Bürgerinnen und Bürger helfen am Wahltag ehrenamtlich in rund 80.000 Wahllokalen und etwa 10.000 Briefwahlbezirken, die Stimmen der knapp 62 Millionen Wahlberechtigten (Hahlen: „So viele hatten wir noch nie in Deutschland“) zu sammeln und zu zählen. 2,6 Millionen Deutsche sind zum ersten Mal wahlberechtigt. Immer beliebter wird die Briefwahl. Bei der letzten Bundestagswahl belief sich ihr Anteil bereits auf 18 Prozent, diesmal rechnet Hahlen mit einer ähnlichen Größenordnung: „Die Mobilität ist ja nicht geringer geworden.“
Sorgen, dass es diesmal an Wahlhelfern knapp werden könnte, macht sich der Bundeswahlleiter nicht. Zwar sei ein Ehrenamt an einem ganzen Sonntag nicht sonderlich beliebt, zumal der Bund dafür den Gemeinden pro Kopf nur ein „Erfrischungsgeld“ in Höhe von 16 Euro zahle. Doch würden manche Gemeinden und Städte diesen Betrag verdoppeln oder symbolische Belohnungen wie etwa einen Empfang beim Oberbürgermeister anbieten. Es werde aber sicher wieder genügend Helfer geben, meint Hahlen und bittet die Wahlberechtigten, sich zu einem solchen Einsatz als „Engagement für die Demokratie“ zur Verfügung zu stellen.
Wie die Helfer bei der Auszählung der Stimmzettel in den Wahlurnen umzugehen haben, das ist penibel im Bundeswahlgesetz festgehalten. Zunächst müssen sie feststellen, wie viele Stimmen überhaupt abgegeben wurden. Dann werden die ungültigen und zweifelhaften Stimmzettel aussortiert, weil über sie zum Schluss entschieden wird. Erst dann folgt die Auszählung. Anschließend wird das Ergebnis an den Kreiswahlleiter, den Landeswahlleiter und als Ende der Kette an den Bundeswahlleiter weitergeleitet.
Der Bundeswahlleiter sitzt am Wahltag in den Räumen des Berliner Reichstagsgebäudes und sammelt am Abend und in der Nacht die eingehenden Meldungen. Er ist die zentrale Instanz, die „Spinne im Netz“. Dass viele Forschungsinstitute mit ihren Prognosen und Hochrechnungen schon nach 18 Uhr und Stunden vor ihm auf Sendung gehen, stört Johann Hahlen nicht. Und so wird er am Wahltag des 18. September wieder wie bei der letzten Bundestagswahl voller Aufmerksamkeit und Gespanntheit, aber auch mit Ruhe und Geduld – fast wie im Auge des Hurrikans – in seinem Büro die Datenberge prüfen. Während um ihn herum der Wahlsturm tobt.
Seriosität und Genauigkeit kommen bei Hahlen vor Schnelligkeit. Und deshalb wird es weit nach Mitternacht, bis er mit sonorer Stimme über alle Fernsehkanäle verkündet: „Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen das vorläufige amtliche Endergebnis der Bundestagswahl bekannt.“ Das aber stimmt dann bis aufs Zehntelprozent genau.
Wird ihm nach diesem Satz ein gewaltiger Stein vom Herzen fallen, die Belastung der letzten Wochen abnehmen? Johann Hahlen gibt sich auch hier kühl und pragmatisch. „Das kann schon sein“, sagt er. „Aber richtig befreit fühle ich mich erst, wenn das endgültige Wahlergebnis durch den Bundeswahlausschuss festgestellt ist.“ Anfang Oktober ist dafür ein Termin in seinem Kalender rot angestrichen. Danach geht es in den Urlaub – ob nach Portugal, ist aber noch offen.
Text: Sönke Petersen
Fotos: Photothek, Picture-Alliance, ddp
Erschienen am 13. September 2005