> Unter der Kuppel > Wahlabend 2005
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Im Westflügel staunten und rätselten die Politiker und Journalisten über das Ergebnis, während im Ostteil des Reichstagsgebäudes gerechnet und ausgewertet wurde. Viele Berichterstatter aus Deutschland und aus aller Welt hatten Position bezogen, um live zu berichten und zu analysieren, wohin das Land an diesem 18. September steuert. Spitzenpolitiker aller Parteien standen bereit für die Tour von Studio zu Studio. Und alle warteten auf eines: die Entscheidung der Bürger. Im Ostflügel des Gebäudes hatte der Bundeswahlleiter Quartier bezogen. Die Zahlen aus den Wahlbezirken strömten hier ein, der Wille des Souveräns nahm Gestalt an.
Das geschäftige Treiben ebbt ab, die Gespräche verstummen. Es wird still. Um Punkt 18 Uhr legt sich ungläubiges Staunen wie ein Schleier über die Menschen in der Plenarsaalebene des Bundestages. Fast, als wäre die Zeit stehen geblieben. Soeben haben überall im Land die Wahllokale geschlossen und auf den Monitoren erscheint die erste Prognose für die Bundestagswahl 2005. Überraschende Zahlen, die in dieser Form niemand erwartet hat. Die Republik hält für Sekunden den Atem an.
Zuvor erlebte das Reichstagsgebäude stundenlang ein irrwitziges Durcheinander von Menschen und Material. Ein organisiertes Chaos. Als wäre man auf einem riesigen Filmset gelandet. Dutzende Fernsehteams haben sich seit Tagen auf den großen Wahlabend vorbereitet. Kabel wurden verlegt, Hintergrundkulissen und Scheinwerfer aufgebaut, der Boden poliert und die Technik getestet. Peu à peu hat sich das Parlamentsgebäude in ein riesiges TV-Studio verwandelt.
Dort wo Scheidemann einst die Republik ausrief, hat sich das ZDF aufgebaut. Schräg gegenüber das improvisierte Studio des Senders Phoenix, direkt vor den Türen des Plenarsaals. In der Abgeordnetenlobby durfte sich die ARD einrichten. Im Flur davor reihen sich die Aufnahmeräume der dritten Programme aneinander. In den Kabinen, jeweils kaum größer als ein Zugabteil, bereiten sich die Journalisten auf ihre Liveübertragungen vor. Immer enger werden die noch freien Wege zwischen den Studios. Menschen beladen mit Kopfhörern, Mikrofonen, Kameras oder Kabeln stehen sich gegenseitig im Weg, Praktikantinnen balancieren Tabletts voller Kaffeebecher zu ihren Teams.
Um 15.33 Uhr dann die erste Generalprobe. Bundeswahlleiter Johann Hahlen tritt vor die nationale und internationale Presse und verkündet, wie viele Bürger bis 14 Uhr wählen gegangen sind. Gelassen verteilt ein Mitarbeiter des Wahlleiters die Pressemitteilung mit den Zahlen, die sich nur geringfügig von den Ergebnissen von 2002 unterscheiden. Noch herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Dies ist die Stunde der Wahlbeobachter, Politikwissenschaftler und Analysten, die nun nach und nach vor den Kameras den gerade beendeten Wahlkampf bewerten, Prognosen aufstellen und über Konstellationen spekulieren. Noch 60 Minuten bis zu den ersten Hochrechnungen.
Vor den Türen ist von all dem Trubel nichts zu spüren. Wie immer stehen die Besucher Schlange, um die Kuppel zu besichtigen und am Wahltag etwas von der Spannung im Parlament hautnah zu erleben. Eine Großbildleinwand überträgt das ARD-Programm direkt aus dem Reichstagsgebäude. Wer hier als Spaziergänger die letzten Sonnenstrahlen des Sommers genießt und verweilt, ist über den aktuellen Stand der Analysen und Spekulationen zum Wahlausgang auf dem Laufenden.
Am Ostportal des Reichstagsgebäudes fahren unterdessen bereits die Limousinen vor. Begleitet von Sicherheitspersonal und Mitarbeitern treten die ersten Politiker in die Arena. Die Anspannung ist ihnen anzusehen. Insider munkeln auf den Fluren bereits von Verlusten für die großen Parteien. Vor den Studios der TV-Sender wird es noch enger. Fotografen, Journalisten und Mitarbeiter scharen sich vor die wenigen Bildschirme, auf denen die ersten Zahlen angekündigt sind.
Die Staatsmänner und -frauen bahnen sich ihren Weg durch die Menge, kommen zunächst nur bis zum Schminktisch. Hier werden ihnen Anspannung und Schweiß von der Stirn getupft und aufgeregtes Rot auf den Wangen mit Make-up überdeckt. Assistenten reichen noch ein Glas Wasser für die Stimme, ein Aufnahmeleiter zählt bereits mit seinen zehn Fingern rückwärts. Nur noch wenige Sekunden bis 18 Uhr.
Es ist ganz still. Als hätte jemand auf den Pausenknopf einer der vielen Aufnahmegeräte gedrückt. Doch der Augenblick entschwindet. Ein Raunen hier und da, dann zieht der Lärm wieder ein, mischt sich das flüsternde Gemurmel mit den Geräuschen von Fernsehen und Technik. Die ersten Zahlen, ein erster Eindruck, dann richten die Kameras ihren Blick auf die Politiker. Ihre Statements sind jetzt gefordert. Eine Mitarbeiterin steckt ihrem Chef, dem Berliner CDU-Abgeordneten Günter Nooke noch schnell die Sitzverteilung nach den aktuellsten Prognosen zu, bevor er dem Fernsehsender Phoenix Rede und Antwort steht. Er ahnt bereits, dass er seinen Wahlkreis Pankow gegen Wolfgang Thierse (SPD) verloren hat. Dennoch: Jetzt ist Professionalität gefragt. Die Strahler und das Rotlicht gehen an. Günter Nooke lächelt in die Kamera.
Im Hintergrund schreitet der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), vorbei, auf dem Weg zum ARD-Studio. In seinem Schlepptau die Fraktionschefin von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Jörg van Essen, ordnet sich ebenfalls samt seinem Pressesprecher in die Politikerschlange vor der ARD ein.
Nooke, Wowereit, Göring-Eckardt, van Essen: Sie sind die ersten, die sich wenige Minuten nach 18 Uhr den Kameras und Mikrofonen stellen. Vor ihnen liegt ein Interviewmarathon. Von Sender zu Sender werden die Politiker durchgereicht. Vor beinahe jeder Kamera werden sie nun ihre Einschätzungen zu den Ergebnissen erklären, sich über Gewinne freuen und Verluste interpretieren. Die Zahlen haben alle überrascht, in der Luft liegt eine Mischung aus Ratlosigkeit, Euphorie und Ernüchterung.
Während sich im Westteil des Hohen Hauses die Stimmung erhitzt, ist im Osten des Gebäudes kühles, statistisches Rechnen gefragt. Im abgeschirmten Bereich des Bundeswahlleiters treffen die Ergebnisse aus den Wahlkreisen ein. Etwa zwanzig Statistiker arbeiten an ihren Rechnern, ohne Trubel, ohne Stress. Die Türen sind verschlossen, von der Ungeduld wenige Meter entfernt bekommen sie nichts mit. Es ist ein schöner Zufall, dass die Computer gleich neben dem kirchlichen Andachtsraum im Reichstagsgebäude stehen. Ein gutes Omen vielleicht, denn alles läuft hier nach Plan. Und auch ein bedeutungsvoller Kontrast: Denn nun hilft kein Glauben und kein Hoffen mehr. Die Zahlen der Statistiker zeigen das unumstößliche Urteil der Wähler.
Erst gegen 22 Uhr wird es auch in den TV-Studios ruhiger, die meisten Politiker sind in ihre Parteizentralen gefahren, denn eines ist klar: An diesem Abend wird es keine endgültige Entscheidung über die künftige Regierung Deutschlands geben. Die Anspannung des medialen Großereignisses weicht der Erschöpfung. Die Moderatoren stehen wieder allein an ihren Pulten, eine Regieassistentin hockt auf einer Kabeltrommel, und während neben ihr Journalist Friedrich Nowotny seine Bewertungen des Abends ein letztes Mal in die Kameras spricht, spielt sie Solitär auf ihrem Laptop. Schokolade wird herumgereicht, eine Portion Pommes rot-weiß für den Aufnahmeleiter organisiert und Kaffee – immer wieder Kaffee. Ein Studio nach dem anderen baut die Kulissen ab und macht die Lichter aus.
Doch offiziell wird dieser Abend erst um 1.35 Uhr beschlossen. Bundeswahlleiter Johann Hahlen verliest endlich das vorläufige amtliche Endergebnis der Bundestagswahl 2005. Danach gehen die letzten Scheinwerfer aus. Zum zweiten Mal an diesem Tag wird es ganz still im Reichstagsgebäude.
Text: Birte Betzendahl und Dominik
Ohlig
Fotos: studio kohlmeier, Lichtblick
Erschienen am 12. Oktober 2005