Krise und Umbau des Sozialstaats
Über Parteigrenzen hinweg besteht Konsens: Der Sozialstaat muss, wenn er denn überleben soll, grundlegend "umgebaut", reformiert werden. Die Ursachen hierfür sind bekannt: Das "Normalarbeitsverhältnis" ist keineswegs mehr normal. Damit ist eine Finanzierungsvoraussetzung brüchig geworden. Das Umlageprinzip ist angesichts der demografischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte fragwürdig geworden, die Alterung der Gesellschaft und ansteigende Lebenserwartungen machen die traditio- nellen Grundlagen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, die ein stetiges Wirtschaftswachstum und weitgehende Vollbeschäftigung voraussetzen, inzwischen mehr und mehr obsolet. Obwohl Demografen seit langem darauf aufmerksam machen, hat die Politik auf diese Herausforderungen viel zu zögerlich reagiert und sich vorschnell dem Widerstand von Gruppen gebeugt, die von Veränderungen betroffen gewesen wären.
Probate Lösungen können und wollen die zehn Beiträge dieses Sammelwerks nicht anbieten; sie durchforsten vielmehr das komplexe Terrain, legen dabei Grundstrukturen offen und entwickeln Leitideen für eine Reform des Sozialstaats. Dabei dominiert eine politik- und wirtschaftswissenschaftliche Perspektive, die auch über den nationalen Tellerrand blickt, haben doch alle EU-Länder ähnliche Probleme.
Sehr instruktiv ist daher der Blick auf die unterschiedlichen Lösungsmodelle. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Beiträge die Beobachtung, dass die Orientierung der sozialen Sicherungssysteme am hergebrachten Bild der Arbeitswelt hinfällig geworden ist. Alle vier Grundsäulen des Sozialstaats - so Werner Sesselmeier - bröckeln:
Neben das so genannte Normalarbeitsverhältnis, das auf Dauer und Kontinuität angelegt ist, trat die Teilzeitbeschäftigung; das Modell der "Ein-Verdiener-Familie" ist längst obsolet, obwohl im Steuerrecht immer noch das zweite Gehalt mit hohen Grenzsteuersätzen "bestraft" wird. Das Prinzip der Lebensstandardsicherung ist nicht mehr beitragsfinanzierbar; schließlich fußte die Konstruktion der Sozialversicherungen auf der Annahme der Vollbeschäftigung.
Besonderes Interesse verdienen die Vorschläge für eine "gerechtigkeitsorientierte Beschäftigungspolitik", die Wolfgang Merkel entwickelt. Als makroökonomische Maßnahme schlägt er eine Lockerung der fiskalkonservativen Selbstbindung der europäischen Staaten vor. Immerhin löste die weniger monetaristisch-restriktive Geldpolitik Amerikas Wachstumsimpulse aus, während der europäische Stabilitätspakt erhebliche konjunkturpolitische Risiken birgt. Dieser EU-Stabilitätspakt schreibe bei einem Wirtschaftsabschwung eine prozyklische Konsolidierungspolitik vor, die offenkundig krisenverschärfend wirke.
Als mikroökonomische Maßnahme empfiehlt Merkel eine Deregulierung des Arbeitsmarkts. Gegenwärtig belohnen die Regulierungen des Arbeitsmarkts die Insider, die also über einen Arbeitsplatz verfügen, während die Outsider benachteiligt würden. Merkel plädiert weiterhin für eine Senkung der Lohnsteuern in den unteren Einkommensbereichen und für eine stärkere Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme unter Einbeziehung der Kapitaleinkünfte und indirekter Verbrauchssteuern.
In diese Richtung argumentiert auch Diether Döring: Durch die Kernfinanzierung der Sozialversicherung über lohnbezogene Beiträge wurde das Beschäftigungsverhältnis zum "Lastesel des Sozialstaates" gemacht - eine Entwicklung, die durch den Prozess der deutschen Einigung nochmals verstärkt wurde. Diese Integrationsleistungen hätten eher von allen Bürgern und Bürgerinnen über Steuern finanziert werden müssen. Durch die überzogenen Beitragslasten würden nicht nur Beschäftigungsspielräume reduziert, sondern auch der private Konsum geschwächt.
Europäische Nachbarländer wie die Schweiz, die Niederlande oder die skandinavischen Staaten hätten demgegenüber mittels einer geringeren Belastung der Arbeit und einer Begünstigung der Teilzeitarbeit bessere Beschäftigungsverhältnisse erreicht. Beklagt wird schließlich, dass die geringen Bildungsausgaben sowohl dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit zuwider liefen als auch dem "Standort Deutschland" schadeten, dessen Produktivität durch höhere Bildungsinvestitionen gefördert werden könnte.
Sehr anregend sind auch die Beiträge zur "SPD in der Krise", zur "Europäisierung der Sozialpolitik" sowie die ländervergleichenden Perspektiven. Der Autorin und den Autoren ist es weitgehend gelungen, ihre Analysen einigermaßen gut lesbar und klar strukturiert zu präsentieren - bei der komplexen Materie kein einfaches Geschäft.
Siegfried Frech und Josef Schmid (Hrsg.)
Der Sozialstaat - Reform, Umbau, Abbau.
Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2004; 191 S., 16,80 Euro