Erfahrungen aus der bürgerorientiertesten Kommune Deutschlands
Freiwilliges Engagement und demokratische Teilhabe sind die wichtigsten Kulturelemente der Zivilgesellschaft. Beides ist allerdings nicht selbstverständlich: Mit Anreizen unterschiedlicher Art und Eigeninitiativen der Kommunen können sie effizient gefördert werden. Das nutzt letztlich dem ganzen Gemeinwesen: Engagement und Teilhabe können so zu nachhaltigen Trägern einer belebten Demokratie werden.
Samstagvormittag in einer Kleinstadt, irgendwo in Deutschland. Der Kommunalwahlkampf läuft. Die Passanten eilen mit vollen Einkaufstüten in der Hand über den Marktplatz, um noch schnell etwas zu erledigen. Auf der Bühne steht ein abgekämpfter Landespolitiker, der extra zur Unterstützung des örtlichen Listenkandidaten eingeflogen wurde. In seiner abgelesenen Rede appelliert er an das Verantwortungsgefühl der Mitbürger und ruft alle auf, am Sonntag zur Wahl-urne zu schreiten. Am Ende mündet sein Appell in die Feststellung "Unsere Kommunen, das sind doch die Keimzellen der Demokratie." Vorbeigehende Zuschauer werfen einen Blick auf die Bühne mit dem örtlichen Listenplatzhalter, den sie nicht kennen. Einige klatschen müde.
Diese erfundene Szenerie hat etwas Wahres an sich: Unsere repräsentative Demokratie ist in die Jahre gekommen. Der Mehltau der Parteienverdrossenheit hat sich über das Land gelegt. Mit den alten Mitteln der Wählermobilisierung lockt man heute kaum noch Wähler zur Urne. Die politischen Analysten sind froh, wenn die Wahlbeteiligung in den Kommunen über 50 Prozent liegt. Gleichzeitig belegen repräsentative Umfragen, dass trotz hoher Unzu- friedenheit mit den Leistungen von Spitzenpolitikern in der Bevölkerung eine hohe Wertschätzung der repräsentativen Demokratie besteht. 77 Prozent der Deutschen meinen, dass sie die beste Staatsform ist. Interessant sind auch die hohen Vertrauenswerte, die die lokalen Gemeindeverwaltungen unter den Bürgern genießen: Sie liegen mit 1,2 auf einer Skala von -5 bis +5 ziemlich dicht hinter den Gerichten, die einen Wert von 1,8 erreichen. Nur die Polizei ist mit 2,7 noch besser angesehen.
Stabil geblieben ist die hohe Bereitschaft, sich zu engagieren. Gut 34 Prozent der Deutschen arbeiteten Anfang 2004 in einem Verein oder in freien Initiativen mit, Tendenz: steigend, so eine Studie der Forschungsgruppe Wahlen. Deutschland verfügt über ein enormes Potenzial im Bereich der Beteiligung und des Bürgerengagements, das genutzt werden will. Allerdings wandelt sich deren Struktur: Weg von traditionellen Verbänden, den Kirchen, den Parteien, hin zu innovativeren Formen und zeitlich befristeten, projektbezogenen Engagements. Auch die Rahmenbedingungen und Interessenlagen für Engagement verändern sich.
Unabhängig davon, dass Freiwilligenengagement per se eine schöne Sache ist, hat eine Förderung der lokalen Bürgergesellschaften einen tieferen, demokratischen Grund: Empirisch nachgewiesen ist, dass ehrenamtlich Aktive überdurchschnittlich oft an Parlaments- und Kommunalwahlen teilnehmen und sich intensiver mit Politik befassen als Nicht-Aktive. Bürgerengagement bildet ein positives soziales Umfeld für politische Teilhabe und stärkt so die Demokratie.
Die Bertelsmann-Stiftung hat den Gedanken der Kommunen als "Keimzellen der Demokratie" bereits in den 90er-Jahren aufgegriffen. Im Civitas-Projekt wurde nach dem bundesweiten Wettbewerb "Bürgerorientierte Kommune" 1999 die schwäbische Stadt Nürtingen mit ihren rund 40.000 Einwohnern als Preisträgerin ermittelt und ein Netzwerk von elf bürgerschaftlich engagierten Kommunen gegründet. In Nürtingen sind die klimatischen Bedingungen ausgesprochen gut, nicht nur im meteorologischen Sinne. Über zehn Jahre wurde kontinuierlich in eine auf Engagement angelegte Infrastruktur der Stadt investiert. Das honorieren die Bürger. Der seinerzeitige Oberbürgermeister Alfred Bachofer hat mit den politischen Spitzen des Rathauses ein Klima geschaffen, in dem sich 240 Vereine und 85 freie Bürgerinitiativen tummeln. Gut 40 Prozent der Nürtinger sind engagiert, signifikant mehr als der Bundesdurchschnitt. Auch gewann im tiefschwarzen Nürtingen bei den vergangenen Oberbürgermeisterwahlen von einem Jahr ausgerechnet der SPD-Kandidat Otmar Heirich - weil er das überzeugendere Konzept zum Ausbau der Bürgerkommune hatte.
Die Förderung bürgerschaftlichen Engagements auf breiter Front und ihre Vernetzung mit der herkömmlichen Aufgabenstellung und der Organisation der Kommune ist eine Frage der inneren Haltung, die sich in Nürtingen durch die gesamte Verwaltung gezogen hat, angeführt von einer politischen Spitze mit Visionen. Diese war bereit, in eine bürgerfreundliche Infrastruktur dauerhaft zu investieren. Zum Beispiel, indem man ein städtisches Haus, den "Nürtinger Bürgertreff", eigens als Vernetzungszentrale eingerichtet hat. Der Bürgertreff wird jährlich mit rund 100.000 Euro bezuschusst. Wie ein öffentlich gefördertes Gründerzentrum im Gewerbepark kleinen und mittelständischen Unternehmen beim Aufbau von Firmen und Arbeitsplätzen hilft, so ist der Bürgertreff zugleich Hebamme, Keimzelle und Netzwerk für Bürger- engagement. Zentrale Lage, Ausstattung und Ausstrahlung der Einrichtung laden ein: Fenster ohne Gardinen und helle, freundliche Räume vermitteln den Eindruck, dass Engagierte willkommen sind. Ein hauptamtlicher Beauftragter, der Leiter der Geschäftsstelle für Bürgerengagement, ist der Organisator von Veranstaltungen, Ansprechpartner für Bürger, Verwaltung und Politik und nicht zuletzt auch konzeptioneller Vordenker im Rathaus.
Die gewählten Kommunalpolitiker gehen schon immer im Bürgertreff ein und aus. Sie praktizieren die "kleine Demokratie", die alltägliche Form der Mitwirkung auf vielen, nicht immer politischen Feldern. Hier findet zum Beispiel mehrmals im Jahr der kommunalpolitische Dialog statt, eine Veranstaltungsform zum Ideenaustausch zwischen Politik und Bürgern. Der ganze Titel lautet: "Es dämmert beim Schoppen: Politiker fragen - Bürger antworten". Die ungewöhnliche Konferenz stellt das Klischee auf den Kopf: Wo Politiker sonst immer reden, hören sie zu, und wo Bürger sonst nicht angehört werden, sind sie hier gefragte Experten. Mit kreativer Moderation und in entspannter Atmosphäre wird Verständigung und inhaltlicher Austausch erreicht.
Eine weitere jährliche Veranstaltung ist die Sozialkonferenz. Hier werden, professionell vorbereitet und moderiert, Denkanstöße für das Zusammenspiel von Eigennutz und Gemeinsinn gegeben. Die Konferenz ist als Kooperationsprojekt von städtischen Profis und Bürgern als Experten in eigener Sache konzipiert und liefert am Ende immer einen konkreten Handlungsplan, zum Beispiel zur Gründung eines lokalen Ausbildungs- und Beschäftigungsförderungsnetzes, zur Eröffnung eines integrativen Cafés, wo Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten oder zur Gründung eines Vereins für die mobile Jugend- und Sozialarbeit. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Mitarbeit in Bonn werden begleitende Zukunftskonferenzen mit betroffenen Experten durchgeführt, die die Umsetzung der aufgegriffenen Themen konkretisieren.
Die Nürtinger Politik belässt es nicht bei wohlmeinenden Appellen zur Bürgergesellschaft: Nicht nur durch Ehrungen von Ehrenamtlern wird Dank gespendet. Auch die Nürtinger Wirtschaft zeigt sich spendabel: Seit 1997 gibt es in Zusammenarbeit mit Handel, Banken, Gewerbe, Krankenkassen und Verwaltung den Nürtinger Freiwilligenpass als lokales Bonussystem im Wert von rund 8.000 Euro. Mit diesem Pass kommen Engagierte günstiger ins Kino oder Theater, fahren billiger mit dem Bus und kommen umsonst ins Schwimmbad. Dies sind zwar materielle Belohnungen, doch sie werden in keinem Fall in bar ausgezahlt - das würde dem Sinn des Engagements und dem Anliegen vieler aktiver Bürger widersprechen. Dafür stehen aber einige Vergünstigungen oft in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der Freiwilligenarbeit.
Noch gezielter wird der Nachwuchs herangezogen, indem Nürtingen ganz ungeniert auf die Verbindung zwischen gemeinschaftlichem Engagement und Eigennutz im Fortkommen setzt. Im "Tu-Was-Tagebuch" dokumentieren Schüler und Auszubildende ihr Engagement als Jugendtrainer oder Chormitglied, als Jugendrat oder Streitschlichter. Am Schuljahresende erhalten sie ein Zertifikat zum Nachweis sozialer Kompetenz.
Dieses Verfahren wurde mit der Wirtschaft und den ausbildenden Betrieben der Stadt abgestimmt. Dazu gehört auch das "Azubi-Volunteering" der Firmen, deren Auszubildende in einem Freiwilligendienst soziale Projekte in der Stadt unterstützen. Alle haben etwas davon: Junge Leute lernen dazu, der Zusammenhalt wird gestärkt und die Firmen bekommen vielseitigere Mitarbeiter plus Imagegewinn.
Ein solcher Sozialkompetenz-Nachweis ist transparent und ehrlich, denn er trägt den Motivationsveränderungen in unserer Gesellschaft mehr Rechnung als die goldene Ehrennadel: Immer mehr Menschen kombinieren Engagement mit eigennützigen Zielen. Und speziell Jugendliche sind hier an sehr konkreten Ergebnissen interessiert, sowohl für die Gemeinschaft wie auch für sie selbst.
Was bringt eine solche Beteiligungskultur und kann sich ein Gemeinwesen diesen Luxus überhaupt finanziell erlauben? Städte mit einer aktiven Förderpolitik bauen über die Zeit einen Kapitalstock auf, der sich "social capital" nennt. Dieser wirkt jenseits der Buchhaltung, er steht in keinem Haushalt. Trotzdem besteht die Dividende aus stetigen Rückflüssen: Private leisten etwas für die Produktion öffentlicher Güter und Dienstleistungen. Das können beispielsweise spezielles Wissen, Arbeitszeit, Kreativität und Energie oder auch gestiftetes Geld sein. Wenn auch die Mitarbeit vieler Bürger sich im sozialen oder kulturellen Bereich abspielt, so wird an dieser Haushaltsstelle Geld frei, das an anderer Stelle, etwa in der Stadtentwicklung oder im Schuldenabbau, sinnvoll eingesetzt werden kann.
Nicht zuletzt geht es um den Aufbau des wichtigsten Kapitals der Demokratie, des Vertrauens, das die Politik oft so schmerzlich vermisst. Wie in den Unternehmen auf "corporate identity" gesetzt wird und in das betriebliche Humankapital investiert wird, so muss unser Gemeinwesen in sein demokratisches Kapital investieren. Je größer die Identifikation der Menschen mit ihrem Gemeinwesen ist, desto eher kann Solidarität und Eigenverantwortung wachsen, desto größer ist auch der Sinn für das Politische in unserer Gesellschaft.
An Konzepten und Literatur, wie so die Zivilgesellschaft gestärkt wird, herrscht kein Mangel. Auch engagierte Bürger gibt es überall. Die örtlich "richtige" Förderungsstrategie ist aber leider selten. Und es fehlen in vielen Kommunen allerdings nach wie vor die richtigen Köpfe und die erforderliche Professionalität bei den politischen Initiatoren. Vor allem müssen engagierte Kommunen sich systematisch vernetzen, um sich gegenseitig anzuspornen und voneinander zu lernen. Auch wenn die Bertelsmann-Stiftung in ihrem Civitas-Netzwerk nicht zum Ziel hatte, alle anderen 13.500 deutschen Kommunen und ihre rund 225.000 Kommunalpolitiker so zu überzeugen und zu qualifizieren, dass Nürtingen zum Standard geworden wäre, bleibt dies eine wichtige Vision.
Dr. Andreas Osner ist Mitarbeiter der Bertelsmann-Stiftung und hat dort das Civitas-Projekt betreut.