Damals ... vor 35 Jahren am 31. Juli: Das aktive und passive Wahlalter wird herabgesetzt
Jetz haben Sie es in der Hand." Mit diesen Worten legte Bundespräsident Horst Köhler in seiner Fernsehansprache am Abend des 21. Juli zur Auflösung des 15. Deutschen Bundestages - gemäß des Grundsatzes "Alle Macht geht vom Volk aus" - den Deutschen nahe, sich an den vorgezogenen Neuwahlen am 18. September möglichst zahlreich zu beteiligen. Angesichts steigender Politik(er)-Verdrossenheit und sinkender Wahlbeteiligungen in den vergangenen Jahren ein alles andere als überflüssiger Appell.
An den Bundestagswahlen dürfen sich laut Grundgesetz alle Bundesbürger aktiv und passiv beteiligen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben - das heißt, sie dürfen wählen und selbst gewählt werden. Dieses heute so selbstverständliche Recht galt jedoch nicht immer in der Bundesrepublik. Bis 1970 lag das aktive Wahlrecht noch bei 21 Jahren, das passive sogar bis 1972 bei 21 Jahren. Am 31. Juli 1970 trat jene Grundgesetzänderung in Kraft, die der Deutsche Bundestag am 18. Juni beschlossen hatte und mit der das Alter für das aktive Wahlrecht auf 18 Jahre und das passive Wahlrecht von 25 auf 21 Jahre abgesenkt wurde.
Früher als erwartet dufte die Gruppe der 18- bis 21-Jährigen dann in den vorgezogenen Neuwahlen von 1972 über die politische Zukunft des Landes mitbestimmen - und dies mit Nachdruck. Denn die jungen Erstwähler entschieden sich überwiegend für einen Bundeskanzler Willy Brandt und machten die SPD mit ihren Wahlzetteln erstmals zur stärksten Fraktion im Deutschen Bundestag.
Wie sich die Erstwähler am 18. September dieses Jahres entscheiden werden, bleibt abzuwarten. Die lange Zeit geltende Regel, dass Jugendliche überwiegend "links" wählen, stimmt zumindest nicht mehr. Fest steht nur, dass die vorgezogenen Neuwahlen nicht wenigen Jugendlichen ihren erstmaligen Gang in die Wahlkabine für weitere vier Jahre verwehrt. So zum Beispiel dem heute 17-jährigen Clemens-Daniel Digel, der 2006 hätte wählen dürfen. Doch der Schüler vom Friedrich-List-Gymnasium im baden-württembergischen Reutlingen bleibt gelassen und freut sich über das Wahldatum 18. September 2005: "Das ist besser so für Deutschland."
Der gleichaltrige Maik Vöhringer stimmt ihm zu: "Es ist gut, dass die Wahl schon jetzt stattfindet - auch wenn ich mich schon ärgere, nicht wählen zu können." Nur wenige sehen sich so sehr um ihre Chance gebracht wie Mark Mayer (17): "In vier Jahren bin ich doch nicht mehr jung, dann ist meine Stimme auch nicht mehr die Stimme der Jugend."
Der 17-jährige Carsten Müller hingegen ist nicht traurig, dass er noch nicht an die Wahlurnen darf: "Ich hätte Angst, die Falschen zu wählen."
Die meisten Schüler der 10. und 11. Klasse sind froh darüber, dass mit der vorgezogenen Wahl der politische Stillstand in Deutschland schnell ein Ende haben könnte. "Viele von uns müssen doch nach dem Abitur mit Arbeitslosigkeit rechnen", erklärt Nadine Hanfstein (17). "Ohne eine Senkung der Staatsverschuldung werden wir irgendwann mit den ganzen Miesen zurecht kommen müssen", ergänzt der 16-jährige Stefan Adam.
Wie an den meisten Schulen des Bundeslandes, das noch nicht in den Ferien ist, stand der Politik-Unterricht am Reutlinger Friedrich-List-Gymnasium in den vergangenen Wochen immer wieder im Zeichen der Neuwahl. Die Schüler analysierten die Möglichkeiten, die das Grundgesetz dafür bietet, und lernten die Rollen von Parlament, Präsident und Verfassungsrichtern genau kennen.
"Die Entwicklungen in der Politik waren sehr spannend, wenn auch chaotisch", sagt Hanfstein. "Ich finde es gut, dass Schröder dazu steht, dass etwas schief gelaufen ist", sagt Nils Stadler (16) über den Kanzler. Auch die Fernsehansprache von Bundespräsident Horst Köhler sorgt am Tag danach für Diskussion. "Gut war, dass Köhler das Volk eingebunden hat." Allerdings habe das Staatsoberhaupt einen allzu strengen Eindruck gemacht, meint Mia Wkaschczyk (17). "Als wäre der Papst gestorben", pflichtet Nils Stadler ihr bei.
Ob eine neue Regierung Deutschland wirklich voranbringen wird, darüber herrscht unter den Schülern Uneinigkeit. "Schlimmer als jetzt kann es ja nicht werden - andere Parteien haben andere Konzepte", hofft Mia Wkaschczyk.