Bildungsstandards sollen Vergleichbarkeit herstellen
In Deutsch erwartet er beispielsweise, dass Jugendliche einen populärwissenschaftlich verfassten Zeitungsartikel über Forschungsergebnisse verstehen. Und in Englisch muss es nicht unbedingt Shakespeare sein; vielmehr geht es etwa darum, in einem Gespräch mit einem Kioskverkäufer oder bei einer Unterhaltung über jugendpolitische Themen frei in der fremden Sprache reden zu können.
Was sollen Schüler am Ende der zehnten Klasse in Mathematik oder Deutsch wissen? Wie gut müssen sie Fremdsprachen beherrschen? Was wird von ihnen in Biologie, Physik oder Chemie erwartet? Mit solchen und ähnlichen Fragen befassen sich Köller und seine Kollegen am IQB Tag für Tag. Denn ihr Job ist es, die seit kurzem bundesweit geltenden Bildungsstandards weiterzuentwickeln und später auch zu überprüfen. Die Standards sind ein, wenn nicht gar das zentrale Projekt der Kultusminister der Länder nach dem schlechten Abschneiden Deutschlands bei der internationalen PISA-Studie. Sie definieren, was Deutschlands Schüler in Kernfächern wie Deutsch oder Mathematik am Ende der Grundschule oder nach zehn Schuljahren gelernt haben sollten - egal, ob sie in München, Hamburg oder Berlin wohnen. Leistungen sollen so vergleichbarer werden, aber vor allem soll mithilfe dieser Zielvorgaben das Niveau an deutschen Schulen verbessert werden.
Eine Schlüsselrolle in diesem auf mehrere Jahre angelegten Prozess spielt das IQB. An dem an der Berliner Humboldt-Universität angesiedelten und von den Bundesländern gemeinsam getragenen Institut werden unter anderem Hunderte von Beispielaufgaben für die Standards entwickelt, um so letztlich messen zu können, ob die Schüler die geforderten Leistungen erreichen. Mit den Aufgaben werde illustriert, was Schüler konkret können müssen, sagt IQB-Leiter Köller, der vor seiner Berufung an das neue Institut als Professor für pädagogische Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig war. Denn momentan, räumt er ein, wüssten viele nicht genau, was Bildungsstandards eigentlich seien. Auch die Lehrkräfte hätten bislang nur "grobe Vorstellungen".
Dabei brachte die Kultusministerkonferenz (KMK) das Projekt schon Ende 2003 auf den Weg: Damals beschlossen die Länderminister die ersten Bildungsstandards für die Fächer Deutsch, Mathematik und die erste Fremdsprache, also Englisch oder Französisch, für den mittleren Abschluss nach der zehnten Klasse. Es folgten Vorgaben in Deutsch und Mathematik für die vierte Grundschulklasse sowie zuletzt in den naturwissenschaftlichen Fächern Biologie, Chemie und Physik für die mittlere Reife. Formuliert wurden dabei Regelstandards, die umschreiben, was Schüler in der Regel wissen sollten. Bewusst entschieden sich die Politiker zunächst gegen so genannte Mindeststandards, mit denen ein Minimum an Kompetenzen definiert wird, das die deutschen Schüler beherrschen sollten. Dies erschien den Kultusministern für den Anfang zu gewagt, weil sie die Gefahr sahen, Schüler zu unterfordern oder einen Teil von ihnen zu überfordern. KMK-Generalsekretär Erich Thies hält es derzeit für einen "völlig offenen Prozess", ob irgendwann auf Mindeststandards umgestellt werde.
Auch im Schulalltag sind die neuen Zielvorgaben schon angekommen: Die ersten Standards wurden bereits zum Schuljahr 2004/2005 an den Schulen eingeführt, die übrigen folgen in diesem Sommer. Doch bis das Projekt richtig greift, werden noch zahllose Schulstunden vergehen. Bis 2009 will das IQB Aufgabensammlungen für alle Standards erarbeiten. In Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache sollen die Standards bis dahin auch schon überprüft worden sein. Dies geschieht durch national repräsentative Stichproben - "ähnlich wie bei PISA", wie Köller erläutert. Die Naturwissenschaftler müssen sich noch länger gedulden: In Physik, Chemie und Biologie werde dies wegen der begrenzten Zeit und Ressourcen noch nicht möglich seien, dämpft Köller allzu kühne Erwartungen.
Die Bildungsstandards sind ein langfristig angelegtes Vorhaben: Auch wenn es den erwünschten Erfolg bringt, dürfte sich dies erst in einigen Jahren in einem deutlich höheren Leistungsniveau an Deutschlands Schulen spiegeln. Ein Wundermittel, das die deutsche Bildungsmisere von heute auf morgen heilt, sind sie jedenfalls nicht. Das weiß auch die KMK, an der Notwendigkeit ihrer Einführung besteht dort aber kein Zweifel: "Wir brauchen nationale Bildungsstandards, weil sie eine notwendige Bedingung für den Erfolg sind", zeigt sich KMK-Generalsekretär Thies überzeugt. Ihre Einführung bedeutet nämlich noch mehr, als nur die Leistungserwartungen an Deutschlands Schüler festzulegen.
Dahinter steckt auch die neue Idee von Schulen: Denn diese sollen nicht nur neue Zielvorgaben bekommen, sondern gleichzeitig mehr Eigenverantwortung. Nach Thies Worten geht es um einen Paradigmenwechsel, "weil einerseits Leistungen gemessen werden und andererseits den Schulen mehr Freiheiten gegeben werden". Am Ende müssten sie "Rechenschaft über das Geleistete ablegen", betont IQB-Leiter Köller. Für den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, heißt die Konsequenz daraus, nach der Definition von Standards in den Ländern auch jeweils zentrale Abschlussprüfungen einzuführen. Wer A sage, müsse auch B sagen, sonst bliebe es ein "halbherziger Schritt", sagt der Leiter eines bayerischen Gymnasiums. Während der Freistaat bereits seit Jahren auf zentrale Abschlussprüfungen setzt, folgen nun verstärkt auch andere Länder wie beispielsweise das von der CDU allein regierte Hessen diesem Weg.
Für die Kultusminister aller Länder sind die neuen Bildungsstandards ein Eckpfeiler ihrer Schulpolitik. Wenn nach Reformen nach dem PISA-Schock gefragt wird, kommt früher oder später die Sprache auf die neuen Leistungsziele und den damit verbundenen Systemwechsel. Doch es gibt auch warnende Stimmen. Die Schulexpertin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, sieht in den Standards zwar "ein Werkzeug zur Verbesserung der Schulen und des Unterrichts". Es könne niemand etwas dagegen haben, wenn diese als Fördermittel dienten, um etwa schwächere Schüler oder Schulen zu unterstützen, sagt das Vorstandsmitglied der Gewerkschaft. Doch Demmer treibt vor allem die "große Sorge" um, dass in einigen Bundesländern ihre einzige Funktion darin bestehe, am Ende der Grundschulzeit "die Selektion zu verfeinern".
Dabei taugen die Standards nach Ansicht von IQB-Leiter Köller gar nicht dafür. Die Tests seien für eine Diagnose in Einzelfällen nicht geeignet, mahnt Köller. Denn einzelne Schüler würden manchmal über- oder unterschätzt. So könnten Kinder zum Beispiel schlechter abschneiden, weil sie einen schlechten Tag hätten, unkonzentriert seien oder krank gewesen seien, als der Stoff im Unterricht durchgenommen wurde. Auf der anderen Seite sei es möglich, dass ein Schüler einen guten Ratetag habe. Für das Gesamtergebnis einer ganzen Klasse oder Schule sind diese Messfehler laut Köller dagegen "unproblematisch".
Auch die Fokussierung auf wenige zentrale Fächer stößt nicht auf uneingeschränkte Begeisterung. GEW-Expertin Demmer sieht das Risiko, dass so genannte weiche Fächer wie Ethik, Religion, Musik oder Sport unbedeutend würden. Gleiches gilt aus ihrer Sicht für die politische Bildung oder schwer zu testende Kompetenzen wie Kommunikations- und Teamfähigkeit. Ein ganz handfestes Problem sieht der Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung in Dortmund, Hans-Günter Rolff, wenn die Lehrer nicht für den Umgang mit den neuen Standards ausgebildet werden. Wenn bei der Lehrerfortbildung nichts getan werde, würden die Standards nicht sehr wirkungsvoll sein. Dann könnte es sein, mahnt der Wissenschaftler, dass sie "nicht mehr als Symbolpolitik sind".