Sinkende Schülerzahlen in den alten Bundesländern
Aus pädagogischen Motiven läuft wiederum in Bremen unter SPD-Bildungssenator Willi Lemke und in Hamburg unter der CDU-Ministerin Alexandra Dinger-Dierig nach und nach in Grundschulen ein integriertes Lernen in zusammengefassten Klassenstufen an - was den Nebeneffekt hat, auch den Schülerrückgang besser handhaben zu können. Wegen ausbleibenden Nachwuchses bauen das Saarland und Bremen angesichts überschuldeter Etats Lehrerstellen ab, was im finanziell besser ausgestatteten Hamburg nicht geplant ist.
Allerorten kämpften Bürgerinitiativen mit Protestmärschen, Fackelumzügen und Mahnwachen für die Rettung der "Schule im Dorf", Eltern organisierten Schulstreiks, Massendemos pilgerten durch Saarbrücken, 30.000 Unterschriften standen unter einem auch von SPD, Grünen und FDP gestützten Antrag auf ein vom Innenministerium mit juristisch umstrittenen Gründen abgelehntes Volksbegehren: Aller Widerstand nutzte nichts, die regierende CDU mit Ministerpräsident Peter Müller beschloss aus demographischen Erwägungen und wegen des Spardrucks die Schließung von 80 der 270 Grundschulen - ein Paukenschlag, der in den alten Ländern ohne Beispiel ist. Künftig wird es nur noch mindestens zweizügige Grundschulen geben. Beendet ist der Streit im Übrigen noch nicht. Gegen das neue Gesetz reichten SPD und Grüne Verfassungsklage ein. Jörg Dammann als Vorsitzender der Landeselternvertretung (LEV) kündigte Unterschriftensammlungen für ein zweites Volksbegehren an. Die LEV schaltete den Verfassungsgerichtshof ein, um die Zurückweisung der ersten Volksinitiative durch die Regierung überprüfen zu lassen.
Was im Osten schon lange an der Tagesordnung ist, hat der Konflikt an der Saar erstmals auch im Westen massiv zum Thema gemacht: Welche Konsequenz ist aus sinkenden Schülerzahlen zu ziehen? Die Antwort fällt föderal bunt aus - wobei sich die Debatte vorerst weitgehend auf Grundschulen konzentriert, während östlich der Elbe wegen Geburtenrückganges und Abwanderung bereits weiterführende Einrichtungen dicht gemacht wurden und werden. Plötzlich wird über jahrgangsübergreifenden Unterricht diskutiert. Wird aus demographische Not pädagogische Tugend?
Stohren ist ein schönes Ausflugsziel, viele Wanderer lockt dieses Dörfchen auf Schwarzwaldhöhen. Viel mehr macht diese Ecke unweit von Freiburg freilich nicht her, da sagen sich Fuchs und Hase "Gute Nacht". Gleichwohl hat es Stohren dank Schavan in der Bildungspolitik bundesweit zu Prominenz gebracht: Oft rühmt die CDU-Politikerin die dortige Zwergschule als Musterbeispiel für erfolgreichen jahrgangsübergreifenden Unterricht. Elmar König, Sprecher des Ministerin: "Pädagogisch wirft das keine Probleme auf, man kann mit der Binnendifferenzierung in verschiedenen Lerngruppen operieren."
Angesichts des sich abzeichnenden Rückgangs der Schülerzahlen betont Schavan, "am Prinzip der wohnortnahen Grund- und Hauptschulen insbesondere im ländlichen Raum" festhalten zu wollen. Zu diesem Konzept gehört neben ein- und zweizügigen Schulen gegebenfalls auch die Einrichtung von Kombiklassen der Stufen eins und zwei sowie drei und vier. Allerdings stellt sich diese Aufgabe in Baden und Schwaben erst mit Verzögerung: Die Zahl der Erst- bis Viertklässler wird von momentan 443.000 auf 456.000 im Jahr 2007/2008 klettern, um von da an bis 2015 auf 374.000 zu sinken.
Die Gesamtzahl der Schüler in Bayern wird von jetzt rund 1,4 Millionen bis 2015 auf 1,2 Millionen abnehmen - doch so wenige waren es schon mal Mitte der 80er-Jahre, man hat also Erfahrung. Vor 20 Jahren rückten 103.000 Mädchen und Buben mit der Schultüte zum Ernst des Lebens an, in zehn Jahren werden es 106.000 sein, derzeit üben sich 127.000 Erstklässler im Lesen und Schreiben. Im Kultusministerium sieht man sich für alle Eventualitäten gewappnet: Auch die Möglichkeit, bislang an Grundschulen noch seltene Kombiklassen in ländlichen Regionen vermehrt einzurichten, ist im Gesetz verankert.
An der Saar sinken die Schülerzahlen weitaus drastischer als im Süden der Republik: 1997 pilgerten noch 12.000 Erstklässler zum Unterricht, im Herbst werden es noch 9.000 sein, 2009 gar nur 8.000 - ein Schwund von einem Drittel. Die Fixierung auf zweizügige Grundschulen und die Absage an einzügige Einrichtungen wie an Kombiklassen sei "natürlich auch eine Frage des Sparzwangs", wie Minister Schreiers Sprecherin Annette Reichmann sagt. Das Aus für 80 Grundschulen soll den Landesetat um jährlich zehn Millionen Euro entlasten. Ausgaben kürzen, das Schüleraufkommen in Rechnung stellen, trotzdem etwas für die Qualitätsverbesserung durch eine Aufstockung der Stundenzahlen tun: "Das ist ein Spagat", so Reichmann. Keinen Glauben schenkt Klaus Kessler, Vorsitzender der Saar-GEW, den Versprechungen von mehr "Qualität": In den größeren Klassen hätten Lehrer weniger Zeit für die individuelle Betreuung.
In Nordrhein-Westfalen kalkuliert man angesichts eines mäßigen Sinkens der Zahlen bei Erstklässlern, erst von 2010 an wird sich dieser Prozess etwas beschleunigen, von Ausnahmen abgesehen vorerst nicht mit Grundschulschließungen. In Niedersachsen dürften 2020 rund 300.000 Jungen und Mädchen die Grundschulbänke drücken, momentan sind es 355.000. In den nächsten Jahren werden auf dem Land vielleicht einige Grundschulen organisatorisch unter einem Rektor zusammengefasst, bleiben aber als "Außenstellen" wohnortnah erhalten. In Rheinland-Pfalz verminderte sich die Zahl der Erstklässler von 44.500 (1999) auf jetzt 42.000 nur maßvoll, erst drei von knapp 1.000 Grundschulen wurden geschlossen. Bis 2015 sollen die Einschulungen aber um 18 Prozent zurückgehen. Die Neuorganisationen werden den Schulträgern vor Ort überlassen.
"Kurze Beine, kurze Wege": Dieses Prinzip soll, so Kultusministerin Karin Wolff, für hessische Grundschulen auch in Zukunft gelten, selbst wenn "die Schülerzahlen gerade im ländlichen Raum dramatisch zurückgehen werden". Rettungsanker für den Erhalt möglichst vieler Standorte ist der "flexible Einstieg": Grundschulen können die Jahrgangsstufen eins und zwei zu einer "pädagogischen Einheit" zusammenfassen, die von den Kleinen je nach Leistungsfähigkeit in ein bis drei Jahren durchlaufen werden. Teilweise sollen wie in Niedersachsen mehrere Grundschulen mit gemeinsamer Verwaltung und verschiedenen Dependancen zusammengeführt werden. Nach den Prognosen vermindert sich die Zahl der Erstklässler von jetzt 60.000 bis 2015 auf 55.000, was nicht dramatisch klingt. Allerdings: Während man in der Rhein-Main-Region mit Zuwächsen rechnet, weist der Trend in Nordhessen schon seit Jahren nach unten. Für weiterführende Schulen hat Wolff Mindestklassengrößen festgelegt: Um Schließungen zu vermeiden, soll eine "Schülerlenkung" zwischen stark und schwach ausgelasteten Einrichtungen eine bessere Nutzung des Lehrpersonals erlauben.
Neu gemischt werden unter der großen Koalition die Karten in Schleswig-Holstein. Im Norden dürfte die Zahl der Erst- bis Viertklässler von momentan 118.000 bis 2015 auf 92.000 fallen. Nach den Plänen von Rot-Grün sollte über eine zunächst räumliche und dann inhaltliche Kooperation von Grund-, Haupt- und Realschulen unter einem Dach nach und nach die "ungeteilte Schule" bis zur neunten Klasse heranwachsen. So wollte man auch den Schülerrückgang auffangen. Nun aber soll diese Gemeinschaftsschule vorwiegend aufs Hamburger Umland beschränkt bleiben, ansonsten bleibt es beim dreigliedrigen System - und zu welchen Konsequenzen dort die sinkenden Schülerzahlen führen, muss sich noch erweisen.
Gelassen zeigt man sich in den Stadtstaaten. In Hamburg wird die Zahl der Erstklässler in den nächsten Jahren annähernd stabil bleiben, in Bremen wird das Aufkommen an Grundschülern von jetzt 19.000 auf 17.800 im Jahr 2010 zurückgehen. Neuorganisationen des Schulwesens haben nichts oder nur am Rande mit demographischen Trends zu tun. Indes gehören Hamburg und Bremen zu den Vorreitern beim jahrgangsübergreifenden Unterricht in den ersten Klassen - was das Problem des Schülerrückgangs zu entschärfen hilft. "So können Kinder individueller je nach Leistungsniveau gefördert werden", meint Rainer Gausepohl, Sprecher des Bremer Senators Lemke. In Rheinland-Pfalz plädiert die CDU für eine flexible Eingangsstufe bereits ab fünf Jahren und für altersgemischte Lerngruppen. Zwar ist der saarländische GEW-Politiker Kessler skeptisch gegenüber einer Einschulung schon mit fünf Jahren, sieht aber in Kombiklassen "in pädagogischer und in qualitativer Hinsicht einen Gewinn für alle".
Saar-Minister Schreier begründet das Aus für 80 Grundschulen nicht nur mit demographischen und finanziellen Erwägungen, sondern führt gegen Kombiklassen auch prinzipielle Einwände ins Feld: Die "Begabungsstreuung" werde noch größer, zudem herrsche dort wegen der jährlich neuen Mischung "völlige Unruhe".