Viele Jugendliche wenden sich von der Politik ab, sind aber trotzdem sozial engagiert
Wahlkampf, das heißt für Norman Friske Flugblätter verteilen, Veranstaltungen organisieren, Menschen überzeugen. Seit Wochen schon ist er im sachsen-anhaltinischen Köthen unterwegs. Er wirbt für Angela Merkel, diskutiert über den Aufbau Ost und erklärt Jugendlichen, warum die CDU, sollte sie die Bundestagswahlen am 18. September gewinnen, die Mehrwertsteuer erhöhen will. "Das ist nicht immer einfach", sagt der 21-jährige Student der Betriebswirtschaft. Aber er freut sich schon auf eine CDU-geführte Bundesregierung. "So eine Chance kommt so schnell nicht wieder."
Damit Gerhard Schröder Kanzler bleibt, ist Tobias Schneider kürzlich in Berlin in die SPD eingetreten, trotz Stimmungstief. Dabei ist es nicht so, dass der 22-jährige Geschichtsstudent allem, was die rot-grüne Bundesregierung in den letzten sieben Jahren gemacht hat, kritiklos gegenüber stünde, aber für ihn ist die Mitgliedschaft ein grundsätzliches Bekenntnis. Er sei lange Sympathisant der SPD gewesen, vor allem wegen ihrer Geschichte.
In ihrer Generation sind Norman Friske und Tobias Schneider Ausnahmen. Immer weniger Jugendliche interessieren sich für Politik, immer weniger Jugendliche schließen sich Parteien an. "Das politisches Engagement in Parteien ist out", sagt der Politologe Mathias Albert von der Universität Bielefeld. "Das Interesse von Jugendlichen an Politik geht spürbar zurück." Der Politik-Professor ist Co-Autor der 14. Shell-Jugendstudie. Darin haben die Jugendforscher im Jahr 2002 ermittelt, dass das Politikinteresse von Jugendlichen seit Anfang der 90er-Jahre kontinuierlich gesunken ist. Bezeichneten sich 1991 noch 57 Prozent der Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25 Jahren als politisch interessiert, waren es im Jahr 2002 nur noch 34 Prozent. Bei der Beurteilung politischer und gesellschaftlicher Institutionen schnitten die Parteien im Vergleich mit den Gerichten, der Bundeswehr, den Kirchen oder den Gewerkschaften äußerst schlecht ab. Bei Fragen nach dem Vertrauen lagen sie auf dem letzten Platz.
"Die Trends der letzten Shell-Jugendstudie haben sich fortgesetzt oder gar verstärkt", sagt Mathias Albert heute. "Mit Politik assoziieren die Jugendlichen Parteipolitik." Politikverdrossenheit sei Parteienverdrossenheit, führt Albert aus. Politiker stecken bei Jugendlichen in einer tiefen Vertauenskrise. Nun ist es nicht so, dass Jugendliche mit ihrer Politikerschelte alleine stehen, aber "Jugendliche sind gnadenloser als Ältere", sagt Ulrich Schneekloth von der Infratest Sozialforschung in Münchner. Politikerverdrossenheit sei ein gesamtgesellschaftlicher Trend, aber er sei bei Jugendlichen besonders ausgeprägt.
Das zeigt sich auch beim politischen Abend in der Aula der Herrmann-Ehlers Oberschule in Berlin-Steglitz, einem alteingesessenen Gymnasium im bürgerlichen Süden der Hauptstadt. Anderthalb Stunden diskutieren die vier örtlichen Direktkandidaten vor 400 Schülern, solche Podiumsdiskussionen vor Bundestagswahlen haben dort schon Tradition. Aber in diesem Jahr bringen die Schüler den Politikern lediglich geduldiges Desinteresses entgegen. Sie hören artig zu und spenden höflich Beifall. Erst traut sich niemand, dann ringen sich ein paar Schüler zu Fragen durch, zur Mehrwertsteuer, zu Studiengebühren oder zu Arbeitsplätzen. Kaum ist die Podiumsdiskussion beendet, drängen die Schüler aus dem Saal. Zwar hat jede Partei unter ihnen Anhänger, es gibt Schüler die Gerhard, Angela, Guido, Joschka oder Oskar wählen wollen. Vor der Aula verteilen sie eifrig Flugblätter. Doch viele Mitschüler winken ab. "Die machen doch was sie wollen", sagt die 17-jährige Sonja. "Die können mich mal", der 18-jährige Hauke.
"Die Jugendlichen in Deutschland trauen der Politik keine Kompetenz zu", sagt Jugendforscher Ulrich Schneekloth und er nennt dafür vor allem zwei Gründe: Erstens erreiche die Politik, so wie sie sich öffentlich darstelle, die Jugendlichen nicht mehr. Zweitens hätten die Parteien einen Nachholbedarf in Sachen Beteiligungsformen. "Politik funktioniert in festgefahrenen parteipolitischen Strukturen", sagt Schneekloth, doch viele Jugendlichen hätten keinen Bock auf die monatliche Sitzung des Ortsvereins oder auf Plakate kleben. "Praktisch jedoch unternehmen die Parteien wenig, um Jugendliche einzubinden, um lose Formen des Mitmachens zu entwickeln, um sie mit niedrigschwelligen Angeboten für die Politik zu gewinnen." Ähnlich sieht das Mathias Albert. Parteien versuchten Jugendliche sofort in die Jugendorganisation oder den Ortsverein zu integrieren. "Das schreckt ab."
Für Sozialforscher sind Jugendliche "politische Seismografen", die Rückschlüsse auf den Zustand und die Entwicklung der gesamten Gesellschaft erlauben. Für sie ist die Stimmung unter Jugendlichen ein Alarmsignal, auch wenn die Politikerverdrossenheit bislang nicht mit Demokratieverdrossenheit einhergeht. 74 Prozent der Westdeutschen und 59 Prozent der Ostdeutschen halten die Demokratie laut der letzten Shell-Jugendstudie für eine gute Staatsform. Doch es gibt Warnzeichen, die zeigen, auch die Zustimmung zur Demokratie muss nicht von Dauer sein. Vor allem in Ostdeutschland, wo die Wiedervereinigung und ihre Folgen nachwirken. Für 17 Prozent der ostdeutschen Jugendlichen ist Demokratie eine "nicht so gute Staatsform". Dass sich dies auch bei Wahlen niederschlagen kann, zeigten im September 2004 die Landtagswahlen in Sachsen als 21 Prozent der Erstwähler die NPD wählten.
Die Jugend ist im Umbruch: Zwei Generationen lang galten Jugendliche als links. Politisches Engagement war identitätsbildend. 1968 rebellierten Studenten gegen die große Koalition, anschließend verhalfen sie dem ersten sozialdemokratischen Nachkriegskanzler Willy Brandt ins Kanzleramt, in den 80er-Jahren demonstrierten viele Jugendliche gegen Atomkraft und für den Frieden. Die Grünen wurden überproportional von Jungwählern unterstützt. Noch 2002 stimmten 51 der Erstwähler für Rot-Grün. Das ist inzwischen anders.
Die Jugendlichen wenden sich mehrheitlich den Werten zu, die die 68er bekämpft haben: Treue, Fleiß und Familie. In einer Forsa-Umfrage für das Magazin Stern bekennen sie sich mehrheitlich zur Ehe (87 Prozent), zu Kindern (91 Prozent) und zur großen Liebe (80 Prozent). In Zeiten neuer gesellschaftlicher Unübersichtlichkeit und ökonomischer Krise suchen die Jugendlichen Halt. Ein Wertewandel, der sich vermutlich auch bei den Bundestagswahlen am 18. September niederschlagen wird. Bis zu 55 Prozent der Erstwähler könnte aktuellen Umfragen zu Folge b ei den Bundestagswahlen ihr Kreuz bei den beiden bürgerlichen Parteien CDU und FDP machen.
Trotzdem warnt der Jugendforscher Mathias Albert davor, den Wertewandel mit einem Wiedererstarken eines politischen Konservativismus gleichzusetzen. Die heutige Jugend sei in dem Sinne konservativ, dass traditionelle Werte wieder auf dem Vormarsch seien. Dies entspreche aber nicht einem konservativen politischen Weltbild. "Ideologie spielt bei den Jugendlichen keine Rolle mehr", sagt Mathias Albert. "Die Jugendlichen denken immer weniger entlang etablierter Links-Rechts Schemata." Für Ulrich Schneekluth ist der Wertewandel bei der Jugend trotzdem eine Antwort auf die 68er, eine Antwort "auf die überbordende Individualisierung der Elterngeneration". Zudem habe die heutige Jugend nicht deren Sendungsbewusstsein.
Heike Peters kann sich vor allem "nicht entscheiden". Sie will am 18. September in jedem Fall wählen gehen, nur was sie wählen wird, "das weiß ich noch nicht", sagt sie. Nach welchen Kriterien sie entscheiden will, das bleibt unklar. Die einzige Antwort ist ein Achselzucken. Dabei hätte die 20-jährige Auszubildende an diesem Samstag in Lüneburg jede Gelegenheit sich zu informieren. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht stehen die Infostände der fünf Bundestagsparteien von Linkspartei bis CDU in der Fußgängerzone. Bundestagsabgeordnete und Kandidaten stehen Rede und Antwort, es gibt Programme und Plakate, Kugelschreiber und Luftballons. Heike Peters geht an allen achtlos vorbei. "Mit denen will ich nichts zu tun haben", sagt sie.
Dabei ist Heike Peters durchaus engagiert. Sie singt im Kirchenchor und betreut in ihrer Freizeit gelegentlich eine Kindergruppe in ihrer Gemeinde. Das auch dies etwas mit Politik zu tun haben könnte, weist sie weit von sich. Für den Sozialforscher Ulrich Schneekloth ist dies typisch. Viele Jugendliche erklärten, dass sie kein Interesse an Politik hätten, gleichzeitig seien sie gesellschaftlich aktiv, in der Schule, im Jugendklub oder der Freiwilligen Feuerwehr. "Der Trend geht in die Richtung, sich zu engagieren", sagt Ulrich Schneekloth, auch wenn dieses Engagement nicht im engeren Sinne politisch motiviert und begründet sei. Trotzdem: "Solches Engagement ist gesellschaftspolitisch relevant", betont Ulrich Schneekloth. "Es fördert soziale Bindungen und liefert den sozialen Kitt, den die Bürgergesellschaft braucht."