Studentenorganisation einmal anders - die Freistudenten-Bewegung
Zehn Jahre hat es gedauert, bis die Hannoveraner Dissertation von Ulrich Wipf nun endlich in der Edition "Archiv der deutschen Jugendbewegung" einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden konnte. Etwas überspitzt könnte man sagen: Wipf knüpft dort an, wo die zahlreichen Retrospektiven auf die Anfänge des Wandervogels und damit der bürgerlichen Jugendbewegung aufhören: nämlich lebensgeschichtlich beim Übergang vom Gymnasium zur Universität, und er bietet instruktive Einblicke in das Milieu der so genannten "freistudentischen Bewegung", die allerdings mehr intendierte als die Fortsetzung der Wandervogel-Ideen auf nun akademischem Niveau. Die sich Ende des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit dem Wandervogel formierende Studentenbewegung blieb zwar immer eine Minderheit und sollte doch das studentische Leben an den deutschen Universitäten nachhaltig verändern. Ihr Aufbruch stand in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen der bürgerlichen Reformbewegungen an der Wende zum 20. Jahrhundert.
Gegen die Dominanz der überkommenen Burschenschaften und Kooperationen mit ihren antiquierten Ritualen und Repräsentationsansprüchen, versuchten die Freistudenten alle Nichtverbindungsstudenten zu organisieren, denn deren Interessen und Bedürfnisse waren bis dahin von der Studentenpolitik ignoriert worden. Der 1900 gegründete Verband "Deutsche Freie Studentenschaft" bildete die organisatorische Plattform für die reichsweite Ausdehnung einer Bewegung, die mit 35 Hochschulorganisationen um 1911 ihren Höhepunkt erlebte. Aber im Gegensatz zu den Anhängern der Jugendbewegung und Verbindungen förderten die Freistudenten bewusst die soziale Heterogenität ihrer Gruppen.
Wipf legt mit seinem Buch die erste umfassende Untersuchung dieser Reformbewegung vor, die die antidemokratische und antiliberale Kontinuität der deutschen Studentengeschichte relativiert. Später bekannt gewordene Wissenschaftler wie Walter Benjamin, Siegfried Bernfeld, Karl Korsch, Kurt Lewin, Martin Buber, Wilhelm Flitner, Alexander Schwab, Hans Reichenbach oder Walter A. Berendsohn zählten zu ihren Mitgliedern. Freilich wurde nahezu allen liberalen Reformbestrebungen der Freistudenten die institutionelle Anerkennung seitens der Universitäten versagt, wenngleich sie auch von einzelnen namhaften Professoren unterstützt wurden. Und dennoch war die Bewegung nicht einfach Opfer politischer und bürokratischer Willkür, sondern sie scheiterte auch an inneren Widersprüchen und ungeklärten Grundüberzeugungen.
Differenziert in der Argumentation, materialreich in der Beschreibung gelingt dem Autor eine faszinierende Rekonstruktion der Organisationsgeschichte der freistudentischen Bewegung, ihrer Milieus und ihrer Mentalitäten und vor allem ihrer Sozialstruktur. Im Unterschied zu den Korporationen wiesen die Freistudenten eine breite soziale Streuung auf, wobei die Söhne aus dem Bildungsbürgertum überrepräsentiert und jene aus dem Besitzbürgertum deutlich unterrepräsentiert waren. Bemerkenswert und folgenreich waren ihre zahlreichen volksbildnerischen und sozialreformerischen Initiativen sowie ihr Beharren auf einem Allgemeinbildungskonzept in der Tradition Wilhelm von Humboldts, das sich gegen eine zunehmende Spezialisierung und Professionalisierung des zur Massenuniversität mutierenden deutschen Hochschulbetriebes richtete.
Ob allerdings die freistudentische Bewegung sich so problemlos als historisches Bindeglied zwischen den Urburschenschaften und der bundesdeutschen Studentenrebellion der 60er-Jahre verorten lässt, wie Wipf dies behauptet, bedarf noch weiterer Forschungsanstrengungen. Gegenwärtig ist die These noch mit einem Fragezeichen zu versehen.
Hans-Ulrich Wipf
Studentische Politik und Kulturreform.
Geschichte der Freistudenten-Bewegung 1896 bis 1918.
Wochenschau-Verlag, Bad Schwalbach/Ts. 2004; 309 S., 24,80 Euro