Zeitzeugen berichten über ihre Grenzgänge
Es sind chronologisch geordnete Beiträge, die diese Anthologie als Band 19 der Reihe "Zeitgut" vorweist. Von der Schreibmentalität her durchaus unterschiedlich strukturiert und hinsichtlich des sprachlichen Ausdrucksvermögens auf unterschiedlichem Niveau stehend, sind sie der übergreifenden Thematik "Mauer-Passagen" allesamt verpflichtet. Der Band beginnt unter der Überschrift "Allein auf weiten Fluren" mit Beobachtungen eines damals jungen Journalisten, der im Team des amerikanischen Senders RIAS arbeitete und der angesichts der ersten Nachrichten über die einsetzende Abriegelung Ostberlins das tatenlose Schweigen der Schutzmacht nicht verstand.
Für Hermann Meyn, viel später Honorarprofessor an der Universität Hamburg, waren die Stunden zwischen dem 12. und 13. August 1961, als die Berliner Mauer gebaut wurde, "die Nacht der Nächte". "Um 7 Uhr bin ich mit einem Taxi zum Brandenburger Tor gefahren. Dort sah ich mit Wut und Trauer und Enttäuschung, wie Angehörige der Grenztruppen der DDR mit Presslufthämmern den Asphalt vor dem Tor aufbohrten. Ich sah tatenlos zu, und eine andere Verhaltensweise wäre wider alle Vernunft gewesen. Aber das Hämmern klingt mir noch heute in den Ohren, wenn ich an den 13. August 1961 denke."
Beschlossen wird der Band mit der eindrucksvollen Schilderung der dramatischen Ereignisse des Herbstes 1989 im Osten Deutschlands. Roland Walter, erst Lehrer, dann Lektor in Leipzig, beschreibt unter dem Titel "Ein Traum wird wahr" auf recht plastische Weise die sich überstürzenden Vorgänge zwischen Resignation und Aufbruch, wie er sie in der sächsischen Metropole hautnah miterlebt hat. Darin eingeflochten sind persönliche Rückblicke bis hin zum Bau der Mauer, als der Autor zehn Jahre alt war, sowie einige facettenreiche Schilderungen des DDR-Alltags. Der Bericht endet mit dem letzten Tag des Jahres 1989: "Als wir am Abend die begeisternden Szenen der Silvesternacht am offenen Brandenburger Tor in Berlin sahen, umarmten wir uns, empfanden innere Rührung. Nie und nimmer hätte ich vor Jahresfrist das alles für möglich gehalten! Ich musste an die bewegenden Worte Willy Brandts vom 10. November denken: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!"
Längst nicht alle der in diesem Band enthaltenen 48 Erinnerungen aus Ost und West, die sicherlich um tausende Beispiele hätten erweitert werden können, atmen diesen Geist der unmittelbaren Betroffenheit. Wie Ingrid Hantke und Jürgen Kleindienst in ihren Vorbemerkungen einräumen, mag "mancher Familienbesuch in der Schilderung" aus heutigem Empfinden banal wirken. Aber die trotz aller Schikanen nie verebbte Kommunikation zwischen Verwandten und Freunden diesseits und jenseits der menschenverachtenden Grenze sowie die gegenseitigen Besuche, so sie denn in den 80er-Jahren zunehmend gestattet wurden, haben erheblich dazu beigetragen, schließlich die staatliche Einheit zu realisieren. Obwohl wir immer noch erleben, dass die innere Zusammengehörigkeit in der wiedervereinigten Bundesrepublik noch längst nicht erreicht ist. Aus dieser Sicht leistet die Anthologie einen bemerkenswerten Baustein zum kaum überschaubaren Mosaik authentischer Stimmen von Zeitzeugen, ohne dafür das Kriterium des Spektakulären anzustreben oder gar zu beanspruchen.
Hervorgehoben werden muss, dass die Publikation eine hervorragend zusammengestellte Chronologie der politischen Ereignisse von 1961 bis 1989 enthält, in der auch die Vorgeschichte ab dem 1. September 1939, dem Tag, als der Zweite Weltkrieg begann, ihren gewichtigen Platz besitzt. Hinzu kommen ein Verzeichnis der Orte und Angaben über die Verfasser, die sich nur in einem Fall auf die bloße Nennung des Namens beschränken. Eine Landkarte, die den einstigen Riss durch das Land markiert, sowie etliche SchwarzWeiß-Fotos, zumeist aus dem Besitz der Verfasser, vermitteln visuelle Vorstellungen.
Jürgen Kleindienst (Hrsg.)
Mauer-Passagen. Grenzgänge, Fluchten und Reisen 1961 bis 1981. Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
Zeitgut Verlag, Berlin 2004; 362 S., 18,90 Euro