Visa-Untersuchungsausschuss beendet seine Arbeit
Es hatte den Anschein, als seien manche Mitglieder des Visa-Untersuchungsausschusses mit ihren Gedanken woanders. Dabei absolvierten sie gerade den parlamentarischen Höhepunkt ihrer monatelangen und von einem erheblichen Arbeitspensum getragenen Untersuchung: Am 7. September präsentierten sie dem Plenum des Bundestages ihren über 800 Seiten starken Sachstandsbericht, der die Ergebnisse aus über 58 Zeugenbefragungen und 1.600 Aktenordnern zusammenfasste. Es war die letzte Sitzung des Parlaments vor den Neuwahlen, es war der letzte Tagesordnungspunkt des Tages, dessen Zenit mit dem Schlagabtausch zwischen Bundeskanzler Schröder und seiner Herausforderin Merkel schon einige Stunden zurück lag. Irgendwie schien die Luft raus, die Monate zuvor so heftig in diesen Ausschuss hineingepumpt woren war.
Eine neue Form von Menschenhandel, gar "Sklavenhandel", hatte die Opposition Ende vergangenen Jahres am rot-grünen Horizont entdeckt. Möglich geworden durch eine Visapraxis an deutschen Botschaften, für die die Politik der Bundesregierung seit 1998 verantwortlich gewesen sei, so der Vorwurf von Union und FDP. Handelnde Hauptpersonen: Außenminister Joschka Fischer, Innenminister Otto Schily und der damalige grüne Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer.
Im Zentrum der Debatte stand, neben anderen Erlassen von 1999, der von Union und FDP so genannte Volmer-Erlass vom März 2000. Das von Volmer angeregte und von Fischer unterzeichnete Dokument des Auswärtigen Amtes (AA) hatte den Ermessensspielraum der deutschen Vertretungen im Ausland erheblich erweitert. In der Prüfung von Reisezweck und Rückkehrbereitschaft, Voraussetzungen für eine Visumserteilung, wurden die Auflagen gelockert. Im Zweifel sollten die Botschaftsmitarbeiter für die Reisefreiheit der Antragstellenden entscheiden. Tatsächlich waren die Visa-Anträge seitdem vor allem in Osteuropa erheblich angestiegen, besonders dramatisch an der Botschaft in Kiew. Tatsächlich hatte das Bundeskriminalamt (BKA) Visa-Erschleichungen als neue Form der Schleuserkriminalität festgestellt. Union und FDP machten deshalb vor allem die Erlasslage des AA verantwortlich, massenhaften Missbrauch von Einreisegenehmigungen begünstigt zu haben. Auf diese Weise sei nicht nur Schwarzarbeit und Zwangsprostitution begünstigt, sondern auch die Sicherheit der Bundesrepublik insgesamt gefährdet worden. Ihnen ging es um die politische Verantwortung des Außenministers.
"In dubio pro libertate": Um diesen Satz des Erlasses drehte sich seitdem die Spirale der Zeugenvernehmungen und Aktendurchsichten. Hat er die Beamten in den Visastellen nun von der Pflicht entbunden, Anträge ausreichend auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen oder nicht? Die Opposition und mit ihr einige der vernommenen Zeugen bejahten dies. Die Regierungsparteien, andere Zeugen an ihrer Seite, verneinten dies.
Nicht weiter ungewöhnlich ist deshalb, dass die Bewertung der Ergebnisse, die der Sachstandsbericht enthält, je nach Perspektive, eine völlig andere ist. Für Rot-Grün steht fest: "Eine Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben." Weder gebe es Belege für einen massenhaften Kriminalitätsanstieg, noch ließe sich ein Zusammenhang zwischen "Unregelmäßigkeiten bei der VisumsErteilung" und Schwarzarbeit, Prostitution und Menschenhandel nachweisen. Zahlen für diesen behaupteten Zusammenhang sucht man in dem umfangreichen Bericht tatsächlich vergebens. Statt dessen heißt es im Kapitel über legendierte Schleusungen: "Erkenntnisse zum Umfang illegaler Schleusungen sind schwer zu gewinnen. Dies beruht darauf, dass es sich bei der legendierten Schleusung um ein so genanntes ,Kontrolldelikt' handelt, dessen statistische Erfassung schwierig ist." Kontrolldelikte sind Straftaten, die erst durch Kontrollen der Behörden erfasst werden - und ohne Kontrolle bleiben sie eben unbemerkt. Und weiter stellt der Ausschuss fest: "Ähnliche Schwierigkeiten bereitet die Frage nach Verbleib und Schicksal der geschleusten Personen nach ihrer Einreise in den Schengen-Raum." Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) könne dafür keine hinreichenden Erkenntnisse liefern, denn sie enthält nur bekannt gewordene Straftaten und keine Angaben über das Dunkelfeld. Der Bericht resümiert, dass nur eine Dunkelfeldforschung hier entsprechende Aufklärung bieten könne, Untersuchungen in diesem Zusammenhang aber nicht existierten.
Auch die Opposition räumt in ihrem Sondervotum ein: "Die Höhe des tatsächlichen materiellen Schadens für Deutschland ist umstritten. Über die Zahlen, die Schwarzarbeit, Schleuserkriminalität und Zwangsprostitution widerspiegeln, gibt es unterschiedliche Auffassungen, auch unter Experten." Dennoch lässt sie keinen Zweifel: "Das Auswärtige Amt und Bundesminister Joseph Fischer haben durch eine verfehlte und ideologisch motivierte Visa-Politik Schleppern und Menschenhändlern ihr Handeln erleichtert."
Der von der Opposition vermutete Skandal, nachdem die Erlasslage des AA direkt für eine Zunahme von Menschenhandel und Schwarzarbeit verantwortlich sei, lässt sich nicht belegen. Unbestreitbar ist indessen, dass das AA durch unklare Formulierungen in verschiedenen Erlassen dazu beigetragen hat, die Situation an deutschen Botschaften zu verschärfen. Menschenschlangen, Abfertigung im Minutentakt, Überforderung der Mitarbeiter und nicht zuletzt Visamissbrauch in großem Umfang gehen auch auf das Konto so schwammiger Sätze wie "im Zweifel für die Reisefreiheit". Viel zu lang hat es zudem gedauert, bis auf die Mängel entsprechend reagiert wurde - auch deshalb, weil offenbar innerhalb des Außenministeriums erhebliche Kommunikations- und damit Organisationsmängel existierten. Dies alles ist durch die Arbeit des Ausschusses öffentlich gemacht worden. Es waren mehr als nur "Versäumnisse", wie es die Koalitionsfraktionen in ihrer Bewertung formulieren. Dafür ist Fischer zu Recht in Rechtfertigungszwang geraten. Sein Zögern, sich zu den Vorgängen zu äußern, hat sein Image als beliebtester Politiker des Landes zeitweise beschädigt. Dauerhaft diskreditieren konnte der Ausschuss aber weder ihn noch Innenminister Schily, dessen Behörde zwar die Visa-Praxis jener Zeit kritisiert aber letztendlich nichts Konkretes dagegen unternommen hatte.
In die Geschichte wird der Visa-Untersuchungsausschuss aber aus einem ganz anderen Grund eingehen. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik wurden Sitzungen eines solchen Gremiums live im Fernsehen übertragen. Über zwölf Stunden konnte man dabei zusehen, wie Joschka Fischer sich in Demut übte, Fehler seines Ministeriums, auch persönliche, einräumte und sich dennoch nicht aus der Ruhe bringen ließ. Seine Vernehmung blieb der Höhepunkt des Ausschusses. Anschließend verloren die Medien nach und nach das Interesse, bis sich die Gedanken sämtlicher Politiker und Berichterstatter nur noch um eines drehten: um die Neuwahlen des Bundestages.