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„Kampf dem Angstsparen“, „Berlin kündigt Stabilitätspakt auf“ oder „Steuerschätzung offenbart Milliardenlöcher“. Schlagzeilen wie diese bestimmten in den vergangenen Wochen die innenpolitischen Nachrichten. Was aber hat das Sparverhalten der Deutschen mit dem europäischen Stabilitätspakt zu tun oder mit den Milliardenlöchern in den öffentlichen Haushalten? Was ist eine Steuerschätzung? Und was bedeuten die Haushaltslöcher wiederum für den Bürger?
Um die vielfältigen Zusammenhänge zu erklären, soll bei den Steuereinnahmen begonnen werden. Bund, Länder und Gemeinden können ihre diversen Aufgaben nur erfüllen, wenn sie über ausreichende Einnahmen verfügen. Dabei spielen die Steuern neben Gebühren, Beiträgen und Krediten die größte Rolle. In Deutschland gibt es derzeit mehr als 30 Steuerarten, wobei der Großteil der Staatseinnahmen nur aus wenigen Steuerquellen sprudelt. Die ergiebigsten sind die Umsatz- sowie die Lohn- und Einkommensteuer. Deren Aufkommen summiert sich auf rund 250 Milliarden Euro pro Jahr. Werden noch die drei nächstgrößeren Steuerquellen – Mineralölsteuer, Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer – hinzugerechnet, dann sind bereits vier Fünftel der gesamten Steuereinnahmen in Höhe von rund 460 Milliarden Euro jährlich zusammen.
Die Einnahmen aus einer Steuer stehen entweder einer der drei Gebietskörperschaften – also Bund, Ländern und Kommunen – allein zu, oder es handelt sich um so genannte Gemeinschaftssteuern. So kassiert beispielsweise der Bund die Tabaksteuer allein, während die Kfz-Steuer ausschließlich in die Kassen der Länder fließt. Umsatzsteuer, Lohn- und Einkommensteuer, Zinsabschlagsteuer und Körperschaftsteuer werden dagegen in bestimmten Verhältnissen aufgeteilt.
Aus den Steuereinnahmen werden Straßen und Schulen gebaut, Polizei und Bundeswehr finanziert oder die Sozialhilfe bezahlt. Reichen die Einnahmen nicht aus, müssen Kredite aufgenommen werden. Das ist unproblematisch, solange sich die Verschuldung in einem überschaubaren Rahmen hält. Doch das ist seit einigen Jahren nicht mehr der Fall.
Derzeit steigen die Schulden der öffentlichen Haushalte nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler pro Sekunde um 2.186 Euro. Am Ende des Jahres werden es danach 1.399.088.061.230 Euro, also rund 1,4 Billionen Euro sein. Um eine anschauliche Vorstellung von dieser unfassbar großen Zahl zu gewinnen: Würde man die öffentliche Hand verpflichten, ab sofort keine neuen Schulden aufzunehmen und jeden Monat eine Milliarde Euro zu tilgen, so dauerte es 110 Jahre, um den Schuldenberg abzutragen.
Wie dramatisch die Situation ist, zeigt auch der Haushalt von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD). So gibt der Bund im Jahre 2004 etwa 40 Milliarden Euro – das ist jeder sechste Euro aus dem Haushalt – für Kreditzinsen aus. Die Zinsen für die gesamten Bundesschulden in Höhe von rund 790 Milliarden Euro stellen nach dem Zuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung den zweitgrößten Kostenblock dar. Zum Vergleich: Für Bildung und Forschung sind lediglich acht Milliarden Euro reserviert. Das zeigt, wie stark die Handlungsfähigkeit des Staates schon jetzt durch die hohe Verschuldung eingeschränkt ist. Außerdem gilt nach Ansicht vieler Ökonomen der Satz „Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen“. Denn irgendwann muss der Staat die Steuern anheben, um die Kreditzinsen noch bezahlen zu können.
Der extreme Anstieg der Verschuldung in den vergangenen Jahren liegt allerdings nicht nur am mangelnden Sparwillen der Regierungen in Bund und Ländern, sondern vor allem an der schwierigen Konjunkturlage. Deutschland befindet sich seit drei Jahren in einer Stagnation, das heißt, die Wirtschaft wächst nicht mehr. Erkennbar ist das an der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes, also des Wertes aller in einer Volkswirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen. Die Folgen der Stagnation sind: Die Arbeitslosigkeit verharrt weiter auf einem hohen Niveau, die Unternehmensgewinne sowie die Einkommen der Arbeitnehmer steigen nur wenig oder gar nicht. Das führt zwar nicht automatisch zu neuen Haushaltslöchern. Da die Bundesregierung aber bei ihren Etatplanungen stets von höheren Wachstumsraten ausgegangen ist, wird die Schere zwischen den eingeplanten Einnahmen und Ausgaben und den tatsächlichen Werten immer größer.
Verschärft wird die Situation durch das so genannte Angstsparen. Die Bürger sind durch die Reformbeschlüsse der Bundesregierung in den Bereichen Rente, Arbeitsmarkt und Gesundheit tief verunsichert, wie die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten analysierten. Statt das Geld für Waren oder Dienstleistungen auszugeben, sparen die Bürger. So stieg die Sparquote – sie bezeichnet den Anteil der Ersparnisse am verfügbaren Einkommen – von 9,6 Prozent Ende 2000 auf 10,8 Prozent im Jahre 2003. Während die privaten Haushalte in Deutschland 2002 noch 146 Milliarden Euro auf die hohe Kante legten, waren es vergangenes Jahr schon 151,3 Milliarden. Das sorgt für leere Kassen beim Handel und verstärkt damit die ohnehin bereits bestehende Wirtschaftsflaute.
Wie sich Stagnation und Angstsparen auf die Steuereinnahmen auswirken, hat die Steuerschätzung im Mai gezeigt. So haben die Steuerexperten von Bund, Ländern, Bundesbank, Statistischem Bundesamt und Wirtschaftsforschungsinstituten auf ihrer traditionellen, drei Tage dauernden Sitzung errechnet, dass bis 2007 die Einnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden um insgesamt 61 Milliarden Euro niedriger sein werden als geplant. Allein beim Bund summieren sich die Ausfälle 2004 und 2005 auf 17,6 Milliarden Euro, obwohl schon in diesem Jahr mit einem Anziehen der Konjunktur gerechnet wird. Dennoch bleiben die Löcher groß, weil die drei Stagnationsjahre nachwirken. Das liegt am so genannten Basiseffekt: Läuft die Konjunktur in einem Jahr schlechter als erwartet, macht sich das bei den Steuereinnahmen auch in Folgejahren negativ bemerkbar.
Neben den Steuermindereinnahmen kommen beim Bund weitere Faktoren hinzu, die das Haushaltsminus vergrößern. Dazu zählen die weiterhin hohen Ausgaben für die Arbeitslosigkeit und zusätzliche Einnahmeausfälle, zum Beispiel auf Grund der später startenden Lkw-Maut oder des gesunkenen Bundesbankgewinns. Nach Schätzungen des Bundesfinanzministeriums dürfte sich das Haushaltsloch 2004 und 2005 dadurch auf mehr als 30 Milliarden Euro belaufen.
Welchen Ausweg gibt es aus dieser Situation? Regierungen haben grundsätzlich mehrere Möglichkeiten, auf diese Entwicklung zu reagieren. So können sie versuchen, die Einnahmeverluste durch höhere Steuern oder Ausgabekürzungen bei Sozialleistungen aufzufangen. Das dürfte jedoch in der Regel zu einer weiteren Verschärfung der Krise führen. Oder es könnten kurzfristig die Ausgaben gesteigert werden, um mit Staatsaufträgen die Wirtschaft anzukurbeln (siehe Kasten).
Ein weiteres Mittel wären Steuersenkungen, damit Bürger und Unternehmen mehr Geld ausgeben können. Die beiden letztgenannten Varianten vergrößern jedoch kräftig die Verschuldung und verlagern damit die Probleme in die Zukunft. Als risikoarme Alternative gilt hingegen das Konzept der „automatischen Stabilisatoren“. Dabei wird an der ursprünglichen Etatplanung festgehalten; Mindereinnahmen bei den Steuern beziehungsweise Mehrausgaben für die höhere Zahl von Arbeitslosen werden in Kauf genommen. Das führt zwar zeitweise ebenfalls zu höheren Schulden. Das Konzept sieht aber gleichzeitig in besseren Zeiten einen – gleichfalls automatischen – Abbau der Kredite durch die dann erzielten Steuermehreinnahmen vor.
Deutschland ist in der Wahl seiner Mittel aber nicht ganz frei. Zum einen setzt das Grundgesetz Grenzen. Artikel 115 schreibt vor, dass die Kredite die Summe der Investitionen nicht überschreiten dürfen. Eine Ausnahme wird nur zur „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ erlaubt. Davon hatte die Bundesregierung zum Beispiel 2003 Gebrauch gemacht. So führte das Vorziehen der eigentlich erst für 2005 geplanten Steuersenkungen zwar zu einer Verletzung des Artikels 115. Die Regierung argumentierte aber, die Steuersenkungen würden helfen, die Konjunktur wieder in Gang zu bringen.
Außerdem hat sich Deutschland als Mitglied der europäischen Währungsunion dazu verpflichtet, die Staatsverschuldung in engen Grenzen zu halten. Diese werden im Europäischen Wachstums- und Stabilitätspakt durch zwei Kriterien bestimmt: Das Verschuldungskriterium bestimmt den Anteil der Gesamtverschuldung am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es darf nach dem Euro-Pakt 60 Prozent nicht überschreiten. Allerdings wird der Schuldenstand allgemein nicht für so wichtig erachtet wie das Defizitkriterium. Es ist als Verhältnis zwischen den in einem Jahr neu aufgenommenen Schulden (Nettoneuverschuldung) zum BIP definiert und darf nicht höher als drei Prozent sein.
Deutschland wird aller Voraussicht nach 2005 das vierte Mal in Folge gegen den Stabilitätspakt verstoßen, weil sowohl das Verschuldungs- als auch das Defizitkriterium verletzt werden. Damit ist Deutschland aber kein Einzelfall: Mehr als die Hälfte der Euro-Länder werden die Stabilitätskriterien verfehlen.
Text: Timot Szent-Ivanyi
Fotos: Deutscher Bundestag, picture-alliance
Grafiken: Marc Mendelson