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Seit Kriegsende gilt die „Soziale Marktwirtschaft“ den Deutschen als Garant für Wohlstand, Fortschritt und sozialen Ausgleich. Fünf Millionen Arbeitslose, Kürzungen von Sozialleistungen und der internationale Wettbewerb nähren inzwischen Zweifel: Ist unser Ordnungsrahmen, die Organisation der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Staat und Markt, noch der Richtige? Kann die Soziale Marktwirtschaft, wie sie Ludwig Erhard erfand, auch heute passende Antworten liefern?
Sie kann – darüber gibt es im Prinzip kaum Dissens. Aber wie die Spielregeln unseres Wirtschaftslebens fortentwickelt werden müssen, ob es mehr Deregulierung und weniger Staat bedarf oder doch einer Bändigung des Kapitalismus oder gar einer neuen Kultur des Wirtschaftens, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Während die einen im Kern auf mehr Markt setzen, heben die Gegner des „neoliberalen“ Gedankenmodells zur Kapitalismuskritik an, fordern mehr soziale Verantwortung der Wirtschaftselite und setzen auf die Gestaltungsmacht der Politik.
Einer der wichtigsten Repräsentanten des Arbeitnehmerlagers kleidet dies in deutliche Worte: „In der Vision des Neoliberalismus geht es nur noch um die Steigerung von Gewinn und Aktienkurs. Der Mensch bleibt als abgeleitete Restgröße der Profitinteressen auf der Strecke“, klagt Jürgen Peters, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Metall. Schien sich der traditionelle Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital mit dem Boom der New Economy mehr und mehr aufzulösen, toben nur wenige Jahre später, in Zeiten schrumpfender Verteilungsspielräume, erneut Konflikte um die richtige Form des Wirtschaftens.
„Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der UdSSR macht niemand mehr dem Kapitalismus das globale Spielfeld streitig – er kann der Welt seinen Willen aufzwingen“, sagt der US-Ökonom Jeremy Rifkin. Und der liberale Vordenker Ralf Dahrendorf warnt vor einem „Diebstahl von Teilhaberechten durch die globalisierte Klasse“. Der globale Kapitalismus – eine anonyme Macht, für die die Nationalstaaten nur noch den roten Teppich ausrollen dürfen, damit das scheue Reh Kapital nicht zu einem attraktiveren Standort flüchtet?
Viele Wirtschaftswissenschaftler sehen das Ganze nüchterner. Die wichtigste Aufgabe einer Marktwirtschaft besteht nach gängiger Lehrmeinung – vor jeder Sozialpolitik – darin, den Markt möglichst frei zur Entfaltung zu bringen. Nur das ökonomische Ordnungsprinzip Markt kann demnach dafür sorgen, dass sich (wirtschaftliche) Freiheit entfaltet, Kreativität freisetzt und die Lenkungsfunktion des Preises eine optimale Güterversorgung der Bevölkerung garantiert.
Jeder nicht marktkonforme Eingriff des Staates wird abgelehnt. Das Prinzip „Freiheit“ gilt als wichtigster Grundwert – und auch als Voraussetzung dafür, dass das Sozialprodukt eine Größe erreicht, die Verteilungspolitik erst möglich macht. Wenn die Marktergebnisse nicht mit den Gerechtigkeitsvorstellungen übereinstimmen, habe im Nachhinein die Sozialpolitik korrigierend einzugreifen. Soweit die Theorie, deren Vorzüge 1776 bereits der schottische Moralphilosoph Adam Smith mit der Metapher der „unsichtbaren Hand“ umschrieb: Das individuelle Gewinnstreben führt in der Summe dazu, dass es der Gesellschaft insgesamt am besten gehe. Das Gewinnstreben gilt folglich als zweites konstituierendes Prinzip der Marktwirtschaft.
Genau hier setzt die Kapitalismuskritik an, die in den vergangenen Monaten angehoben hat – und Umfragen zufolge offenbar den Nerv der Deutschen trifft. Wer sich über schamlose Manager, Unternehmen aussaugende „Heuschrecken“ oder einen „primitiven Geldökonomismus“ erregt, denkt zuallererst an überzogenes Gewinnstreben ohne jede Verhältnismäßigkeit, das alle anderen Ziele dem Profit unterordnet. „Ein System, in dem alles auf eine einzige Kategorie, nämlich Geld, reduziert wird, in Geld wahrgenommen und in Geld bewertet wird“, beklagt der renommierte Managementforscher Fredmund Malik.
Der St. Gallener Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann drückt es so aus: „Der Macht des Kapitals entspricht der Wille des Kapitals zur unbedingten Renditesteigerung.“ Es gehe darum, dass einige Kapitalgeber alles daran setzen, dass die Gewinne so hoch wie nur eben möglich sind. Eine solche Gewinnmaximierung lasse sich nicht legitimieren, sagt Thielemann. In den Augen der Skeptiker muss also das, was mutmaßlich ökonomisch sinnvoll ist, nicht zwingend moralisch opportun sein – und selbst ökonomisch nicht immer die weiseste Entscheidung. Was sich bei Adam Smith so wunderbar zum Gemeinwohl fügte, könnte in einer heute ungleich komplexeren Gesellschaft nur mit Einschränkungen gelten.
Kritiker wie Thielemann sehen das Hauptproblem eines ungezügelten, moralisch degenerierten Kapitalismus darin, dass sich Konzerne ausschließlich an den Interessen der Aktionäre und damit am – kurzfristigen – Shareholder-Value-Prinzip ausrichten. Der Kapitalgeber ist längst nicht mehr eins mit dem Unternehmer – ihn interessiert vor allem der Ertrag des eingesetzten Kapitals, nicht ein über Jahrzehnte gesundes Unternehmen.
Die Belange der Arbeitnehmer und das Gemeinwohl spielen in der Unternehmensphilosophie folglich keine – direkte – Rolle mehr. So ist etwa Peter Sutherland, Chairman von British Petrol (BP), der Überzeugung, dass eine gleichrangige Berücksichtigung der Stakeholder-Interessen, also der Mitarbeiter, Kunden und der Gesellschaft, dem Unternehmensziel, der Gewinnmaximierung, abträglich ist, das Unternehmen schwächt und damit auch dessen positive soziale Funktion für die Allgemeinheit Schaden nimmt.
„Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen ist es, ihren Gewinn zu maximieren“, sagt der Ökonomie-Nobelpreisträger Milton Friedman. „Das ist eine große Metaphysik“, hält der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich entgegen: „Wirtschaften ist Mittel und nicht Selbstzweck. Die Gesellschaft gewährt den Unternehmen Freiheit unter der Voraussetzung, dass sie dem Gemeinwohl dienen.“
Und eben das kann man durchaus bezweifeln, wenn man den Blick auf die Finanzierung des Gemeinwesens lenkt: Nach Angaben des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hat sich der Anteil der Gewinnsteuern am gesamten Steueraufkommen des Staates zwischen 1960 von damals 34,7 auf heute nur noch 14,8 Prozent verringert. Der Anteil der Massensteuern (Lohn-, Umsatz- und Mineralölsteuern) hat sich im gleichen Zeitraum von 37,5 auf 76,8 Prozent mehr als verdoppelt. Das heißt: Es sind überwiegend die Bürger, die zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen – während sich die Konzerne immer weiter zurückziehen.
„Unfair ist es, wenn Unternehmen keinen angemessenen Beitrag zu den Gemeinkosten des Standortes beitragen, an dem sie tätig werden – wenn sie also etwa den Standort Deutschland als Produktionsstätte nutzen, sich durch Gewinnverlagerung aber hier der Besteuerung entziehen“, kritisiert Victor Vanberg, liberaler Ökonom vom Freiburger Walter Eucken Institut.
Auch die Verteilung der Einkommen lässt viele am Segen der „unsichtbaren Hand“ zweifeln. Denn die hat zwar dafür gesorgt, dass die Gewinne der 30 großen DAX-Konzerne 2004 um 117 Prozent gestiegen sind – rund ein Drittel der deutschen Börsenschwergewichte aber insgesamt 20.000 Stellen abgebaut haben. Der Markt hat auch dafür gesorgt, dass die Reallöhne in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren um 0,9 Prozent gesunken sind, die Gehälter der Manager aber kräftig zugelegt haben. „Der Markt ist ein effizienter Koordinationsmechanismus – aber der Markt kann nicht wissen, wofür er effizient sein soll“, sagt Wirtschaftsethiker Ulrich. Eine Marktwirtschaft braucht Akzeptanz und Vertrauen, um erfolgreich zu sein. Das Vertrauen der Bevölkerung in Manager und Unternehmen jedoch hat zuletzt spürbar abgenommen. Eine andere Frage dreht sich darum, inwieweit ein Wirtschaftssystem, das sich ausschließlich an den Interessen der Aktieneigentümer orientiert, überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
„Eigentum verpflichtet“, heißt es in Artikel 14, und „sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“ Thielemann ist der Auffassung, dass die ausschließliche Berufung auf das Shareholder-Value-Prinzip zumindest „den Geist dieses Grundsatzes“ verletze.
Vanberg kritisiert zwar ebenfalls kurzfristige Renditemaximierung. Doch der liberale Wirtschaftswissenschaftler hat mehr Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte: „Das Unternehmen wird wegen der falschen Strategie langfristig weniger verdienen oder gar vom Markt verschwinden.“ Wenn man allerdings der Auffassung des verstorbenen Papst Johannes Paul II. in seiner 1991 erschienenen Sozialenzyklika „centesimus annus“ folgt, dass Menschen „das kostbarste Vermögen des Unternehmens darstellen“ – dann muss die Frage erlaubt sein, ob vor Insolvenz und Massenentlassungen der Markt nicht doch gewisser Leitplanken bedarf, mit denen das Gewinninteresse in gesellschaftlich akzeptablere Bahnen gelenkt wird.
Heute kann man nur mutmaßen, wie Ludwig Erhard auf die neuen Herausforderungen reagiert hätte: Der Sinn der Sozialen Marktwirtschaft jedenfalls bestand für ihn darin, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich und der sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen gegenüber dem Ganzen zu verbinden.“
Text: Peter Hahne
Fotos: Picture-Alliance
Grafiken: Karl-Heinz Döring
Erschienen am 17. August 2005