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Was sind uns unsere Werte wert? Wie gehen wir mit den Überzeugungen um, die uns in Europa und in Deutschland prägen und das Fundament unserer Gesellschaft bilden? Diese Fragen stellen sich angesichts einer globalisierten Welt, in der Religionen und Kulturen zum Mittel oder zum Auslöser von Konflikten werden können, und in einem Deutschland, in dem rund 14 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund haben. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU/CSU) und die Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth, diskutieren im Streitgespräch von BLICKPUNKT BUNDESTAG.
Blickpunkt Bundestag: Frau Roth, hat sich Multikulti überlebt? Stehen wir auf den Trümmern einer falsch verstandenen Liberalität gegenüber anderen Kulturen?
Claudia Roth: Die multikulturelle Gesellschaft hat sich natürlich nicht überlebt. Sie ist Realität, ob es uns gefällt oder nicht. Wir leben in einem Land mit Millionen Menschen unterschiedlicher Religionen und unterschiedlicher kultureller Backgrounds. Ich finde, unsere Aufgabe ist es nicht, das Scheitern zu beschreiben, sondern diese Realität in eine multikulturelle Demokratie zu führen. Und da heißt die entscheidende Herausforderung: Integration.
Norbert Lammert: Aber wir dürfen nicht übersehen, dass sowohl beim angestrebten Integrationsprozess wie beim viel beschworenen Dialog der Kulturen manches schief läuft. Was die Multikulturalität angeht, finde ich das, was Frau Roth gesagt hat, zur Hälfte richtig und zur anderen Hälfte gut gemeint. Sicherlich haben wir eine multikulturelle Gesellschaft. Aber mit dem Begriff Multikulturalität war in der Vergangenheit immer mehr gemeint als der schlichte Hinweis auf offenkundige empirische Tatsachen. Er ist zu lange missverstanden worden als die Beliebigkeit in Bezug auf kulturelle Orientierungen und Verhaltensmuster. Man hat geglaubt, man könne das auf sich beruhen lassen und abwarten, wie sich das in einer wundersamen Weise wechselseitig ergänzt. Aber wir haben inzwischen bittere Erfahrungen gemacht, dass sich neben Bereicherungen auch Konflikte ergeben.
Blickpunkt: Kann man die zunehmende Fundamentalisierung von Religionen, vor allem des Islam, und die mangelnde Integration bei uns mit der gleichen Brille sehen? Haben die etwas miteinander zu tun?
Roth: Ich würde das gerne trennen. Die Frage, wie Religionen für politische Stimmungen missbraucht werden, wie es etwa beim Karikaturen-Streit der Fall war, ist wirklich gefährlich. Denn hier werden im Namen einer Religion ganz andere Interessen verfolgt. Ich muss aber als leidenschaftliche Demokratin und Verfechterin von Meinungsund Pressefreiheit auch Dinge aushalten, die ich für geschmacklos und provokant halte – und das waren einige dieser Karikaturen ganz sicher. Die andere Frage ist, wo sind bei uns Defizite entstanden? Ich teile nicht die Auffassung des durchaus verehrten Herrn Bundestagspräsidenten, dass meine Position nur gut gemeint ist. Sie ist geprägt von der Überzeugung, dass wir die unterschiedlichen Kulturen demokratisch gestalten müssen. Und dazu müssen wir als Aufnahmegesellschaft integrationsbereit sein. Dass etwa die Bayerische Staatsregierung noch immer meint, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist doch verräterisch. Natürlich sind wir das! Und ich finde diese Vielfältigkeit auch spannend und aufregend, auch wenn es nicht nur schöne Seiten, sondern auch Konflikte gibt.
Lammert: Beim Karikaturen-Streit sind Frau Roth und ich nahe beieinander. Allerdings hat sowohl die nach meinem Eindruck gelegentlich hilflose Debatte in Deutschland wie auch die bemerkenswert gesteuerte Reaktion in islamisch geprägten Ländern deutlich gemacht, dass es hier eben grundlegend unterschiedliche Vorstellungen von Meinungsfreiheit, von Toleranz, von Religionsfreiheit gibt. Das sollten wir festhalten. Zur Lage bei uns: Ich komme aus dem Ruhrgebiet, einer Region, die überhaupt erst durch Migration entstanden ist, zunächst von Zuwanderern aus Osteuropa, später von Migranten aus dem Mittelmeerraum und der Türkei. Im Ruhrgebiet können wir Glanz und Elend von Integrationsprozessen beobachten. Dazu gehört, dass diese verschiedenen kulturellen Herkünfte sowohl eine erhebliche Bereicherung sind, auf die auch ich nicht verzichten möchte, als auch gelegentlich heftige Probleme schaffen. Leider haben wir für den lange übersehenen und verdrängten Konfliktteil in der Vergangenheit keine hinreichend überzeugenden Konzepte entwickelt.
Roth: D’accord. Wir selber waren es, die mit der Lebenslüge, Deutschland sei kein Einwanderungsland, die notwendige Integration verweigert haben. Ein Beispiel aus jüngsten Tagen: Ich war gerade in einer Moschee in Offenburg. Da waren sehr glückliche Menschen, weil ihnen nach jahrelangen Auseinandersetzungen endlich auf dem Offenburger Friedhof ein Waschraum für rituelle Waschungen eingerichtet worden ist. Daraus wird für mich deutlich: Viele Offizielle bei uns haben immer noch die Gastarbeitersicht der sechziger Jahre im Kopf: Gastarbeiter kommen, gehen aber auch wieder. Dabei will die Mehrheit der heutigen Migranten doch bei uns bleiben, Teil unserer Gesellschaft werden.
Blickpunkt: Wie verträgt sich diese Sicht mit dem ja nicht zu leugnenden Befund zunehmender Parallelgesellschaften vor allem bei Migranten mit muslimischem Hintergrund? Lammert: Ganz offenkundig ist einer der erklärenden Aspekte, dass die erste Migration für alle Beteiligten – für die, die kamen, wie für die, die da waren – einfacher war, weil es den gleichen kulturellen Kontext gab, während folgende schwieriger waren, weil man sich wechselseitig mit unterschiedlichen Herkunftswelten strapaziert hat. Frau Roth, Ihr Offenburger Beispiel ist schön, aber doch nicht unser Problem. Denn in der Vergangenheit ist doch den Menschen die Verfolgung ihrer eigenen kulturellen Orientierungen nicht verwehrt worden. Wir haben in Deutschland etwa 3.000 Moscheen! Das Problem ist genau umgekehrt: Wir haben mit der Gewährung einer ganz selbstverständlichen Liberalität für unterschiedliche Religionen und Überzeugungen die gleichzeitige Aufgabe vernachlässigt, dass es daneben eine Verständigung über gemeinsame verbindliche Orientierungen geben muss.
Lammert: Ganz offenkundig ist einer der erklärenden Aspekte, dass die erste Migration für alle Beteiligten – für die, die kamen, wie für die, die da waren – einfacher war, weil es den gleichen kulturellen Kontext gab, während folgende schwieriger waren, weil man sich wechselseitig mit unterschiedlichen Herkunftswelten strapaziert hat. Frau Roth, Ihr Offenburger Beispiel ist schön, aber doch nicht unser Problem. Denn in der Vergangenheit ist doch den Menschen die Verfolgung ihrer eigenen kulturellen Orientierungen nicht verwehrt worden. Wir haben in Deutschland etwa 3.000 Moscheen! Das Problem ist genau umgekehrt: Wir haben mit der Gewährung einer ganz selbstverständlichen Liberalität für unterschiedliche Religionen und Überzeugungen die gleichzeitige Aufgabe vernachlässigt, dass es daneben eine Verständigung über gemeinsame verbindliche Orientierungen geben muss.
Roth: Ihre Meinung stimmt nicht mit den Realitäten überein. Erst jetzt fangen wir an, uns auf dauerhafte Integration einzustellen. Deshalb begrüße ich auch, was Sie, Herr Präsident, kürzlich gesagt haben: Dass wir den Islam einbürgern müssen. Ich glaube nicht, dass wir zu tolerant waren, vielleicht aber ein Stück zu ignorant. Es ist doch in unserem eigenen Interesse, dass der Islam bei uns eine eigene Vertretungsstruktur bekommt, dass Islamunterricht in Schulen – auf Deutsch! – stattfindet, dass Islamlehrer an deutschen Universitäten ausgebildet werden und dass vor allem die deutsche Sprache gelehrt wird. Hier haben wir viel versäumt.
Blickpunkt: Haben wir zu wenig eigene Werte vermittelt – Demokratie, Minderheitenschutz, Frauenrechte, Gleichberechtigung, Aufklärung?
Lammert: Unsere Gesellschaft muss sich in der Tat vorhalten lassen, dass sie manches, was zu ihren Fundamenten gehört, viel zu lange als natürliche Voraussetzung betrachtet hat, mit der treuherzigen Vorstellung, man müsse sich um die Wurzel nicht mehr kümmern, nachdem der Baum so prächtig gediehen sei. Erfreulicherweise kommen wir gerade zu neuen Einsichten. Etwa zu jener, dass mindestens eine gemeinsame Sprache Leitkultur einer Gesellschaft sein muss. Dass auf einem Schulhof im Interesse der Verständigung wie der Integration deutsch gesprochen werden sollte, ist doch keine autoritäre Zumutung.
Roth: Moment mal, der Streit ging darum, ob per ordre de mufti ein Zwang ausgeübt werden soll, auf dem Schulhof nur noch deutsch zu sprechen. Gegen einen gemeinsamen Beschluss von Lehrern, Eltern und Schülern hat doch niemand etwas. Aber ein Wort zur Leitkultur. Dieser Begriff ist nicht dienlich, wenn man gemeinsame Werte beschreiben will. Denn er unterstellt eine Hierarchisierung der Kulturen, fördert eine Klassifizierung und grenzt damit aus. Das genau ist integrationsfeindlich.
Lammert: Ich halte die Einigung auf den Begriff Leitkultur nicht für dringlich, wohl aber die Debatte darüber. Und schon gar nicht spreche ich von deutscher Leitkultur, sondern von westlicher, europäischer, abendländischer Kultur. Frau Roth, Sie laufen vor den Klarstellungen weg, die wir brauchen. Beispiel: Der Anspruch von Gleichberechtigung von Mann und Frau ...
Roth: Da laufe ich gar nicht weg, sondern stehe ganz vorne bei Ihnen!
Lammert: ... ist kulturell begründet. Der Anspruch auf Dominanz des Mannes gegenüber der Frau, der wiederum kulturell begründet ist, ist in ein und derselben Gesellschaft nicht zu haben. Die strikte Trennung von Staat und Kirche, Politik und Religion ist mit der kulturell begründeten Erwartung, dass göttliches Recht unmittelbar in staatliches Handeln umgesetzt werden müsse, nicht vereinbar und deshalb in unserer Gesellschaft nicht zu tolerieren. Sich widersprechende Werte können nicht mit dem Hinweis auf Toleranz und kulturelle Aufgeschlossenheit nebeneinander in einer Gesellschaft existieren. Es muss klar sein, was in dieser Gesellschaft gilt. Das gilt auch für den Anspruch auf körperliche Unversehrtheit. Die Vorstellung auf Verstümmelung von Gliedmaßen als staatlich sanktioniertes, religiös begründetes Recht ist in dieser Gesellschaft nicht hinnehmbar. Da hilft es nicht, Vorbehalte gegenüber dem Begriff Leitkultur anzumelden, weil mit dem Begriff angeblich eine Dominanzgebärde verbunden sei.
Roth: Wir sind gar nicht so weit auseinander, nur frage ich umgekehrt: Was ist das Band, das uns verbindet? Das ist das Grundgesetz, der Rechtsstaat, das sind die universellen Menschenrechte. Ebenso deutlich sage ich: Keine Religion, keine Kultur kann für sich in Anspruch nehmen, dass es hiervon Ausnahmen gibt. Aber innerhalb dieses Bandes muss Vielfalt toleriert werden.
Lammert: Weder Gesetze noch unsere Verfassungsordnung fallen vom Himmel. Verfassung ist immer der in förmliches Recht umgesetzte Ausdruck von historischen Erfahrungen, von religiösen Überzeugungen und kulturellen Orientierungen. Einige dieser Zusammenhänge haben wir vielleicht zu lange für zu selbstverständlich gehalten. Vielleicht besteht der Nutzen der gelegentlich schmerzhaften Konfrontation der Kulturen darin, dass wir manches an Zusammenhängen zwischen Kultur und Recht, Geschichte und Verfassung wieder stärker aufarbeiten.
Das Gespräch führte
Sönke Petersen.
Fotos: Photothek
Erschienen am 10. April 2006
Redaktion: blickpunkt@media-consulta.com
Die TV-Aufzeichnung dieses Streitgesprächs kann im Web-TV des Bundestages angesehen werden: www.bundestag.de/bic/webTVLink.html
Claudia Roth, Jahrgang 1955, bildet als
Bundesvorsitzende gemeinsam mit Reinhard Bütikofer die
Doppelspitze der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Die
Theaterwissenschaftlerin, seit 1998 Mitglied des Deutschen
Bundestages, ist über die Landesliste Bayern gewählt
worden.
E-Mail:
claudia.roth@bundestag.de
Webseite:
www.claudia-roth.de
Norbert Lammert, Jahrgang 1948, wurde von den
Abgeordneten des 16. Deutschen Bundestages zum
Bundestagspräsidenten gewählt. Seit 1980 ist der
promovierte Sozialwissenschaftler aus Bochum für die
CDU/CSU-Fraktion Abgeordneter des Deutschen Bundestages.
E-Mail:
norbert.lammert@bundestag.de
Webseite:
www.norbert-lammert.de