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Die Garantie der Menschenwürde

Bild: Der Philosoph Immanuel Kant.
Der Philosoph Immanuel Kant.

Bild: Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde
Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde

Ein Essay von Ernst-Wolfgang Böckenförde

Der Verfassungstag am 23. Mai ist Anlass genug, sich auf den Eingangsartikel des Grundgesetzes zu besinnen. Wie in Stein gemeißelt – und nicht ohne Pathos – heißt es da: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Von dieser Menschenwürdegarantie ist derzeit oft die Rede. Denken wir an das Verfassungsgerichtsurteil zum Luftsicherheitsgesetz (mit seinen bemerkenswert mutigen Sätzen), an Charakter und Reichweite des Folterverbots, an die Auseinandersetzungen um Stammzellforschung und den Schutz ungeborenen menschlichen Lebens. Ist die Achtung der Menschenwürde hier im Aufwind, wird sie vielleicht überdehnt oder zuweilen auch preisgegeben?

Was bedeutet diese Garantie und warum ist sie ins Grundgesetz gekommen? Für den Parlamentarischen Rat war sie eine bewusste Antwort auf die systematische Menschenverachtung und tausendfache Verletzung der Menschenwürde durch das NS-Regime. Die Menschenwürde sollte künftig unantastbar, ihre Achtung und ihr Schutz das Fundament der neu zu errichtenden Ordnung sein. Und dies nicht nur als allgemeine Proklamation, sondern als verbindliche, normativ verpflichtende Grundentscheidung für alles staatliche Handeln und das Zusammenleben in der Gesellschaft. So bringt es Satz 2 von Art. 1 deutlich zum Ausdruck.

Was ist der Inhalt dieser Menschenwürdegarantie? Über ihren Kerngehalt waren sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei unterschiedlichen Begründungswegen einig; er ergab sich für sie einerseits aus christlicher Wurzel, dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Genesis 1,26), anderseits aus der Tradition des Humanismus und der Philosophie der Aufklärung, insbesondere Kants. Dieser Kerngehalt umfasst die Anerkennung und Achtung jedes Menschen als eigenständiges Subjekt, als Träger grundlegender Rechte und der Freiheit zur eigenen Entfaltung und verantwortlichem Handeln, den Ausschluss von Entwürdigung und Instrumentalisierung nach Art einer Sache, über die beliebig verfügt werden kann.

Die so verstandene Garantie ist ein zentraler Gründungsakt, auf dem unsere Verfassungsordnung ruht. Ihr verdanken wir die insgesamt menschenfreundliche Gestalt unserer Rechtsordnung. An ihr gilt es festzuhalten, sie darf nicht durch den Hinweis auf die Offenheit des Menschenwürdebegriffs in Frage gestellt oder relativiert werden.

Dies wird, so sieht es aus, allgemein akzeptiert. Gleichwohl zeigen sich, wenn es um die konkrete Anwendung dieser Garantie auf neue Problemlagen, um ihr Standhalten in Konfliktsituationen geht, Gefährdungen; denen entgegengetreten werden muss, soll die Garantie ihre Integrität behalten.

Eine erste liegt in der Ausfaltung der Menschenwürde zu „kleiner Münze“. Nicht alles, was sich als unwürdig, auch als menschenverachtend darstellen mag, darf zu einer Verletzung der Menschenwürdegarantie aufgesteigert werden. Tut man es dennoch, wird sie anfällig für Abwägungen, statt allen Abwägungen vorauszuliegen. Nur bei strikter Begrenzung auf den erwähnten Kerngehalt kann die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die gewollt ist, aufrechterhalten werden (Die Juristen sprechen von „Abwägungsresistenz“.).

Eine weiter greifende Gefährdung ist es, wenn die Menschenwürde, weil in einem Verfassungstext stehend, als „rein staatsrechtlicher Begriff“ verstanden werden soll, gelöst von den geistesgeschichtlichen Wurzeln, die im Parlamentarischen Rat lebendig waren. Menschenwürde als Begriff hat keine eigene Rechtstradition, er ist bewusst als geistesgeschichtlich geprägter Begriff in die Rechtsordnung hineingenommen worden. Schneidet man ihn von diesen Wurzeln ab, wird er leer, offen für wechselnden, auch interessenbestimmten Zeitgeist. Die Unantastbarkeit reduziert sich dann auf einen Durchlauferhitzer ohne inhaltliche Substanz.

Schließlich wird die Garantie zentral gefährdet, wenn sie nicht auch den Lebensprozess des einzelnen Menschen mit umfasst. Gewiss bezieht sie sich zunächst auf lebende Menschen, dich und mich, aber sie bleibt als diese Garantie nur wahr, wenn sie auch den Lebensprozess jedes einzelnen Menschen, von dir und mir, von seinem Beginn an mit einbegreift und nicht eine bestimmte Phase dieses Prozesses außen vor lässt, der Verfügbarkeit geöffnet. Den Herausforderungen und Problemen, die sich daraus ergeben, müssen wir uns stellen, statt sie durch Definitionsstrategien beiseite zu schieben.

Erschienen am 8. Mai 2006

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Jahrgang 1930, war von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht. Er lehrte an den Universitäten Münster, Heidelberg und Bielefeld, seit 1977 an der Universität Freiburg. Von 1971 bis 1976 war er als Sachverständiger Mitglied der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ des Deutschen Bundestages.


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