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Welche Ängste vor 15 Jahren nicht nur der Berlinumzug im Allgemeinen auslöste, sondern auch die geplante Nutzung des Reichstagsgebäudes, ist heute kaum mehr zu verstehen. Der Parlamentsbau, 1894 nach Entwürfen von Paul Wallot vollendet, sei ungeeignet, die Volksvertretung des vereinten Deutschlands zu behausen, behaupteten damals nicht wenige Kritiker. Die historistische Repräsentationsarchitektur der Kaiserzeit lasse sich mit den Werten der bundesdeutschen Demokratie nicht vereinbaren, wetterte der Stuttgarter Architekt Günter Behnisch; und eine Bauzeitschrift warnte vor „Neu-Teutonia“. Mehrere Abgeordnete schlugen deshalb vor, den Reichstag zum Museum zu machen und für den Bundestag ein neues Haus auf dem Berliner Schloßplatz zu errichten. Ähnlich radikal sahen viele der Entwürfe aus, die 1992 beim Wettbewerb zur Umgestaltung des Wallotbaus eingereicht wurden: Manche Architekten wollten die historische Substanz zerlegen, sie mit Glaskeilen durchstoßen oder gleich ganz hinter neuen Fassaden verschwinden lassen, als solle mit Stahl, Beton und Vorschlaghammer ein vermeintlicher Ungeist ausgetrieben werden.
Heute, anderthalb Jahrzehnte später, ist derlei Exorzismus glücklich vergessen. Zum ersten Mal in seiner hundertjährigen Geschichte ist der Reichstag populär. Der Besuch der Kuppel gehört zum Pflichtprogramm aller Touristen in der Hauptstadt; zu beinahe jeder Tageszeit, sommers wie winters, stehen Schlangen auf der Freitreppe, um hinaufzugelangen auf die Aussichtsterrasse und hinein in den gläsernen Bienenkorb. Kein Parlamentarier käme mehr auf den Gedanken, sich öffentlich ein anderes hohes Haus zu wünschen. Ohne Übertreibung lässt sich behaupten, die vom britischen Architekten Lord Norman Foster umgebaute Volksvertretung mit ihrer ingeniösen Dachbekrönung sei das wichtigste Wahrzeichen Berlins geworden, jedenfalls das Symbol des geglückten Umzugs vom Rhein an die Spree.
Zwei Gründe wohl vor allem hat dieser erstaunliche Prestigegewinn. Da ist zum einen ein vorsichtiges neues Selbstbewusstsein, das sich in der Architektur manifestiert. Während in Bonn – aus guten historischen Gründen und mit Rücksicht auf das Provisorische des Regierungssitzes am Rhein – bis zuletzt ein durchaus sympathisches, aber eben auch sprödes Understatement in der Selbstdarstellung der Republik kultiviert wurde, bedeutete der Umzug nach Berlin, in die historischen Gemäuer der Macht, auch eine Rückkehr zu eher traditionellen Formen der Repräsentation. Naturstein, Säulen, Symmetrieachsen und sogar eine Kuppel, all das, was in Bonn geradezu ängstlich gemieden wurde, gehört jetzt wieder zum unverdächtigen Dekorum des Parlamentsviertels, das sich damit den architektonischen Gepflogenheiten aller anderen westlichen Hauptstädte annähert. Auch die Neubauten des Deutschen Bundestages, wiewohl sie von individuell sehr unterschiedlichen Architekten gestaltet wurden, belegen diese Tendenz: Die beiden imposanten Parlamentsbauten von Stefan Braunfels etwa scheuen sichtlich nicht die große Geste, nutzen dafür aber ausschließlich die Mittel der modernen Architektur.
Diese Kombination von Alt und Neu, eine Annäherung von Geschichte und Gegenwart, ist das zweite hervorstechende Merkmal des Berliner Parlamentsquartiers – und vielleicht für das allgemeine Wohlwollen, das das Ensemble im Spreebogen genießt, noch wichtiger. Was Foster im Innern des Parlaments absichtsvoll, mitunter etwas aufdringlich inszeniert hat, das Nebeneinander von historischen Spuren und dezidiert zeitgenössischen Ergänzungen, ist ein prägendes Thema rings um das Reichstagsgebäude. Bei der Sanierung des Reichstagspräsidentenpalais beispielsweise beschäftigte es die Architekten ähnlich intensiv wie bei der Einfügung der gewaltigen Baumassen des Jakob-Kaiser- Hauses in den historischen Stadtgrundriss.
Sich zur eigenen Geschichte mit all ihren Brüchen und Katastrophen zu bekennen, das gebaute Erbe anzunehmen, ohne die Erfolge der deutschen Nachkriegsdemokratie zu verstecken – wenn es diese komplexe architektonische Botschaft wäre, die Besucher aus aller Welt von ihrem Besuch im Berliner Parlamentsviertel mitnähmen, dann könnte die Republik gewiss zufrieden sein.
Fotos: Bundesbaugesellschaft,
Privat
Erschienen am 6. Juni 2006
Heinrich Wefing, Jahrgang 1965, ist Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Berlin. Er promovierte über „Parlamentsarchitektur“ und ist unter anderem Autor des Buches „Dem Deutschen Volke . Der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude“.