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Vor dem Volksgerichtshof wegen Hochverrats an der Seite von Moltke, Haubach und Delp verurteilt zu werden, kam Gerstenmaier vor, als liefe er am „Steilabfall der Hölle“ entlang. In der Tat wollte der Blutrichter Freisler alle Angeklagten des VGH das Fürchten lehren. Die Regimegegner, die mit dem Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 den entscheidenden Wurf gewagt hatten, hatten jedoch die Rolle verkehrt, die Freisler spielen wollte. Denn sie führten ihn vor und machten deutlich: Er war ein Scherge, sie selbst aber waren Täter des Widerstands und keineswegs nur Opfer des Regimes. Peter Graf Yorck erwähnte mutig „die vielen Morde“, die ihn zur Tat getrieben hätten. Wirmer reagierte auf den Fluch Freislers, er möge zum Teufel fahren, trocken mit „Nach ihnen!“. Eugen Gerstenmaier verteidigte sich anders. Er stellte sich als unbedarfter, „weltfremder Kirchenmensch“ dar. Was gab ihm die Kraft, nicht alle Hoffnung fahren zu lassen? Vor der Urteilsverkündigung wurde ihm bewusst, dass das bei Jeremias überlieferte Gotteswort ein Quell seiner Widerstandskraft war. „Fürchte dich nicht, mein Knecht, spricht der Herr, denn ich bin bei dir. Mit dir will ich nicht ein Ende machen, sondern ich will dich züchtigen mit Maßen, auf das ich dich nicht ungestraft lasse.“ Später wurde hämisch kolportiert, nicht Gerstenmaiers Weltfremdheit habe Freisler aus dem Konzept gebracht. Das Ministerium für Staatssicherheit verbreitete, er habe mit dem Regime kollaboriert, seine engsten Freunde verraten. Das war eine Infamie, die die Diffamierung des Widerstands in der deutschen Nachkriegsgesellschaft noch übertraf.
Mit der langen Zuchthausstrafe, die wegen seiner Mitgliedschaft im Kreisauer Kreis verhängt worden war, endete die Zeit seiner Prüfungen keineswegs, denn nur wenige Politiker wurden in den Dunst der Missgunst, des Gerüchts und der Häme gerückt wie Gerstenmaier. Von Haus aus Theologe, hatte er zunächst eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Außenbeziehungen seiner Kirche gespielt. Dabei war er in Widerspruch zu Bonhoeffer geraten, der ökumenischer handelte und viel pazifistischer dachte als Gerstenmaier. Das lastete man ihm in Kirchenkreisen lange an. In der Tat waren beide niemals warm geworden. Bonhoeffer hatte nicht erkannt, welche Wandlungen Gerstenmaier hinter sich hatte, als er im engsten Kern der Kreisauer aufgenommen wurde und schon bald keineswegs nur über das Danach sprechen, sondern für den Umsturz handeln wollte. Deshalb wurde er von Yorck am Tag des Attentats in den Bendlerblock, das Zentrum des Umsturzes, gerufen.
Gerstenmaier überlebte das Jahr 1945 und schloss sich rasch der CDU an, in der sich viele bürgerliche Regimegegner sammelten. Nach dem Tode von Hermann Ehlers wurde er für lange Zeit in eines der höchsten Ämter der jungen Bundesrepublik gewählt. Als Präsident des Bundestages prägte er entscheidend den neuen parlamentarischen Stil mit. Das bedeutete unausweichlich, auch anstößig zu sein. Adenauer erfuhr das leidvoll. Nur wenige erkannten, dass sich Gerstenmaier in seiner Unbeirrbarkeit und Kantigkeit treu blieb, dass er die Verhaltensweise kultivierte, die ihm ermöglicht hatte, sich gegenüber dem NS-Staat zu behaupten.
Er suchte keineswegs den Kompromiss um jeden Preis und kultivierte auch nicht den Konsens, sondern er wollte politische Klärungen durch Konfrontationen herbeiführen. Nation? Für ihn kein überlebter Begriff im geteilten Deutschland! Nationalbewusstein, gar Nationalstolz? Natürlich, deshalb hatte er doch gerade unter der Pervertierung des Nationalgefühls durch die Nationalsozialisten gelitten! Unerbittlich rechtfertigte er den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und lehnte die Teilung des Widerstands im Kalten Krieg ab. Kein Regimegegner sei nur für eine Hälfte Deutschlands gestorben! Angesichts des Mutes und der Konsequenz, mit der er den Widerstand verteidigte, mutet es im Rückblick geradezu schäbig an, dass seine Weggefährten Eugen Gerstenmaier nicht davor bewahrten, sich mit wachsender Verzweiflung gegen das Unrecht zur Wehr zu setzen, dass das VGH-Urteil für ihn, den leidenschaftlichen Theologen, auch beruflich bedeutet hatte. Schließlich kapitulierte er. Nach dem Rücktritt wurde es still um ihn. „Streit und Fried hat seine Zeit“, vermittelten seine Erinnerungen. Streitbare Geister wie ihn hätten der Politik mehr nützen können als die außengeleiteten Jasager, denen er sich nicht beigesellen wollte.
Am 25. August 2006 wäre Eugen Gerstenmaier 100 Jahre alt geworden.
Erschienen am 6. Juli 2006
Peter Steinbach, Jahrgang 1948, ist Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Karlsruhe (TH) sowie wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.