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Sie sind neu, aber nicht unerfahren. Im Bundestagshandbuch tragen sie einen Stern vor dem Namen. Erste Wahlperiode und manches steht noch auf Anfang. Die Terminkalender der Sitzungswochen sind gut gefüllt. Einiges ist produktive Routine geworden. Es mangelt trotzdem nicht an Neugier und nicht an Überraschungen. Eine Sitzungswoche, fünf Abgeordnete und fünf Termine.
Am Montag kurz vor zwei steigt Anton Hofreiter vor seinem Bundestagsbüro aufs Fahrrad, um zum Verkehrsministerium zu fahren. Dort startet die diesjährige Gemeinschaftsaktion „Mit dem Rad zur Arbeit“. Erst werden kluge Reden gehalten und dann fahren alle, die gekommen sind, mit dem Rad eine große Runde durch die Innenstadt. Vorneweg Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee, mittendrin der grüne Abgeordnete Hofreiter, Mitglied des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, promovierter Biologe und bekennender Ökologe. Was der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club, das Bundesverkehrsministerium und die AOK hier bewegen wollen, kann er nur unterstützen. Fahrräder sind eine gute Alternative zum Auto.
Anton Hofreiter ist schnell im Alltag des Parlaments angekommen. Er hatte sich darauf gefreut, seine Arbeit selbst gestalten zu können, seine Schwerpunkte zu wählen und etwas zu bewegen. Das waren seine Erwartungen. „Und sie erfüllen sich. Ich mache Verkehrs- und Umweltpolitik und erfahre, dass man in der Opposition ziemlich frei agieren und arbeiten kann. Das sind die guten Seiten. Gewöhnungsbedürftig sind die langen Zeiten, die ich im Zug sitze, um zwischen München und Berlin zu pendeln.“ Der 36-jährige Bayer nutzt die Fahrzeiten oft, um zu arbeiten. Zum Beispiel schreibt er Aufsätze für seine Homepage. Über Gerechtigkeit, Chancengleichheit, ehrlichen Umgang mit politischen Herausforderungen. Er schreibt, weil ihm diese Sachen am Herzen liegen. Und weil er nicht vergessen will, dass sie der Grund für sein politisches Engagement sind. Wenn er über die Bahnreform streitet oder über Verkehrswegeplanung, bleiben die großen Ziele immer im Kopf.
Die Bahnreform ist eines der ersten Schwerpunktthemen, mit denen sich der Abgeordnete im Bundestag beschäftigt. Da musste man schnell im Thema und sachkundig sein. „Etwas länger dauert es wahrscheinlich, Kommunikationsstrukturen und Netzwerke aufzubauen“, sagt er. „Die braucht man in der Politik.“ Einen langen Atem sowieso. Wie in der Forschung. Aber daher kommt der Mann schließlich. Er ist ein Artenvielfalt-Forscher. Gibt es wahrscheinlich nicht so viele im Bundestag. Vielleicht sogar nur einen.
Fundiertes Handwerk, reizvolle Vielfalt
Fünf Stunden sind für die Fraktionssitzung am Dienstagnachmittag vorgesehen. Vorbereitung der Plenarsitzung, Petitionen, solidarische Bürgerversicherung, Europäisches Sozialforum, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Verschiedenes stehen auf der Tagesordnung der Fraktion Die Linke. Die Sitzung ist wie immer zum größten Teil öffentlich. Also voll, ein ganz klein wenig chaotisch, aber trotzdem gehen die Dinge vorwärts. Wolfgang Neskovic, vormals Richter am Bundesgerichtshof, jetzt Bundestagsabgeordneter, stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses, Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums und des BND-Untersuchungsausschusses, sitzt trotz Zeitdruck, überbordender Auftragslage und einiger Anfragen für Interviews – möglichst gleich und sofort – ziemlich gelassen auf seinem Stuhl. Er wirkt, als sei Stress ein Fremdwort.
Obwohl ihm, wie er sagt, die Möglichkeit verwehrt war, langsam im parlamentarischen Alltag anzukommen. Und obwohl, wie er hinzufügt, die ersten Enttäuschungen nicht lange auf sich warten ließen. „Die Ritualisierung der Arbeit ist größer, als ich dachte, und zugleich ist alles viel weniger sachbezogen, als ich hoffte. Ich bin mit der Erwartung in den Bundestag gegangen, hier die Gesetze, die ich als Richter für misslungen halte, inhaltlich und handwerklich verbessern zu können. Ich bin nicht naiv und weiß, dass alles sehr komplex ist, dennoch hätte ich mir ein Mehr an sachbezogener Diskussion gewünscht. In Kürze wird sich der Bundestag mit dem Thema Insolvenzrecht befassen, es wird dazu eine Anhörung geben, denn das so genannte Anfechtungsrecht ist sehr kompliziert. Ich bin gespannt, ob es bei einem solch relativ ideologiefreien Thema einen fachlich fundierten Diskurs geben wird.“
Der 58-jährige Lübecker sucht nach eigenem Bekunden gern und möglichst oft den tiefgreifenden Diskurs, jenseits von Schnelllebigkeit und pragmatischen Lösungen. „Die Fraktion ist da wichtig, weil es sehr spannend ist, mit Menschen zu arbeiten, die so verschieden und so unterschiedlich sind. Diese Inhomogenität ist für mich reizvoll. Hier arbeiten viele talentierte Leute.“
Wolfgang Neskovic bereut nicht, die, wie er sagt, mönchische Einsamkeit des Richters gegen die Hektik der parlamentarischen Arbeit getauscht zu haben. Das sieht man ihm an.
Einmal um die Welt tanzen
Für die FDP-Abgeordnete Marina Schuster hat diese Sitzungswoche schon am Freitag zuvor begonnen. Da tagte der Unterausschuss Globalisierung und Außenwirtschaft, dem die 30-jährige Diplomkauffrau und Doktorandin angehört. Der Unterausschuss ist dem Auswärtigen Ausschuss zugeordnet, von vielen als „Königsausschuss“ bezeichnet. Der wiederum findet planmäßig am Mittwoch der Sitzungswoche statt, ab neun Uhr. Elf Tagesordnungspunkte stehen auf dem Plan, nur ein Teil kann in den drei Stunden behandelt werden. So auch der Antrag „Menschenrechte in Kuba einfordern und die kubanische Zivilgesellschaft fördern“. Den hat Marina Schuster geschrieben und mit ihrer Fraktion eingebracht. Er wird abgelehnt. Das ist enttäuschend und von der Sache her für sie unverständlich. Im März hatte eine große Debatte zu diesem Thema im Plenum stattgefunden, Marina Schuster hielt ihre zweite Rede vor dem Deutschen Bundestag.
Die Abgeordnete aus Greding hat schnell gelernt, dass es zum parlamentarischen Alltag gehört, Vorschläge nicht immer durchsetzen zu können. Zumal in der Opposition. Sie, die zu ihrer eigenen Überraschung in den Bundestag einzog, wusste auch von Beginn an, dass es von nun an unendlich viel Arbeit geben und sehr wenig Zeit für anderes bleiben wird. Fürs Tanzen zum Beispiel, das sie leidenschaftlich und professionell betreibt. „Einmal nur habe ich seit September getanzt“, sagt sie und lächelt. Aber die Arbeit im Bundestag und vor allem auch im Ausschuss gefällt ihr sehr. Obwohl sich gerade dieser Ausschuss auch viel mit Elend, Not, Verzweiflung, schwierigen Situationen und Entwicklungen befassen muss. „Das geht schon an die Nieren und es berührt mich sehr. Aber es gibt Prozesse, die wir begleiten, da geschieht Positives. Langsam meist, aber es macht trotzdem optimistisch.“
Marina Schuster hat sich die halbe Welt zum Arbeitsthema gemacht: Lateinamerika, China, Japan, Indien, Afrika. Das Wunderbarste bei dieser Arbeit sei, so viele interessante Persönlichkeiten kennen zu lernen. „Im Bundestag und im Wahlkreis. Wenn ich dort zu einem Ereignis gehe, auf das sich viele Menschen freuen – ein Schulfest zum Beispiel – dann bin ich froh, an diesem Moment teilhaben zu können. Und genauso froh bin ich, dabei zu sein, wenn der Gesandte des Dalai Lama oder Javier Solana mit Abgeordneten spricht.“
Kurzer Heimweg und lange Abende
Die SPD-Abgeordnete Mechthild Rawert kommt etwas gehetzt, aber fröhlich zum parlamentarischen Abend des Beethovenkreises, einem Zusammenschluss linker und gewerkschaftlich orientierter Jugendverbände. Das Haus am Lützowplatz ist ein angenehmer Ort, um gemeinsam über Bildung und Arbeit, Ausbildung und Förderung, Kampf gegen rechts und Kooperation zu diskutieren. Draußen wird gegrillt, drinnen Hoffnung genährt – zwischen großformatig bunten Blumen aus Wolle, die die Wände schmücken. Die 48-jährige Sozialpädagogin aus Berlin ist schnell mittendrin in der Debatte. Sie ist interessiert und nutzt den Abend, um mit möglichst vielen Menschen zu reden. Im Bundestag zwar noch neu, hat sie im Laufe ihres Berufslebens so viel gelernt, geleistet, probiert, zuletzt als Zentrale Frauenbeauftragte der Charité, dass sie auch als Parlamentarierin beste Figur macht.
Mechthild Rawert ist ordentliches Mitglied zweier Ausschüsse. Sie muss sich um die Themen Gesundheit in dem einen und Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im zweiten kümmern. Drei Mal hat sie schon im Plenum geredet, zwei Mal ist sie mit ihrem Büro umgezogen. Ihr Weg zwischen Wahlkreis und Bundestag ist zwar kurz, dafür aber ist so mancher Tag in Sitzungswochen noch länger als lang, denn abends steht oft die Arbeit in Tempelhof- Schöneberg und an der Basis auf dem Programm. „Ich habe schnell versucht, meine Themen zu besetzen und das Handwerk zu lernen: Wie sind die Strukturen der Verwaltung, wie arbeitet so eine große Fraktion. Das Wissen um all diese Dinge hat man nicht im Gepäck. Und oft kollidieren die Prozesse. Meine Jungfernrede zum Thema Lohnfortzahlungsausgleichsgesetz war gleich auf neun Minuten angesetzt. Mein Terminkalender war dicht und ich hatte kaum Zeit zur Vorbereitung.“ Und? „Es lief gut.“
Inzwischen sind bei Mechthild Rawert, die so laut und herzlich lachen kann, dass die Schwierigkeiten vielleicht manchmal allein dadurch kleiner werden, auch Themen gelandet, bei denen sie im September noch nicht daran dachte, dass die ihr mal Arbeit machen werden: Gerade hat sie einen Antrag zum Schutz der weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale geschrieben. „Das“, sagt sie, „hätte ich mir vor einem Jahr wirklich nicht träumen lassen. Aber es ist toll.“
Im Bundestag für die Altmark
Am Donnerstag steht im Bundestag eine Marathon- Plenarsitzung mit vier namentlichen Abstimmungen an. Der CDU/CSU-Abgeordnete Hans-Heinrich Jordan wechselt zwischen Plenum, Büro und Außer-Haus-Terminen. Am frühen Abend ist der 57-jährige Agraringenieur in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt verabredet. Im prachtvollen Kaminzimmer trifft er sich mit Petra Wernicke, der Ministerin für Landwirtschaft und Umwelt Sachsen-Anhalts. Im Hof des schönen Gebäudes in der Berliner Luisenstraße wird derweil alles für einen parlamentarischen Abend „Wir stehen früher auf – mit Bio aus Sachsen-Anhalt durch den Tag“ gerüstet. Es riecht nach Wurst und Käse und klingt nach guter Musik.
Hans-Heinrich Jordan kommt aus der Altmark und erklärt, es habe lange keinen Interessenvertreter aus dieser Region für die CDU im Bundestag gegeben. Um so mehr wolle er das sein, denn eine gute Interessenvertretung habe die Altmark wohl verdient. Der Mann weiß, wovon er spricht, war er doch viele Jahre Sozialdezernent und stellvertretender Landrat im Kreis Salzwedel. „Gute Bundespolitik muss sich daran messen lassen, dass sich Regionen und Kommunen entwickeln können. Die ländlichen Räume dürfen dabei nicht vergessen werden.“
Den ländlichen Raum der Altmark kennt der Mann gut, und wenn ein paar Minuten Zeit sind, erzählt er gern Geschichten und Geschichte dieser Region zwischen Elbe und Südheide. Heute aber ist, wie immer in Sitzungswochen, wenig Zeit.
Hans-Heinrich Jordan ist Mitglied im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Eines der ersten großen Themen für ihn war die Vogelgrippe und die damit verbundenen politischen Entscheidungen. „Was wirklich hilfreich war: Die Freundlichkeit und Kollegialität, mit der die Fraktion einen aufnimmt. Da fällt der Anfang leicht. Und wenn man lange Berufserfahrung hat, weiß man auch, dass es wichtig ist, Prioritäten zu setzen und sich nicht zu verzetteln.“
Das Gespräch mit der Ministerin dauert eine Stunde. Viele Themen werden angesprochen und diskutiert. Danach läuft der Abgeordnete Jordan durch die Luisenstraße zurück in den Bundestag und zur nächsten namentlichen Abstimmung. Vielleicht schafft er es auch, wieder zurück und zum parlamentarischen Abend zu kommen. Um ein wenig Altmark mitten in Berlin zu genießen.
Text: Kathrin Gerlof
Foto: studio kohlmeier
Erschienen am 6. Juli 2006
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