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Es war ein politischer Paukenschlag, als der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering und Bundeskanzler Gerhard Schröder am Abend nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen Neuwahlen im Bund ankündigten. Das Verfahren, mit dem der Bundestag aufgelöst wird, hat zu heftigen Diskussionen geführt. Denn auf direktem Weg kann der Bundeskanzler sein Ziel nicht erreichen – das Grundgesetz sieht nicht vor, dass ein Regierungschef vorzeitig Neuwahlen ausschreibt.
Zwar kann der Bundeskanzler von seinem Amt zurücktreten. Doch dann wäre das Parlament am Zuge und könnte nach Artikel 63 des Grundgesetzes einen neuen Regierungschef aus den eigenen Reihen wählen – wobei der Bundespräsident zunächst einen Kandidaten vorschlägt. Wenn diese Wahl misslingt, sich also keine absolute Mehrheit aller Bundestagsmitglieder für diesen oder in maximal zwei weiteren Wahlphasen für einen anderen Kandidaten findet, kann der Bundespräsident nach Artikel 63 den Bundestag auflösen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder geht einen anderen Weg: Er stellt nach Artikel 68 des Grundgesetzes zunächst die Vertrauensfrage im Bundestag. Diese müsste der Bundestag ablehnen. Das ist der Fall, wenn sich die Kanzlermehrheit, also die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, nicht hinter den Kanzler stellt. Nach solch einer verlorenen Vertrauensabstimmung kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers innerhalb von 21 Tagen entscheiden, ob er das Parlament auflöst und Neuwahlen ausschreibt oder die Regierung im Amt belässt. Allerdings erlischt dieses Recht, wenn der Bundestag vorher einen anderen Bundeskanzler wählt. Löst der Bundespräsident das Parlament auf, müssen innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen stattfinden.
Es ist vor allem der Umgang mit der Vertrauensfrage, es ist die Art, wie dieses parlamentarische Instrument hier eingesetzt wird, was derzeit zwischen Verfassungsrechtlern und Politikwissenschaftlern, Politikern und Kommentatoren zu heftigen Kontroversen führt. Die Frage ist: Darf der Kanzler mit dem Ziel, eine Niederlage zu kassieren, die Vertrauensfrage stellen?
Dennoch hat es bereits zwei Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein solch „bestelltes“ Parlamentsmisstrauen gegeben. Das erste 1972 führte zur ersten vorzeitigen Bundestagsauflösung überhaupt. Damals verließen vor allem wegen der Ostpolitik einzelne Abgeordnete die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt und wechselten ins Lager der Opposition. Zwar hatte Brandt zuvor noch ein konstruktives Misstrauensvotum überstanden, im Parlament bestand aber ein Patt, er hatte tatsächlich keine Mehrheit mehr. Weil sich die Regierung in der Vertrauensabstimmung enthielt, war der Weg für Neuwahlen frei.
1982 hatte Helmut Kohl nach einem Koalitionswechsel der FDP Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum als Kanzler abgelöst. Kohl wollte die neue Koalition durch Neuwahlen festigen und stellte zu diesem Zweck die Vertrauensfrage. In der Abstimmung enthielten sich alle Abgeordneten der neuen schwarz-gelben Koalition und machten so den Weg zur Parlamentsauflösung frei. Während sich 1972 niemand an dem gewählten Verfahren störte, klagten nun mehrere Abgeordnete vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter wiesen die Klagen ab. Allerdings stellten sie Kriterien für künftige Fälle einer Auflösung des Parlaments auf.
Grundsätzlich hatten die Verfassungsrichter zwar keine Einwände gegen ein „bestelltes“ Misstrauensvotum, welches nun auch Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Auflösung des Parlaments nutzt. Allerdings reicht es nach dem Urteil auch nicht aus, dass sich alle drei an der Auflösung des Parlaments beteiligten Verfassungsorgane einig sind, also die Auflösung des Parlaments rein formal nach den Regeln des Grundgesetzes zustande gekommen ist. Die Verfassungsrichter fordern vielmehr, dass auch „objektive Gründe“ für eine politische Instabilität sprechen müssen. Der Kanzler sollte also glaubhaft machen können, dass er für seine Politik nicht mehr die erforderliche Mehrheit hat.
So ist es nach Ansicht der Verfassungsrichter nicht zwingend, dass der Bundeskanzler bereits eine Abstimmung verloren hat. Auch die Aussicht auf mangelnde Zustimmung genügt. Aber die „politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag“ – so heißt es in der Entscheidung der Richter. Bei der Beurteilung der politischen Lage lässt das Verfassungsgericht dem Kanzler einen breiten Spielraum. Denn, so argumentieren die Richter, bei der Beurteilung politischer Stabilität geht es um Annahmen über die Zukunft, die vom Gericht nur sehr eingeschränkt bewertet werden können.
Als abschreckendes Beispiel diente den Vätern und Müttern des Grundgesetzes die starke Stellung des Präsidenten in der Weimarer Reichsverfassung. Danach konnte der Reichspräsident jederzeit den Reichstag auflösen. Ein Machtinstrument, von dem die Weimarer Reichspräsidenten reichlich Gebrauch machen. Besonders die Parteienzersplitterung führte dazu, dass die Auflösung des Reichstages mit anschließenden Neuwahlen nicht zu eindeutigen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen und damit zu stabilen Regierungen beitrug. Kein einziges Parlament überstand während der Weimarer Republik die volle Legislaturperiode. Und wenn sich ein Parlament nicht im Sinne des Staatsoberhauptes verhielt, musste es mit der Auflösung rechnen.
Verkürzte Legislaturperioden sind hingegen in der Bundesrepublik die Ausnahme. Und anders als in der Weimarer Zeit kann auch der Bundespräsident das Parlament nicht durch ein Auflösungsrecht unter Druck setzen. Überhaupt ist das Modell Bundesrepublik so ziemlich das Gegenteil der Weimarer Konstruktion. Solange es eine stabile Mehrheit gibt, auf die sich der Kanzler stützen kann, ist überhaupt keine Auflösung des Bundestages möglich. Das gilt auch dann, wenn der amtierende Kanzler seine Mehrheit verliert und an seiner Stelle ein anderer ins Amt gewählt wird, etwa durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG.
Dass es auch anders geht, zeigt der Blick über den Kanal. In Großbritannien ist es das Privileg des Premierministers, jederzeit innerhalb der höchstens fünfjährigen Legislaturperiode Neuwahlen auszuschreiben. Er muss dazu nur die Königin um Auflösung des Unterhauses bitten. Gegen Ende einer Legislaturperiode versucht ein Premier den für ihn günstigsten Moment abzupassen, um Neuwahlen auszuschreiben. Dass dieses Privileg nicht unbedingt einen Vorteil für den Premier bei der Wahl bedeutet, zeigt, dass seit Ende des Zweiten Weltkrieges bei sechs von 17 Wahlen die Opposition den Sieg davontrug.
Auch in einigen deutschen Bundesländern ist der Weg zu Neuwahlen sehr viel einfacher. In Baden-Württemberg etwa ist der Landtag automatisch aufgelöst, wenn er drei Monate nach seiner Konstituierung oder nach einem Rücktritt des Ministerpräsidenten keinen Nachfolger mit der Mehrheit seiner Mitglieder wählt. In Niedersachsen kann die Mehrheit der Mitglieder des Landtags beschließen, das Parlament selbst aufzulösen, wenn sich keine absolute Mehrheit für die Wahl eines Regierungschefs findet.
Mittlerweile wird auch auf Bundesebene ein Selbstauflösungsrecht für den Bundestag diskutiert. Einzelne Abgeordnete haben sogar eine Verfassungsänderung noch vor einer Neuwahl des Parlaments in diesem Jahr ins Gespräch gebracht. Zumindest könnte dies ein Weg sein, bei künftigen Parlamentsauflösungen Missverständnisse zu vermeiden.
Text: Matthias Rumpf
Fotos: Picture-Alliance
Erschienen am 29. Juni 2005
Vertrauensfrage, Auflösung des Bundestages
Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers