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Eine der zentralen Aufgaben des Bundestages ist die Kontrolle der Regierung. In der Praxis und in den Augen der Öffentlichkeit wird sie vor allem von der Opposition wahrgenommen. Doch die ist seit Bildung der großen Koalition rein zahlenmäßig so schwach wie nur einmal zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Ihren 166 Abgeordneten steht eine massive Mehrheit von 448 Parlamentariern von CDU/CSU und SPD gegenüber. Kann die Opposition, kann der Bundestag als Ganzes dennoch die Regierung wirksam kontrollieren? Welche Instrumente stehen ihm dazu zur Verfügung?
Die beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD haben bisher nur einmal, 1966 bis 1969, eine gemeinsame Regierung gebildet. Sie verfügte über 468 Sitze im Bundestag, die FDP als einzige Oppositionsfraktion zählte gerade einmal 50 Mitglieder. Und dennoch konnte die erste große Koalition nicht alle Pläne umsetzen. Dafür sorgten auch die eigenen Leute, die etwa die fest vereinbarte Einführung des Mehrheitswahlrechts zu Fall brachten.
Eine große Koalition muss also nicht unbedingt ein bequemes Ruhekissen für die Regierung sein. Denn in den eigenen Reihen kann sich leichter Widerstand formieren als zu Zeiten knapper Mehrheiten. Und die Opposition kann der Mehrheit trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit immer wieder in die Parade fahren.
Die jetzige große Koalition hat davon bereits einen Vorgeschmack erhalten. Da debattierte der Bundestag in einer Aktuellen Stunde das Engagement von Altkanzler Gerhard Schröder bei der russischen Erdgas-Pipeline – ein Thema, das naturgemäß die Opposition sehr viel mehr interessierte als die Koalition. Deshalb waren deren Plätze nur spärlich besetzt, als die FDP beantragte, Vizekanzler Franz Müntefering zur Erläuterung der Regierungshaltung ins Plenum zu zitieren. Die drei Oppositionsfraktionen machten gemeinsame Sache und fügten der Koalition ihre erste Abstimmungsniederlage zu.
Koalition der Opposition?
Allerdings gelang das nur, weil alle anwesenden Oppositionsabgeordneten dem Antrag zustimmten. Ohne Zusammenarbeit von FDP, der Linken und den Grünen ist erfolgreiche Opposition nur schwer zu leisten.
Jan Mücke, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, hält den Vorgang für exemplarisch: „Wenn die Opposition zusammensteht, kann sie auch im Einzelfall eine Mehrheit des Hauses erreichen.“ Angesichts der Gefahr eines Defizits an parlamentarischer Kontrolle sei für seine Fraktion die Zusammenarbeit mit den anderen Oppositionsfraktionen besonders wichtig. So sei die gegenseitige Unterstützung bei der Beantragung von Anhörungen über Gesetzesvorhaben eine Möglichkeit, die Öffentlichkeit breit zu informieren. „Wir werden uns selbstverständlich eng innerhalb der Opposition abstimmen, um Kontrollrechte auch wahrnehmen zu können.“
Auch Die Linke. zieht da mit, ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Bodo Ramelow meint, der erste Abstimmungserfolg der „sehr lebendigen Opposition“ habe gezeigt, dass sie sehr schnell gemeinsam handeln könne, um parlamentarische Rechte wahrzunehmen. Ramelow verschweigt allerdings die großen politischen Unterschiede zwischen den drei Fraktionen nicht, die eine Verständigung über ein gemeinsames Vorgehen nicht einfach machten.
Er weist auf die Untersuchungsausschüsse hin, die zu den wichtigsten Kontrollinstrumenten des Parlaments gehören. Für deren Einsetzung sind die Stimmen von 25 Prozent der Abgeordneten nötig. Das heißt, alle drei Oppositionsfraktionen müssen sich über einen solchen Schritt und auch über den Untersuchungsauftrag einig sein. Ramelow sorgt sich deshalb, dass diese Waffe stumpf werde, weil der Ausschuss auf die Fragen beschränkt bleibe, bei denen es inhaltliche Schnittmengen der drei Fraktionen gebe. Zwar werde es keine Koalition in der Opposition geben. „Aber die Konstellation zwingt dazu, in vielen Fragen die Haltung der anderen Fraktionen mitzudenken. Da läuft im Moment auf allen Seiten ein spannender Lernprozess.“
Irmingard Schewe-Gerigk, Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen, geht noch einen Schritt weiter. Sie sagt, zwar gebe es keine Koalition in der Opposition, weil jede Oppositionsfraktion für ihre eigenen Inhalte kämpfe. Bei der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses oder bei der Durchsetzung einer Anhörung im Ausschuss sei aber ein gemeinsames Vorgehen geboten. Darum könne auch der Satz gültig sein: „Ohne Koalition in der Opposition gibt es gar keine Opposition.“
Das zumindest vorläufige Scheitern eines gemeinsamen Antrages aller drei Oppositionsfraktionen für einen Untersuchungsausschuss zum Thema Geheimdienste zeigt aber auch wie begrenzt solch eine Koalition in der Opposition sein kann. Schließlich ist ein Untersuchungsausschuss nicht nur ein parlamentarisches Kontrollinstrument, sondern immer auch ein politisches Kampfinstrument.
Das Arsenal der Opposition
Neben Untersuchungsausschüssen und Anhörungen stehen der Opposition – wie auch den anderen Fraktionen – zur Kontrolle der Regierung noch eine Reihe weiterer Instrumente zur Verfügung. So kann jede Fraktion bei Gesetzesvorhaben und anderen Vorlagen – nicht aber bei Wahlen – eine namentliche Abstimmung durchsetzen. Das wird sie möglicherweise tun, wenn sie vermutet, dass die Regierungskoalition bei einem bestimmten Vorhaben nicht einig ist.
Ein nicht nur bei der Opposition beliebtes Mittel zur Kontrolle der Regierung sind ferner die Fragen an die Regierung, die diese mündlich oder schriftlich zu beantworten hat. Jeder einzelne Abgeordnete kann solche Fragen an die Regierung richten. Einzelne Fraktionen können Aktuelle Stunden verlangen, zum Beispiel wenn ihr Antworten der Bundesregierung in der Fragestunde als nicht ausreichend erscheinen.
Auskunft über die Haltung der Regierung zu einem bestimmten Thema können die Fraktionen ferner in Großen oder Kleinen Anfragen verlangen und eine Aussprache über die Beantwortung einer Großen Anfrage im Plenum mit fünf Prozent der Abgeordneten erzwingen. Rede und Antwort stehen müssen die Kabinettsmitglieder auch in der Befragung der Bundesregierung, die in der Regel nach der Sitzung des Kabinetts am Mittwoch stattfindet.
Damit verfügt auch eine kleine Opposition über ein beachtliches Arsenal zur Kontrolle der Regierung. Eine der schärfsten Waffen, die das Parlament gegen die Regierung ziehen kann, fehlt ihr aber. Will sie durch ein so genanntes Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht prüfen lassen, ob ein Gesetzesvorhaben der Regierung mit der Verfassung vereinbar ist, benötigt sie laut Grundgesetz die Zustimmung eines Drittels der Mitglieder des Bundestages. SPD und CDU/CSU konnten zu ihren Oppositionszeiten diese Möglichkeit zum Teil erfolgreich nutzen, weil sie über mehr als ein Drittel der Mandate verfügten. Die heutige Opposition besetzt aber gemeinsam nur 27 Prozent der Sitze.
Eine der ersten Initiativen der FDPFraktion in dieser Wahlperiode war deshalb die Vorlage eines Entwurfs zur Änderung des Grundgesetzes, durch die die Hürde zur Einleitung eines Normenkontrollverfahrens auf 25 Prozent gesenkt werden soll. Mücke: „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes konnten eine solche Konstellation, wie sie heute besteht, nicht vorhersehen. Dennoch muss es der Opposition möglich sein, Rechtssetzungsakte höchstrichterlich überprüfen zu lassen, wenn der begründete Verdacht einer Verfassungsverletzung vorliegt.“ Die FDP hofft, dass auch die Koalitionsfraktionen ein Interesse daran haben, dass die Opposition ihre Rolle effektiv wahrnehmen kann.
Die beiden anderen Oppositionsfraktionen zeigen zwar Sympathie für diesen Vorstoß, bezweifeln aber, dass die Koalition dabei mitzieht. Ohne sie ist die für eine Grundgesetzänderung notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zu erreichen. Schewe-Gerigk sagt voraus, dass die große Koalition an einer solchen Grundgesetzänderung kein Interesse hat. „Dennoch sollte sie auch im eigenen Interesse so weitsichtig sein, der Opposition Freiräume und Rechte im Parlament zu geben, denn an der Herausbildung einer außerparlamentarischen Opposition dürfte auch ihr nicht gelegen sein.“
Die Rechte der Opposition
Dass der Opposition bestimmte Freiräume eingeräumt werden, ist allerdings bereits parlamentarische Tradition. So steht der Opposition der Vorsitz im Haushaltsausschuss zu, einem der wichtigsten Organe zur Kontrolle der Regierung. In der 16. Wahlperiode stellt die FDP als größte Oppositionsfraktion den Vorsitzenden.
Auch bei der Festsetzung der Tagesordnung wird dafür gesorgt, dass die Opposition hinreichend zum Zuge kommt. So kann sie von den wichtigsten vier Debattenthemen, die in der so genannten Kernzeit (Donnerstag und Freitag) behandelt werden, jeweils eines bestimmen, bei der restlichen Tagesordnung sogar eines von jeweils drei Themen.
Auch materiell werden die Oppositionsfraktionen besonders behandelt. Das Abgeordnetengesetz sieht für die Opposition spezielle Zuschläge bei der Fraktionsfinanzierung vor. Dahinter steht der Gedanke, dass die Regierungsmehrheit für ihre Arbeit über ganz andere Hilfsmittel verfügt als die Opposition. Wenn es zum Beispiel um die Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen geht, liefern die von Parteifreunden geleiteten Ministerien „Formulierungshilfen“. Die Opposition muss die Arbeit von ihren eigenen Mitarbeitern erledigen lassen.
Die Regierungsfraktionen
Dennoch wäre die Kontrolle der Regierung zu Zeiten einer großen Koalition nicht sehr wirkungsvoll, wenn nicht das Parlament als Ganzes diese Aufgabe wahrnehmen würde. Bundestagspräsident Norbert Lammert erinnerte nach seiner Wahl daran, dass das Parlament „nicht Vollzugsorgan der Bundesregierung, sondern umgekehrt ihr Auftraggeber“ sei. Gerade zu Zeiten einer großen Koalition sei das Selbstbewusstsein des Parlaments gegenüber der Regierung besonders gefordert.
Bernhard Kaster, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, lässt keinen Zweifel daran, dass die Koalitionsfraktionen dieses Selbstbewusstsein aufbringen und der Regierung „auf Augenhöhe begegnen“. Bei der Beratung und Begleitung von Gesetzesvorhaben werde „die Bundesregierung durch die Fraktion getragen und gestützt, das schließt aber eine lebendige und kritische Diskussion nicht aus.“ Tatsächlich verlässt kein Gesetzentwurf der Regierung die Ausschüsse ohne Änderungen. Die Auseinandersetzung mit der Regierung ist also nicht auf die Opposition beschränkt. Sie findet aber anders als deren Aktionen oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, in Arbeitsgruppen, Arbeitskreisen und Ausschüssen.
Eine ganz wichtige Kontrollinstanz ist der Haushaltsausschuss. Kaster betont, dessen Selbstverständnis führe schon traditionell dazu, dass hier auch die Vertreter der Koalition die Befugnisse dieses Ausschusses ernsthaft wahrnehmen und – wenn notwendig – durchaus unbequem nachfragen, aufklären und verändern. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Haushälter dieses gute Selbstverständnis in der Großen Koalition aufgäben.
Hans-Ulrich Klose, ehemaliger SPDFraktionschef und früherer Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, bestätigt, dass die Abgeordneten in den Fraktionsgremien und auch in den Ausschüssen die Haltung ihrer Regierung durchaus kritisch unter die Lupe nehmen. Gerade dem Selbstverständnis des Auswärtigen Ausschusses entspreche es, dass man unter Ausschluss der Öffentlichkeit auch abweichend von den festgesteckten Parteilinien rede. Das gelte erst recht zu Zeiten einer großen Koalition. Wenn der Solidarisierungsdruck einer „Drei-Menschen-Mehrheit“ fehle, dann könnten die unabhängigen Köpfe in den beiden Koalitionsfraktionen sich durchaus etwas freier fühlen, eigene Positionen zu vertreten. Darin liege auch eine Chance.
Das Ansehen des Parlaments hängt nicht zuletzt davon ab, wie selbstbewusst es seine Kontrollaufgabe wahrnimmt, wie selbstbewusst es der Regierung gegenübertritt. Norbert Lammert machte unter dem Beifall aller Abgeordneten in seiner Antrittsrede deutlich, dass der Bundestag allen Grund zu diesem Selbstbewusstsein hat: „Was ein politisches System als Demokratie qualifiziert, ist nicht die Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines Parlamentes und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität. Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht.“
Text: Klaus Lantermann
Erschienen am 8. Februar 2006