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Seit 1997 treffen sich die Präsidien der französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages regelmäßig zu gemeinsamen Beratungen. Anfang April kamen die Präsidenten der Parlamente und ihre Stellvertreter wieder in Berlin zusammen. Ein Gespräch mit den Präsidenten der beiden Parlamente, Jean-Louis Debré und Norbert Lammert, über die Perspektiven der Beziehungen, die Notwendigkeit sprachlicher Vielfalt in der Europäischen Union und über die Chance, bei politischen Schlüsselfragen wie Integration oder Arbeitslosigkeit immer wieder voneinander zu lernen.
Blickpunkt Bundestag: Monsieur le Président, wie schätzen Sie nach dem deutschen Regierungswechsel hin zur Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel die deutsch-französischen Beziehungen ein? Gibt es einen neuen Stil? Hat sich etwas politisch oder atmosphärisch verändert?
Jean-Louis Debré: Erfreulicherweise gibt es einen dauerhaften gemeinsamen Willen, freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zu unterhalten. Nicht nur zugunsten unserer beiden Länder, sondern auch zum Ausbau des Europäischen Hauses insgesamt. Seit die neue Kanzlerin im Amt ist, haben wir mit großer Freude festgestellt, dass diese Tradition, die in unseren Köpfen und Herzen verankert ist, weiter besteht. Natürlich hängen Beziehungen immer auch von den Persönlichkeiten der politisch Verantwortlichen ab. Dass die erste Amtsreise der deutschen Kanzlerin nach Frankreich ging und sie vor den Franzosen bekräftigt hat, dass die deutsch-französischen Beziehungen ihr am Herzen liegen, hat uns sehr froh gemacht.
Blickpunkt: Herr Bundestagspräsident, ist das auch Ihre Sicht? Gibt es gewissermaßen eine automatische Kontinuität problemloser Beziehungen?
Norbert Lammert: Die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern und Parlamenten ist so perfekt, dass ich Satz für Satz von dem unterstreichen kann, was der Kollege Debré gerade gesagt hat.
Debré: Ich muss noch einen Einwurf zu Ihrer Frage machen. Mir gefällt nicht, wenn man von einem Automatismus unserer Beziehungen spricht. Nein, es soll keinen Automatismus geben! Unsere Zusammenarbeit kommt wirklich von Herzen. Deshalb möchte ich, dass wir aus unseren Beziehungen alles verbannen, was eine Gewohnheit werden könnte. Die deutschfranzösischen Beziehungen sind kein Reflex, sondern ein Bedürfnis unserer Bevölkerungen.
Blickpunkt: Wie gut ist die Kooperation zwischen der Assemblée nationale und dem Bundestag? Sind die Parlamente der Motor der deutschfranzösischen Beziehungen? Spielen sie eine Vorreiterrolle für die Regierungszusammenarbeit?
Lammert: Ich kann da keinen Vorsprung der Parlamente erkennen. Es liegt in der Natur der Sache, dass – klassisch betrachtet – die Zusammenarbeit zwischen Ländern zunächst Aufgabe der Regierungen ist. Tatsächlich hat sich ja die deutsch-französische Kooperation aus der Zusammenarbeit von Regierungschefs entwickelt. Ohne den Einsatz von Konrad Adenauer in Deutschland und Charles de Gaulle in Frankreich hätte es diese beispiellos enge Zusammenarbeit vielleicht nie, zumindest nicht so früh gegeben. Wir haben in der Folge dann sehr großen Wert darauf gelegt, dass dies eben nicht nur ein auf die Regierungen beschränktes Kooperationsverhältnis sein darf. Deshalb haben wir in den letzten Jahrzehnten die Zusammenarbeit auf der parlamentarischen Ebene immer stärker vertieft.
Debré: Die deutsch-französischen Beziehungen spielen sich auf drei Ebenen ab: der Ebene der Regierungen, wer auch immer gerade die Minister stellt. Der Ebene der Parlamente, egal welche Mehrheiten bestehen, und auf der Ebene der Völker. Dabei spielt das Deutsch-Französische Jugendwerk eine wichtige Rolle. Die Originalität der Beziehungen liegt in diesen drei Ebenen begründet. Deswegen sind unsere Beziehungen gut geölt.
Blickpunkt: Wie steht es mit der Sprache? Die gegenseitigen Sprachkenntnisse in Frankreich und Deutschland zeigen weiterhin eine abfallende Tendenz. Muss der so gern geforderte Dialog bald auf Englisch gehalten werden?
Lammert: Von Zeit zu Zeit tun wir das bereits, insofern ist das gar keine ferne Zukunftsperspektive. Aber genau darin liegt natürlich der Kern des Problems: Englisch entwickelt sich zunehmend zu dem klassischen Verständigungsmittel in einer Welt, die immer stärker zusammenrückt. Das gilt auch für die Europäische Union, in der bei immer mehr Mitgliedstaaten immer mehr Sprachen gesprochen werden. Wir Deutsche und Franzosen als zwei große Kulturstaaten in dieser Gemeinschaft haben ein gemeinsames Interesse, den Rang unserer Sprachen hochzuhalten. Deshalb unternehmen wir große gemeinsame Anstrengungen sicherzustellen, dass die Vereinbarungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft mit Blick auf das Sprachenregime eingehalten werden, also Deutsch und Französisch mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Englisch als Arbeits- und Amtssprache gepflegt werden.
Debré: Das Problem der Sprache ist vielschichtig. Welches Europa wünschen wir uns? Wünschen wir uns ein vollständig uniformes Europa oder ein Europa der Einheit in der Vielfalt? Europa ist doch ein Modell, das von der Vielfalt der anderen lebt. Grundlegend dafür sind die Sprachen. Wir sollten gemeinsam dafür streiten, dass die nationalen Sprachen bei unseren Beziehungen in Europa gesprochen werden können. Denn die Sprachen sind ja immer auch Zeichen einer Kultur, einer bestimmten Sichtweise, einer Art, das Leben zu sehen. Deshalb sollten wir uns der Uniformisierung auf sprachlicher Ebene entgegenstellen.
Blickpunkt: Eine Frage zur Politik. Herr Lammert, entsprach der Massenprotest junger Menschen in Frankreich gegen die Aussetzung des Kündigungsschutzes einem Generationenkonflikt, der auch in Deutschland entstehen könnte?
Lammert: Es wäre nach meinem Verständnis überheblich und leichtfertig, wenn wir die Entwicklungen in Frankreich für Deutschland als ausgeschlossen erklären würden. Das sind zwei Länder mit sehr ähnlichen Standards der Entwicklung und ähnlich langen, wenn auch nicht identischen Erfahrungen von Migrationen. Auch wenn wir, Gott sei Dank, keine Anzeichen dafür haben, dass sich Entwicklungen wie in Frankreich nun auch in Deutschland unmittelbar andeuten, dürfen wir uns nicht bequem zurücklehnen. Dafür sind die Probleme in unseren Ländern zu ähnlich. In beiden Ländern haben wir uns mit der Frage zu beschäftigen, was eigentlich Voraussetzung für gelingende Integration ist. Und: Haben wir nicht manche Erwartungen sich verselbstständigen lassen, ohne uns um die konkreten Rahmenbedingungen zu bemühen, die sicherstellen, dass die gewünschte Integration auch wirklich stattfindet? Ich hoffe sehr, dass die französischen Erfahrungen auch für uns eine Hilfe sind, mit ähnlichen Problemen vielleicht präventiv besser fertig zu werden.
Blickpunkt: Monsieur le Président, ist das, was in Ihrem Land passierte, Ihrer Meinung nach nur ein Auflehnen gegenüber einem bestimmten Gesetz oder ist es insgesamt Ausdruck einer Zukunftsangst junger Menschen?
Debré: Beides. Das Hauptproblem liegt in der Jugendarbeitslosigkeit und in der Tatsache, dass dieses gravierende Problem nicht so schnell in den Griff zu bekommen ist. Fast jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos und sieht keine Zukunftsperspektive. Das ist wirklich schlimm. Aber wir dürfen das nicht einfach nur kritisieren, sondern müssen in Demut Lösungen finden. Wenn wir dies tun, stoßen wir dabei natürlich auch auf Sorgen und Widerstände und auf Angst vor Veränderungen. Muss man also hinnehmen, dass hier Blindheit gegenüber einer Welt an den Tag gelegt wird, die sich verändert, oder soll man langsam progressiv versuchen, Lösungsansätze zu finden? Aber natürlich: Es gibt diese tiefe Angst der Jugendlichen, in Frankreich wie anderswo, weil die Jugend die Welt nicht mehr versteht. Was möchte diese Jugend? Sie hat Zweifel an einer Globalisierung, die man nicht immer im Griff hat, und an einem immer größer werdenden Europa. Und sie sieht im Fernsehen statt einer Welt des Friedens immer mehr Krieg und Aggressionen. Diese Fragen stehen also im Raum. In welcher Welt werden wir leben?
Lammert: In der deutschen Jugend gibt es ähnliche Ängste. Die Probleme in Deutschland sind nicht prinzipiell andere als in Frankreich. Es ist leichter, Orientierungspunkte zu finden, wenn man sich in Situationen befindet, in denen neue Ziele vor Augen stehen, die dringend erreicht werden müssen und auch erreicht werden können. Insofern war in den fünfziger und sechziger Jahren bei der objektiv viel schwierigeren Ausgangssituation die Orientierung der Menschen viel einfacher. Es war klar, was zu leisten war. Was sich an Fortschritten ergab, bestätigte die Motivation, Arbeit, Wohlstand und Frieden zu schaffen. Heute haben wir uns an all das als Selbstverständlichkeiten gewöhnt. Deshalb ist es so schwierig, ähnlich motivierende Ziele zu definieren.
Blickpunkt: Ist die Politik überfordert? Was kann die Politik hier leisten?
Debré: Völker brauchen Träume, brauchen Ambitionen, Visionen. Was ist der Traum, den wir heute haben? Ist es ein wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Traum? Bei aller Notwendigkeit zum praktischen Handeln: Die Politik müsste diesen Traum neu definieren, und da tun wir uns alle etwas schwer.
Das Gespräch führte Sönke Petersen.Die Präsidien von Assemblée
nationale und Deutschem Bundestag verabschiedeten nach ihrer
Sitzung am 6. April eine gemeinsame Erklärung zum Sprachregime
der EU:
Webseite: www.bundestag.de/bic/presse/2006/deutsch.doc