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Der Umzug des Deutschen Bundestages hat Berlin komplett gemacht. Nicht alle Blütenträume sind wahr geworden, aber das Leben ist bunter, lauter und spannender.
Seit dem 31. August 1990 ist Berlin wieder die Hauptstadt Deutschlands. So steht es im Einigungsvertrag. Damals hatten die Menschen in der Stadt gerade begonnen, sich an die nun ungeteilte Stadt zu gewöhnen, der es nicht an ganz viel Geschichte mangelte, aber an einer urbanen Mitte. Daraus sollte nun die Hauptstadt aller Deutschen werden?
Viele zweifelten. Die Berliner waren noch sehr mit sich selbst beschäftigt und mit ihrer sich rasant verändernden Stadt. Das mit dem Bundestag und der Regierung schien in weiter Ferne. Das Leben war anstrengend und schön. Und Bonn ziemlich weit weg.
Andere begannen, an die Zukunft Berlins als Hauptstadt zu glauben.
So gründete sich schon kurz nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages die Initiative Hauptstadt Berlin e.V. Nicht unpolitisch, aber überparteilich wollte man sich für das Zusammenwachsen der Stadt engagieren. Vornehmliches Satzungsziel: den Bundestagsbeschluss zum Umzug in die Hauptstadt fördern und diesen Umzug dann begleiten. Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991, Parlaments- und Regierungssitz nach Berlin zu verlegen, begann Berlin an seiner Mitte zu arbeiten, einer Mitte, die sieben Jahre später bereits Parlamentsviertel sein sollte, nachdem sie jahrzehntelang nicht mehr als Leere und Wunde verkörpert hatte.
Am Potsdamer Platz wuchsen Häuser in den Himmel, der Pariser Platz war bald nicht mehr Ödland mit einem geschichtsträchtigen Tor, sondern wurde ein Ereignis. Mit dem Hauptstadtvertrag zwischen dem Bund und dem Land Berlin wurden die Bundestagsbauten in Angriff genommen, das Reichstagsgebäude erst entkernt und dann mit einer gläsernen Kuppel geschmückt. Alte Straßen verschwanden, neue entstanden. Sichtachsen veränderten sich.
Berliner Chic auf der Regierungsbank
Der Bezirk Mitte, 1920 im Zuge des Groß-Berlin-Gesetzes entstanden, 2001 mit Wedding und Tiergarten fusioniert, schon immer mit der größten Dichte an historischen Sehenswürdigkeiten und den größten touristischen Attraktionen, wurde Aushängeschild der Stadt und zugleich augenfälligster Beweis für Veränderungen. Die Menschen in der Stadt spürten und sahen diese Veränderungen und konnten sie nicht ganz glauben. So nah sollten und wollten ihnen das Parlament und ihre Regierung kommen?
Markus Voigt, Vorsitzender der Initiative Hauptstadt Berlin, sagt: „Erst mit dem Umzug des Bundestages nach Berlin ist das Hauptstadtgefühl richtig da gewesen. Und es ist ein gutes Gefühl. Jetzt hat alles eine große Selbstverständlichkeit. Aus unserer Sicht hat der Umzug viel, sehr viel Positives mit sich gebracht. Unternehmen sind gekommen, Menschen, Besucher, Institutionen, Vereine, Wissen und Kultur. Berlin ist einfach eine wunderbare Stadt geworden.“ Obwohl der eigentliche Zweck der Initiative längst erfüllt ist, haben sich neue Inhalte gefunden. „Wir wollen denen, die nach Berlin kommen und hier etwas tun möchten, schnellen Zugang zu Wirtschaft und Politik verschaffen. Und wir möchten das Image der Stadt weiterhin positiv beeinflussen, Bildung fördern und Kultur. Da gibt es immer Neues und stets viel zu tun.“
Gekommen sind wahrhaftig viele. Und sie haben, wie der Berliner sagt, „Leben in die Bude“ gebracht. Viele spüren das und haben ein Gespür dafür entwickelt. Shashi Stephan zum Beispiel, Besitzerin der Boutique „Ananda“ am Savignyplatz, empfindet die ganze Entwicklung als Glücksfall – für das Leben, die Stadt und das Geschäft. Im Frühjahr 2003 war im „Spiegel“ ein Foto der Politikerinnen Edelgard Bulmahn und Heidi Wieczorek-Zeul zu sehen. Beide auf der Regierungsbank und beide im gleichen Outfit, gekauft bei „Ananda“. „Bei mir kleiden sich viele Politikerinnen ein und ich finde es toll, wenn ich sie dann im Fernsehen in einem Kleid sehe, das aus meinem Laden stammt.“
Shashi Stephan eröffnete ihre Boutique vor 26 Jahren. Damals konnte niemand wissen und glauben, dass irgendwann Ministerinnen und Abgeordnete hier ein- und ausgehen werden. „Es ist ein Glück mit dieser Hauptstadt und dem Umzug der Politik hierher. Die Stadt ist bunter und spannender und mir geht es gut damit.“
Gut geht es auch Johanna Ismayr mit ihrem BundesPresseStrand, einem 4.000 Quadratmeter großen Gelände an der Spree, gegenüber dem Paul- Löbe-Haus. Hier, ein wenig abseits und doch mittendrin, treffen sich Politiker und Journalisten, Neugierige und Touristen. Die einen wollen reden und zuhören, die anderen ausruhen und bloß schauen, denn von hier aus gibt es einen einzigartigen Blick auf die Hauptstadt und ihre politische und eigentliche Mitte.
„2003, als wir anfingen“, sagt Johanna Ismayr, „saßen wir zwischen Baugerüsten und Kränen. Jetzt steht der Berliner Hauptbahnhof und vieles hat sich ganz spektakulär entwickelt. Ohne den Umzug des Parlaments gäbe es den BundesPresseStrand natürlich nicht.“ Für die Journalistin war der Umzug Voraussetzung für die Geschäftsidee. In diesem Jahr steht am BundesPresseStrand ein großer Pavillon und im Juni, wenn die Fußballweltmeisterschaft beginnt, wird es erstmals den deutschen Medienclub geben, einen Treffpunkt für in- und ausländische Journalisten.
2003 wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Finanzen eine Studie erstellt, die sich mit der Auswirkung der Hauptstadtfunktion auf die regionale Wirtschaftsentwicklung in Berlin befasste. Die Erwartungen waren hoch gesteckt. Es sei, sagt der Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf, von enormer Bedeutung, dass Berlin Sitz des Bundestages, der Bundesregierung und des Bundesrates ist. „Auf meinen Auslandsreisen erlebe ich immer wieder, dass es auch für Investoren einen wichtigen Standortfaktor darstellt, dass Berlin der Regierungssitz des größten Mitgliedsstaates der Europäischen Union ist. Als Wirtschaftssenator wünsche ich mir natürlich, dass aus den unbestrittenen Stärken unserer Stadt in Wissenschaft und Kultur auch wirtschaftliches Wachstum und mehr neue Arbeitsplätze entstehen.“
Tourismusboom und neue Kundschaft
Die Studie der Prognos AG sagt, dass es im Zeitraum 1995 bis 2003 eine spürbare Belebung der Berliner Wirtschaft gab. Die Investitionen und temporären Ausgaben, die sich aus der Hauptstadtfunktion ableiteten, erreichten eine Höhe von sieben Milliarden Euro. In den Jahren 1998 bis 2001 konnte durch die Hauptstadtfunktion ein Rückgang des nominalen Inlandsproduktes verhindert werden.
Gerhard Wilke ist Geschäftsführer bei der Gegenbauer Gebäudeservice GmbH, die Auftragnehmerin des Deutschen Bundestages ist. 25 Reinigungskräfte sorgen für Sauberkeit im Reichstagsgebäude und im Haus der Parlamentarischen Gesellschaft. Dazu kommen Glasreiniger, die den Durchblick in der Reichstagskuppel schaffen. Für die Gegenbauer-Teamleiterin Cakiv Ümren bedeutet der Umzug des Parlaments nach Berlin seit sieben Jahren feste und gute Arbeit. „Es macht so viel Spaß, hier zu arbeiten. Wenn wir oben in der Kuppel alles sauber gemacht haben und die Absperrung entfernen und die Menschen schon warten, um wieder hoch in die Kuppel laufen zu können, das ist für mich der schönste Augenblick.“
Gerhard Wilke sagt, für sein Unternehmen seien Hauptstadtbeschluss und Umzug nur positiv zu bewerten. „Wir haben ganz wichtige Auftraggeber dazugewonnen: den Bundestag, den Bundesrat, einige Ländervertretungen. Das hat Arbeitsplätze geschaffen und wir hoffen sehr, dass uns diese Aufträge erhalten bleiben.“
Genau bemessen lässt es sich nicht, wie viele Arbeitsplätze dazugekommen sind. Die Prognos-Studie spricht von 52.000 Arbeitsplätzen, die nach Ausklingen der temporären Effekte durch die Hauptstadtfunktion dauerhaft gesichert sein werden. Wenn man sich anschaut, wie sich der Tourismus entwickelt hat und alles, was mit ihm zusammenhängt, will man das glauben. Hier sind allein rund 9.000 Arbeitsplätze gesichert oder neu geschaffen worden. 14,7 Millionen Übernachtungen buchten Besucher im vergangenen Jahr in Hotels und Pensionen. Ein Rekord, der im WMJahr vielleicht gebrochen wird.
Die neue Mitte der Stadt ist ein Magnet. „Free tour“ startet jeden Tag zwei Mal Besichtigungstouren vom Pariser Platz aus. Und egal, wie das Wetter ist, da wo die Studentinnen und Studenten mit dem Schild von „free tour“ stehen, sammeln sich schnell große Gruppen Neugieriger. Sie lassen sich durch das Parlamentsviertel, zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, an den Potsdamer Platz, zur Berliner Mauer, zum Checkpoint Charlie und zum Gendarmenmarkt führen und beginnen dabei, die Mitte, die Stadt selbst zu lieben. Aber vor allem lieben sie das Reichstagsgebäude und den Blick von der Kuppel, dem neuen Wahrzeichen, über die ganze Stadt.
Lokalpatrioten mit Extratouren
Aber es sind nicht nur die Besucher, die für neues Leben in der Stadtmitte sorgten und sorgen. Längst haben sich hier auch Werbeagenturen, Rechtsanwaltskanzleien, Beratungsunternehmen, Medien, Filmindustrie niedergelassen. Jedes DAX-Unternehmen hat zumindest eine Dependance in Berlin.
Michael Müller, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, findet wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen auch aus anderen Fraktionen, dass in der Berliner Landespolitik Abstimmungsprozesse mit dem Bund einfacher sind. „120 Staaten und 16 Bundesländer unterhalten in Berlin eine Botschaft oder Landesvertretung. Berlin ist Hauptstadt, das ist inzwischen in fast allen Stadtteilen zu erkennen. Ob wirtschaftlich, gesellschaftlich oder kulturell, in Berlin kann man sich auf internationalem Parkett austauschen und Beziehungen pflegen.“ Zum 20. Jahrestag des Bonn-Berlin- Beschlusses wünscht sich der Politiker, dass alle Ministerien in der Hauptstadt ihren Sitz haben und nicht länger aus zwei Städten regiert wird.
Die meisten Menschen in Berlin sehen das ziemlich gelassen. Sie haben ihre Stadt geliebt, als sie nicht Hauptstadt war und geteilt dazu, und sie lieben sie heute. Lokalpatriotismus gibt es in unterschiedlichster Ausprägung. Bus- und Taxifahrer machen, wenn sie Lust haben, aus einer einfachen Tour von A nach B eine kleine Stadtrundfahrt mit launigen Erklärungen, in Altberliner Kneipen wird gern jene etwas ruppige Freundlichkeit gepflegt, die man entweder ganz oder gar nicht mag, und fern von Berlin befällt noch jede und jeden ganz schnell die große Sehnsucht nach Hause.
Die Hauptstadt hat aus Berlinerinnen und Berlinern Hauptstädterinnen und Hauptstädter gemacht. Icke und dette sagen sie trotzdem und behaupten weiterhin, die Erfinder der Currywurst zu sein. Dabei ist eigentlich nur gesichert, dass der Döner in Berlin erfunden wurde. Als an Hauptstadt noch nicht zu denken war. Aber viele an Berlin glaubten.
Text: Kathrin Gerlof