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Im Alltag ist Föderalismus kaum zu erleben. Am Rand der Autobahn verabschiedet sich mal das eine Bundesland, heißt das andere Bundesland den Autofahrer willkommen. Aber die Autobahn wird nicht kleiner oder größer. Ob über Arbeitslosengeld oder Wohnungsbauprämie gesprochen wird, über Kilometerpauschale oder Umsatzsteuer – meist weiß jeder Mensch in Deutschland, dass er gleich betroffen ist, ob er in Flensburg oder Fulda lebt, in München oder Magdeburg. Und natürlich wissen wir aus dem Grundgesetz: Die Grundrechte gelten überall in Deutschland. Am Sinn dieser Regelung würde niemand zweifeln. Dass Föderalismus über die Jahre immer mehr zum „unbekannten Wesen“ wurde, hat andere Gründe. Die am 1. September 2006 in Kraft getretene Föderalismusreform soll dem Bundesstaatsprinzip wieder Gestaltungskraft geben.
Diese Wahrnehmung der Wirklichkeit kommt nicht von ungefähr. In dem Bemühen, für alle Deutschen möglichst gleiche Lebensverhältnisse zu schaffen, hat der Bund in den fünfeinhalb Jahrzehnten seines Bestehens fast alles einheitlich geregelt, was zu regeln war. So entstand das Bild einer Allzuständigkeit von Bundesregierung und Bundestag, in der der Bundesrat eine merkwürdige Rolle zu spielen schien: der Bremser der Nation. Wenn Deutschland unbeweglich blieb oder gelähmt der Entwicklung in anderen Ländern hinterherhinkte, schob es die Opposition gern auf die Untätigkeit der Regierung; besonders wenn die Parteifreunde der Opposition im Bundesrat die Mehrheit stellten, schob es die Regierung auf die Mehrheit im Bundesrat, die wichtige Projekte blockiere.
Das hängt mit dem grundsätzlichen Aufbau des Staates zusammen. Deutschland ist eben kein Zentralstaat wie etwa Frankreich, wo die Regionalbehörden vor allem die Vorgaben aus der Hauptstadt umzusetzen haben und erst in jüngster Zeit eigene Kompetenzen entwickeln. Deutschland ist eine Bundesrepublik. Die Länder sind die Grundlage der Republik, und sie haben sich zum Bund zusammengeschlossen. Der sollte ursprünglich einmal nur das machen, was besser überregional koordiniert werden sollte. Alles andere sollte weiter in den Regionen (Ländern) geregelt werden. Subsidiaritätsprinzip heißt das: je näher am Menschen, desto besser. Was die Familie am besten macht, muss die Nachbarschaft ihr nicht abnehmen, und so weiter – bis hin zur Gemeinde, zum Stadtbezirk, zum Kreis und zur Stadt, zum Land und dann irgendwann zum Bund und zur Europäischen Union.
Freiräume für die Länder
So liest sich auch der allererste Grundsatz für die Verteilung der Zuständigkeiten: „Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht“, lautet Artikel 70 GG. Das klingt eigentlich danach, dass grundsätzlich die Länder zuständig sind und nur ausnahmsweise der Bund. Der Eindruck wird im Folgenden verstärkt, wenn die Verfassung ein weiteres Gerüst für die Gesetzgebung einzieht und alle Lebensbereiche in drei Gesichtspunkte unterteilt: in Gegenstände der ausschließlichen, konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung des Bundes.
Die ausschließliche Gesetzgebung weist dem Bund eindeutig das Zugriffsrecht zu, wenn auf diesen genau umrissenen Feldern Regelungsbedarf besteht. Wenn die Länder hier eigene Vorschriften erlassen wollen, müssen sie dazu eigens vom Bund ermächtigt sein. In der konkurrierenden Gesetzgebung kann der Bund tätig werden, wenn es um bundesweit gleichwertige Lebensverhältnisse geht und dazu eine Bundesregelung erforderlich ist. Hier können die Länder nur Gesetze beschließen, wenn der Bund Lücken gelassen hat. Und dann hatte das Grundgesetz auch noch die Rahmenvorschriften definiert. Auf den davon betroffenen Politikfeldern konnte der Bund, wie der Name schon sagt, einen Rahmen vorgeben, den im Einzelnen auszufüllen dann Sache der Länder war.
Verschiedene Verfassungsänderungen, vor allem aber die weitgehende Ausschöpfung der Bundeskompetenzen, führten zum einen dazu, dass die gesetzlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Länder immer weiter zurückgedrängt wurden. Zum anderen sind Gesetze – je nach Materie – nur bedingt wirksam, wenn sie nicht die Art ihrer Ausführung enthalten. Doch die Ausführung wird in der Regelung von den Verwaltungen in Ländern, Städten und Gemeinden übernommen – und damit werden solche Gesetze regelmäßig zustimmungspflichtig. Daraus folgt: Eine Mehrheit im Bundesrat vermag die Politik einer anders gefärbten Mehrheit im Bundestag auszubremsen, auch wenn es um Auseinandersetzung fernab der eigentlichen Frage der Gesetzesausführung geht.
Alle Bundesgesetze, auch die zustimmungsfreien, müssen durch den Bundesrat. Bei den zustimmungsfreien kann ein Einspruch des Bundesrats das Verfahren nur anhalten. Doch der Bundestag kann einen solchen Einspruch zurückweisen. Anders bei zustimmungspflichtigen Regelungen. Hier ist die Mehrheit im Bundesrat zwingend erforderlich. Auseinandersetzungen zwischen Bundestag und Bundesrat münden meist im gemeinsamen Vermittlungsausschuss. Und hier geschieht Kompromissfindung nicht immer entlang nachvollziehbarer sachlicher Kriterien. Mitunter wird ein Entgegenkommen in einem Gesetz mit Entgegenkommen bei einer völlig anderen Regelung erzielt. Das alles trägt nicht unbedingt zur Transparenz von Gesetzgebung bei.
Bereits 1994 hatten Bund und Länder diesem Trend entgegenwirken und durch schärfere Ansprüche an Bundesgesetze mehr Freiräume für Länderkompetenzen schaffen wollen. Das Bundesverfassungsgericht unterstützte die Absicht, etwa durch Entscheidungen zur sogenannten Juniorprofessur oder zu Studiengebühren, die der Regelungskompetenz des Bundes entzogen blieben. Doch die Möglichkeit zur Verlagerung von Kompetenzen auf die Länder blieb weitgehend ungenutzt. Gleichzeitig erwiesen sich die neuen Vorgaben als hinderlich auch auf den Feldern, in denen die Bundeskompetenz eigentlich außer Frage stand.
Es blieb somit bei einem wachsenden Handlungsdruck. Arbeitsgruppen, Kommissionen und Koalitionen erkannten vor allem drei Ziele: deutlichere Zuordnung, entmischte Finanzierung, verringerte Blockade. Und genau diese Vorsätze finden sich nun auch in den Verfassungsänderungen und Gesetzen zur Föderalismusreform wieder.
Deutlicher zuordnen
Der Sinn deutlicherer Zuordnung lässt sich etwa anhand des Wirtschaftsrechts deutlich machen. Handel, Banken, Börsen, Industrie – da versteht sich von selbst, dass es hier einheitlicher Regelungen bedarf, damit der Wirtschaftsund Finanzraum Deutschland auch funktioniert. Aber muss der Ladenschluss überall gleich sein? Oder jede Messe und jede Ausstellung unter denselben Vorgaben ablaufen? Der Hamburger Fischmarkt und der Nürnberger Christkindlmarkt sind nicht nur dem Namen nach unterschiedlich, und auch das Hofbräuhaus in München ist mit dem Fischrestaurant auf Rügen nur schwer vergleichbar – also liegt es nahe, auch die gesetzlichen Vorgaben dazu wieder stärker zu regionalisieren.
Ein anderes Beispiel steckt hinter dem einfachen Begriff „Lärm“. Wie laut Maschinen am Arbeitsplatz sein dürfen, welche Grenzwerte für Flugzeuge zu beachten sind, das sollte nicht mit verschiedenen Maßstäben gemessen werden. Aber welche Geräusche von einem Fußballplatz oder von einem Biergarten ausgehen und wie die Umgebung damit zurechtkommt, das kann regional durchaus unterschiedlich bewertet werden. So wurden sowohl beim Thema Wirtschaft als auch beim Thema Lärm neue Kompetenzverteilungen beschlossen.
Finanzen entmischen
Bei der Entmischung der Finanzierung erzielten Bund und Länder mit dieser Reform einen Einstieg. Zwar vereinbarten sie lange Übergangsfristen, damit sich die Länder allmählich etwa darauf einstellen können, dass sie die Hochschulbaufinanzierung künftig allein stemmen müssen. Aber der Grundsatz einer klareren Aufgaben- und damit auch Ausgabenteilung kam darin bereits klar zum Ausdruck. Doch sind sich Bund und Länder einig, dass die vollständige Neuregelung der Finanzbeziehungen eine weitere Stufe der Föderalismusreform nötig macht. Dabei wird es auch darum gehen, die immer komplizierter gewordenen Regelungen zum Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern und unter den Ländern übersichtlicher zu gestalten. Zudem wollen vor allem die finanzstarken Länder derzeit bestehende „Anreiz-Fehlsteuerungen“ beseitigen. Denn in vielen Bundesländern ist es derzeit wenig attraktiv, mehr eigene Einnahmen zu erwirtschaften, da sie in vielen Fällen den größten Teil davon wieder abgeben müssen. Wenn Leistung nicht belohnt, sondern bestraft wird, arbeitet ein Gemeinwesen schnell unter seinen Möglichkeiten.
Blockade verringern
Kommen wir zum dritten Vorsatz, zur verringerten Blockade. Das Kernproblem besteht ja wie beschrieben darin, dass die Länder natürlich mitreden müssen, wenn sie von Bundesgesetzen direkt betroffen sind, dass die meisten Bundesgesetze aber nicht vom Bund, sondern von der Länderverwaltung ausgeführt werden, sodass sie fast immer betroffen sind. Immer wieder versuchte der Bundesgesetzgeber, die Regelungen „zustimmungsfrei“ zu gestalten, indem die Vorschriften zur Umsetzung sehr im Vagen gehalten wurden oder ergänzenden Vorschriften vorbehalten blieben. Doch es ist nun einmal so, dass eine Regelung stark an Überzeugungskraft verliert, wenn der Bürger ihr nicht entnehmen kann, auf welche Weise sie ihn genau betreffen soll.
Der Ausweg: Tausche Zustimmungspflicht gegen Abweichungsrecht. Eine ganze Reihe von bislang zustimmungspflichtigen Themenbereichen steht dem Bund nun zur Regelung (konkurrierende Gesetzgebung des Bundes) zu, weil die Länder für ihren Einflussbereich abweichende Vorschriften dazu erlassen können. Hält es der Bund auf diesen Feldern jedoch trotzdem für nötig, dass seine Gesetzesformulierungen bundesweit einheitlich bleiben müssen, wird die Bestimmung automatisch wieder zustimmungspflichtig.
Praktischer Nutzen
Wie sich diese Auflösung auswirken wird, lässt sich schwer voraussagen. Die Akteure zeigten sich jedoch von einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages sehr beeindruckt. Die Experten hatten sämtliche Bundesgesetze, die in den letzten beiden Wahlperioden beschlossen worden waren, daraufhin untersucht, wie denn die Kompetenzverteilung von Bund und Ländern gewesen wäre, wenn die jetzige Föderalismusreform bereits damals in Kraft gewesen wäre. Das aufschlussreiche Ergebnis: In der 14. Wahlperiode wäre der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze von 55,2 auf 25,8 Prozent gefallen, und in der 15. Wahlperiode hätten statt 51 nur 24 Prozent der Zustimmung des Bundesrats bedurft.
Sichtbar praktischen Nutzen wird die Föderalismusreform aber nicht nur bei Ladenschluss und Lärm zeigen. Ein spezielles Augenmerk gilt den Umweltgesetzen, die sich derzeit noch weitverstreut in den Bundes- und Landesgesetzessammlungen finden. Hier hat der Bund nun die Möglichkeit, für mehr Übersichtlichkeit zu sorgen und ein Umweltgesetzbuch zu beschließen. Dies ist zugleich ein Beispiel für die Auswirkungen, die mit der Abschaffung der Rahmengesetzgebung und dem Fall der sogenannten Erforderlichkeitsprüfung (für ein nachgewiesen nötiges Tätigwerden des Bundes) für bestimmte Politikbereiche verbunden sind. Der Bund kann nun kompakt regeln. Weil auch hier Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen soll, bleibt die Abweichungsmöglichkeit vom Bundesrecht im Umweltrecht bis Ende 2009 zunächst ausgesetzt, damit nicht eine „Parallelgesetzgebung“ der gewünschten Übersichtlichkeit im Wege steht.
Text: Gregor Mayntz
Erschienen am 22. September 2006