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Bei der diesjährigen Gedenkstunde anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus bezeichnete der Gastredner Ernst Cramer die Nazizeit als „selbstverschuldeten Tiefpunkt der deutschen Geschichte“ und mahnte die heute Lebenden zu Wachsamkeit. Nach der Gedenkstunde suchten er und Bundestagspräsident Lammert den Dialog mit jungen Menschen, die sich im Rahmen der diesjährigen Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages mit der NS-Diktatur befasst hatten. Die Jugendlichen nahmen an der Gedenkstunde im Plenum teil und diskutierten anschließend mit dem Zeitzeugen Cramer und mit dem Bundestagspräsidenten.
Es ist still im vollbesetzten Plenum und auf den Tribünen des Deutschen Bundestages. Bundespräsident Horst Köhler, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesratspräsident Peter Harry Carstensen und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier nehmen gemeinsam mit dem Ehrengast des Tages Ernst Cramer ihre Plätze ein. Ein Streichquartett spielt zum Auftakt das Stück „Carillon“ des Komponisten Karl Amadeus Hartmann. Melancholisch, düster und aufwühlend klingt diese Musik – und entspricht auf besondere Weise dem Anlass der Veranstaltung – wurde doch diese Komposition unter dem nationalsozialistischen Regime als „entartete Kunst“ diffamiert und verboten.
Am 61. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 ist der Deutsche Bundestag im Plenarsaal zusammengekommen, um an diesem zentralen Ort der Demokratie mit einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Zum ersten Mal ist der Tag, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1996 initiierte, auch internationaler Gedenktag der Vereinten Nationen. Mit dabei im Plenarsaal des Bundestages: 80 Jugendliche aus Deutschland, Frankreich und Polen, die der Deutsche Bundestag zur diesjährigen Jugendbegegnung eingeladen hat. Bereits zum zehnten Mal trafen sich junge Menschen auf Einladung des Parlaments, um sich im Rahmen der Jugendbegegnung gemeinsam in Workshops und Diskussionen der Zeit des nationalsozialistischen Terrors anzunähern.
„Nicht nur wir Deutschen bedürfen des Gedenktags“, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Rede. Dies werde deutlich, wenn sogar Staatsoberhäupter wie der iranische Präsident den Holocaust als Märchen bezeichneten und sich zu antisemitischen Äußerungen verstiegen. Der Deutsche Bundestag werde im Erinnern an den millionenfachen Mord des Holocausts „offenen Antisemitismus und Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz anprangern, verurteilen und bekämpfen“, bekräftigt Lammert. „Dass sich Auschwitz nicht wiederholt, ist in unser aller Verantwortung.“
Als Gastredner ist der Publizist Ernst Cramer in den Bundestag gekommen. Der heute 93-Jährige wurde 1938 von den Nazis als deutscher Jude in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Cramer konnte noch im selben Jahr in die USA emigrieren. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder, die in Deutschland geblieben waren, überlebten den Holocaust nicht.
Vom normalen Leben zum Unrecht
„Auschwitz war das größte Desaster der deutschen Geschichte“, sagt Cramer, der sichtlich bewegt am Rednerpult steht. „Tiefer ist Deutschland nie gesunken.“ Als deutscher Jude empfände er demgegenüber doppelte Trauer, denn Deutschtum und Judentum seien für ihn einmal etwas Untrennbares gewesen. Nicht vorstellbar, dass sich daran hätte etwas ändern können. Doch es passierte. „Allzu viele haben weggeschaut“, sagt Cramer. Selbst habe er sich immer wieder gefragt, wie er sich wohl verhalten hätte. „Ich hoffe, ich wäre standhaft geblieben“, sagt Cramer. Doch sicher wisse er das nicht. „Ich warne auch die Nachgeboren. Niemand sollte über andere urteilen, deren Verlockungen er nicht ausgesetzt war.“
Mit einigen der Nachgeborenen suchen Ehrengast Cramer und Bundestagspräsident Lammert im Anschluss an die Gedenkstunde den Dialog: mit den Jugendlichen, die der Deutsche Bundestag anlässlich des Gedenktages zur Jugendbegegnung eingeladen hat. „Wie konnten aus normalen Menschen Massenmörder werden?“, war eine der zentralen Fragen, mit denen sie sich eine Woche lang in Diskussionen und Arbeitsgruppen beschäftigten. Im Rahmen des Workshops suchten sie einen Ort nationalsozialistischer Verbrechen auf: Drei Tage waren sie gemeinsam in der Mahn- und Gedenkstätte am Ort des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, wo heute eine internationale Begegnungsstätte eingerichtet ist.
Am Gedenktag in Berlin wollen sie über die Antworten, die sie sich dort erarbeitet haben, mit Cramer und dem Bundestagspräsidenten diskutieren. „Die Unmenschlichkeit des Einzelnen fängt mit einer falschen Entscheidung an, auf die viele kleine Schritte folgen, die das verschieben, was Normalität ist“, sagt etwa eine junge Frau. Deshalb sei es auch heute wichtig, schon kleine Veränderungen in der Gesellschaft zu registrieren und dagegen die Stimme zu erheben. Cramer ist mit den Jugendlichen einer Meinung: „Passt auf, dass ihr nicht zu Tätern werdet!“, warnt er sie eindringlich. „Der Sprung vom normalen Leben zum Unrecht ist unerhört klein.“
Text: Sandra Schmid
Foto: Deutscher Bundestag
Erschienen am 22. Februar 2006