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Wer ins Breisgau kommt, sieht die Idylle. Die Freiburger Bundestagsabgeordnete Kerstin Andreae kennt auch die Kehrseiten der schönen Medaille. Weil sie gut zuhört.
Die Ziege führt erst mit dem Esel ein Kunststück vor und versucht dann, jemanden auf die Hörner zu nehmen. Der Angriff erfolgt unvermittelt und dafür muss das Tier zurück ins Gatter. Frank Küchlin, der Inhaber des Böttchehofs in Schallstadt- Wolfenweiler, sperrt die Ziege ein und bittet an den Tisch, der mitten auf dem Hof steht. Ringsum auf den Weinbergen liefert sich der Löwenzahn einen harten Wettbewerb mit der Sonne. Eine Postkarte könnte nicht schöner sein. Der Löwenzahn macht das Rennen. Die Weinbauern aber haben Probleme, und über die wollen sie mit der grünen Bundestagsabgeordneten Kerstin Andreae reden. Ihr muss man nicht erst die ganze Welt erklären. Sie kommt von hier, hat hier Kommunalpolitik gemacht und ist in ihrer Bundestagsfraktion kommunalpolitische Sprecherin. Wenn man der jetzt erzählt, wie das so mit der Umsetzung der vom Bundestag beschlossenen Zehn-Prozent-Regelung bei Saisonarbeitskräften in der Praxis läuft, weiß sie, dass die Dinge nicht so einfach liegen.
Die Bauern erzählen ihre Geschichten. Haben gerade alle einen Probelauf gemacht mit jungen Langzeitarbeitslosen, ausgewählt von der zuständigen Arbeitsagentur und von der für geeignet befunden, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Die Hoffnungen waren hoch gesteckt und haben sich nicht erfüllt. Arbeiten auf dem Land ist kein Zuckerschlecken, aber im Weinanbau auch kein Elend. Zumal der Bauer genauso schuftet wie die Hilfskraft. Und noch mehr. Die wenigsten Probanden aber haben durchgehalten und die Bauern sind enttäuscht. Wenn die Arbeit ansteht, brauchen sie Verlässlichkeit – zehn Prozent vorgeschriebene heimische Saisonarbeitskräfte hin oder her. Für vieles bleibt nur wenige Tage Zeit, die Natur gibt keinen Aufschub.
Gespräche mit Praktikern
Kerstin Andreae hört zu und fällt so schnell kein Urteil. Sie fragt nach und geht mit den Weinbauern auf Problemsuche. Nein, eine schnelle Lösung oder Erklärung hat sie nicht. Sie wird mit dem zuständigen Mitarbeiter im Arbeitsamt reden und nachfragen, welche Kriterien bei der Auswahl der Arbeitslosen angelegt wurden. Und sie erklärt, dass es Härtefallregelungen bei den zehn Prozent gibt, die man nutzen sollte, wenn notwendig. Ein praktischer Rat. Bleibt das Problem, warum Langzeitarbeitslose nicht so einfach in die Landwirtschaft zu integrieren sind. Das kommt nicht vom Tisch und das nimmt die Abgeordnete mit.
Die 37-jährige Volkswirtin, Mutter eines sechsjährigen Jungen, sagt, es sei wichtig, als Verbindung, Schnittstelle, Scharnier zu wirken – zwischen Berlin und dem eigenen Wahlkreis. Sie nimmt die Arbeit ernst. Das spüren die Leute, die mit ihr zu tun haben. Kerstin Andreae bereitet sich auf die Gespräche vor, sie hat Fragen und Themen auf ihrem Zettel stehen und sagt am Anfang stets, was ihr Ziel ist und welches ihre Wünsche sind. Sie lässt ihre Gesprächspartner ausreden und schafft eine Atmosphäre der Zugewandtheit und Interessiertheit. Sie macht einen klugen und sympathischen Eindruck, gestikuliert lebhaft, steckt sich oft die Sonnenbrille in die halblangen Haare, lacht gern und scheut sich nicht vor leidenschaftlicher Diskussion.
Und sie hat einen Plan. Der heißt, so oft wie möglich und so regelmäßig wie nötig miteinander reden. Dirk Fischbach, Regionalgeschäftsführer der Barmer Ersatzkasse, und Wolfgang Schweizer, AOK-Geschäftsführer in Baden-Württemberg, wissen das zu schätzen. Zwei Stunden hat sich Kerstin Andreae für das Gespräch mit den beiden Vertretern der Krankenkassen Zeit genommen. „Ich möchte“, sagt sie zu Beginn, „dass wir über Ihre Befürchtungen in Bezug auf die Regierungspläne zur Gesundheitsreform reden, über notwendige Veränderungen im Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Krankenkassen, über Wettbewerb und solidarische Finanzierung, private Krankenversicherungen, Bürgerversicherung oder Gesundheitsprämie.“
Und das macht man auch, ausführlich und ergiebig. Die beiden Praktiker erklären, wie sich ihnen die gegenwärtige Situation darstellt und was notwendig wäre, um ein solidarisches System der Gesundheitsversorgung zu erhalten. Der pragmatische Schritt sei, sagen sie, die privaten Krankenversicherungen in den Risikostrukturausgleich einzubeziehen. Und gerecht wäre es noch dazu. Kerstin Andreae, die Mitglied und Obfrau im Finanzausschuss des Bundestages ist, erzählt von einem Antrag ihrer Fraktion zu Mindestanforderungen an eine Gesundheitsreform. Der scheint ihren Gesprächspartnern praxistauglich zu sein.
Städtisches Wohnen
Man sei, sagen beide Männer zum Schluss, froh über solche Gespräche, die ihnen die Möglichkeit aufmachten, ihre Probleme und Überlegungen an die Politik zu vermitteln. Und für sie sei, sagt die Abgeordnete, das, was sie nun erfahren habe, für ihre Arbeit im Arbeitskreis ihrer Fraktion wichtig. Oft helfen ja die Beispiele aus der Praxis, dem alltäglichen Leben, gut weiter, um über die Sinnhaftigkeit politischer Vorhaben und Projekte zu entscheiden.
Die Praxis. In Freiburg. Einer ganz und gar grünen Stadt mit dem ersten grünen Bürgermeister in einer deutschen Großstadt überhaupt. 200.000 Menschen leben in Freiburg im Breisgau, das die meisten Sonnentage in Deutschland zu verzeichnen hat. 33.000 studieren hier. Die Innenstadt strahlt Idylle aus, ohne behäbig zu wirken. Dafür sorgen solche Stadtteile wie Vauban, ein architektonisches und planerisches Vorzeigeprojekt. Hier lebt es sich vor allem mit Kindern richtig gut und richtig grün. Das Lebensniveau in der Stadt und im Wahlkreis, zu dem noch 19 Gemeinden gehören, ist hoch. Die Schulden, die Preise und die Mieten sind es auch. In der Kommunalpolitik denkt man über den Verkauf der 9.000 städtischen Wohnungen nach. Das macht vielen Menschen Angst. Und damit befasst sich die Abgeordnete bei zwei Terminen.
Im Gespräch mit dem Oberbürgermeister Dieter Salomon geht es um den derzeitigen Diskussionsstand und um eine Sachverständigenanhörung, die die Rathausfraktion von Bündnis 90/Die Grünen durchführen will. Wohnungsverkäufe sind kommunale Angelegenheiten. Kerstin Andreae hat für ihre Fraktion ein Grundsatzpapier zu dem Thema geschrieben. Das versucht abzuwägen und politisch zu bewerten, was langfristig gut ist.
Oberbürgermeister haben nicht allzu viel Zeit. Kerstin Andreae versucht konzentriert, die vier Themen, die auf ihrem Zettel stehen, durchzusprechen: die Wohnungen, der Stadttunnel, Integrations- und Eingliederungshilfen und Möglichkeiten der Veränderung des Bundesleistungsgesetzes. Außerdem ein bald anstehender Kongress der Partei, auf dem der eloquente Dieter Salomon reden soll.
Draußen scheint die Sonne auf den Rathausplatz und drinnen auf den Bürgermeisterschreibtisch. Da kommen die solarbetriebenen Spielereien – ein Flugzeug und ein Windrad – richtig in Fahrt.
Auf dem Rathausplatz ist alles aufgebaut für eine zweistündige Gedenkaktion. Tschernobyl ist sehr nah in diesen Tagen, vor 20 Jahren explodierte der Reaktor. Die Grünen Freiburgs haben ihre Schirme aufgebaut und eine Installation, mit der man durch Knopfdruck von Atomenergie auf Windenergie umschalten kann. Das wäre eine gute Zukunft und die richtige Lehre aus Tschernobyl, sagen sie und viele Menschen, die kommen, geben ihnen Recht.
Kerstin Andreae bleibt zwei Stunden auf dem Rathausplatz, verteilt Flyer und redet mit den Menschen. Natürlich kennt man sie, die Bundestagsabgeordnete, und natürlich hat man vieles auf dem Herzen. Die Parteiarbeit, die Stadt, das Leben, die Wohnungen, die Finanzen, das Wetter, der Tunnel, die Arbeitslosigkeit, die Touristen, der Wein, die Berliner da und die Freiburger hier. Zwei Stunden sind kurz, rings um Freiburg türmen sich die Wolken, auf den Rathausplatz scheint weiterhin die Sonne, als hätten die Grünen sie als zuverlässige Energiequelle gebucht für diesen Tag.
Die Wohnungen und das Leben beschäftigen die Abgeordnete am Nachmittag in ihrem Büro noch heftig. Sprechstunde für Bürgerinnen und Bürger ist angekündigt und die haben sich angemeldet und gesagt, worüber sie reden wollen.
Über die Post, erklärt der erste Besucher, und darüber, wie die Grünen überhaupt zu Privatisierungen stehen. Georg Berberig arbeitet in einem Briefzentrum und er hat eine Menge Fragen. Er möchte auch das vollständige Papier „Grüne Wirtschaftspolitik“ haben und er freut sich, als Kerstin Andreae anbietet, ins Briefzentrum zu kommen und auch in den lokalen grünen Arbeitskreis, wo man noch einmal ausführlich über Wirtschaftspolitik, Privatisierung und Wettbewerb reden kann. Abgemacht also.
Ängste der Bürger
Vier Menschen haben sich angemeldet, um über die städtischen Wohnungen zu reden. Sie kommen mit Befürchtungen und Ängsten, Enttäuschung und Hoffnung. Sie sind im Mieterbeirat oder im Stadtteilbüro organisiert und wehren sich gegen einen möglichen Verkauf der Wohnungen.
Die anderthalb Stunden verlaufen stürmisch, die Abgeordnete hat eine schwierige Aufgabe. Als Bundespolitikerin kann und will sie sich nicht in kommunale Belange und Entscheidungen einmischen. Aber es ist ihre Stadt, ihr Wahlkreis, ihr grüner Bürgermeister und ihr Wunsch, dass die Menschen erstens keine Angst haben und zweitens so viele Fakten und Argumente wie möglich kennen, um keine Angst zu haben. „Man sollte sich erst wirklich klug machen“, sagt sie, „alle Aspekte kennen, hören, wie es andere gemacht haben und wie sie damit gefahren sind. Man muss akzeptieren, dass die Stadt Freiburg bei jährlich 16 Millionen Euro Zinslast etwas tun muss und dass die Möglichkeiten, etwas zu tun, endlich sind.“
„Ja“, sagen die Bürgerinnen und Bürger, „aber unsere Angst bleibt trotzdem. Wir wollen auch, dass die 70 Schulen endlich saniert werden. Aber nicht auf Kosten der sozial Schwachen, die dann vielleicht ihre Mieten nicht mehr bezahlen können.“
Die Abgeordnete müht sich, sie spielt nichts runter und redet nichts klein. Aber Geduld und Vertrauen, die sie erbittet und fordert, sind rares Gut. Man hofft, ist sich aber nicht sicher, ob es dafür eine Grundlage gibt.
Kerstin Andreae schaltet nach solchen Terminen nicht ab und weg. Sagt sie, und das ist glaubhaft. Sie scheint eine Lernende mit viel Erfahrung zu sein. Eine Erfahrene, die nicht aufhört zu lernen. Liegt an ihr. Und passt zu Freiburg.
Text: Kathrin Gerlof
Foto: studio kohlmeier
Erschienen am 6. Juni 2006
Kerstin Andreae (Bündnis 90/Die
Grünen):
E-Mail:
kerstin.andreae@bundestag.de
Webseite:
www.kerstin-andreae.de
Webseite:
www.freiburg.de
Webseite:
www.breisgau-hochschwarzwald.de