> Parlament > Rollenwechsel im Bundestag
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Wenn der Wähler gesprochen hat, geht beim Bundestag alles auf Anfang. Immer ändert sich die Zusammensetzung, meistens das Kräfteverhältnis, und manchmal verändert sich noch viel mehr. Die Wählerinnen und Wähler sorgen für sichtbaren Wandel. So auch dieses Mal. Minister verlassen die Regierungsbank und werden „Hinterbänkler“, eine Oppositionsfraktion wird zur stärksten Kraft, ein ehemaliger Vizepräsident wird Präsident des Deutschen Bundestages. Zudem sind Abgeordnete ins Parlament eingezogen, die vorher beruflich auf ganz anderen Feldern jenseits der Politik aktiv waren. Der neue Bundestag startet unter dem Vorzeichen des Rollenwechsels.
Schon die erste, die konstituierende Sitzung des neu gewählten Bundestages lässt die Veränderung deutlich werden. Der noch amtierende Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) steuert nicht die Regierungsbank an, wo er sieben Jahre gesessen hat, nicht die ersten Reihen seiner Fraktion, von wo er zuvor viele Jahre Politik gemacht hatte, er setzt sich in die letzte Reihe. Vom Vizekanzler zum viel zitierten „Hinterbänkler“. Krasser kann sich ein Rollenwechsel optisch kaum ausdrücken.
Zudem führen die neuen Mehrheitsverhältnisse zum Rollentausch. Da die Wähler die Unionsfraktion dieses Mal stärker als die SPD-Fraktion gemacht haben, stellt die Union auch den Bundestagspräsidenten. Norbert Lammert (CDU/CSU), bislang Vizepräsident, wird Präsident. Wolfgang Thierse (SPD), bislang Präsident, wird Vizepräsident. Das heißt Kontinuität und Wandel zugleich.
Rollentausch auch bei den Fraktionen: Schon früh zeichnet sich ab, dass es auf eine große Koalition hinauslaufen wird. Dass die Union von der Oppositions- auf die Regierungsbank wechselt. Das bedeutet: Die FDP ist nun nicht mehr die kleine, sondern die größte Oppositionsfraktion. Nach parlamentarischem Brauch wird ihr somit der Vorsitz im wichtigen Haushaltsausschuss zugestanden. In jenem Gremium also, das in ganz besonderer Weise die Kontrolle des Regierungshandelns durch das Parlament zum Ausdruck bringt.
Die neue Zusammensetzung des Bundestages bedeutet auf den zweiten Blick viel, viel mehr, als die veränderte Sitzordnung, der Einzug einer fünften Fraktion und die gewandelten Zahlen bei den anderen vermuten lassen. Der Bundestag ist eben nicht nur von 601 auf 614 Abgeordnete angewachsen, die Linkspartei.PDS nicht nur von zwei fraktionslosen Abgeordneten auf 54 Fraktionsmitglieder angestiegen, die FDP hat nicht nur 14 Mandate hinzugewonnen, die SPD nicht nur 27, die Union nicht nur 21 und Bündnis 90/Die Grünen nicht nur vier Abgeordnete verloren. Dahinter verbirgt sich ein weit reichender Wechsel in der Zusammensetzung: Mehr als 160 Abgeordnete sind neu in den Bundestag eingezogen – 142 von ihnen übernehmen zum allerersten Mal ein Bundestagsmandat.
Für jeden Einzelnen sind möglichst schnell Mitarbeiter, Büroräume, Technik zu besorgen, damit er arbeiten und seinen Auftrag wahrnehmen kann. Eine logistische Herausforderung ersten Ranges. Denn natürlich sollen die Mitglieder der einzelnen Fraktion im räumlichen Zusammenhang untergebracht sein. Der Wechsel der Rollen bringt es zudem mit sich, dass Bündnis 90/Die Grünen als Oppositionsfraktion mehr Mitarbeiter zustehen, die Union als Regierungsfraktion im Vergleich mit den Verhältnissen vor der Wahl mit weniger Personal auskommen muss.
Die Herkulesaufgabe der Umorganisation läuft geräuschlos im Hintergrund ab. Und auch von den Einschnitten ins Leben bei vielen Neulingen erfährt die öffentlichkeit kaum. Dabei nimmt auch dieser persönliche Rollenwechsel in der Empfindung oft große Dimensionen an. Elisabeth Scharfenberg, neu gewählte Abgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen, beschreibt die irgendwie unwirklich scheinende Situation am Morgen vor der ersten Bundestagssitzung, als sie in der Küche ihrer neuen Berliner Wohnung saß, einen Kaffee trank und sich erst bewusst machen musste, was nun passieren würde. „Machst du alles richtig? Gehst du im richtigen Moment an den richtigen Ort?“ Aber die innerliche Aufregung legte sich schnell: „Wenn sich dieser ganze Strom in Bewegung setzt, dann funktioniert das auch.“
Wie der Bundestag von innen ist, das hat die freiberufliche Berufsbetreuerin aus Oberfranken überrascht: „Dieser ganze Apparat, das ging über meine Vorstellungskraft hinaus.“ Aber die Eingewöhnung fiel leicht. „Ich habe das Gefühl, dass ich mich relativ schnell in die Strukturen einfinde.“ Die Aufnahme in der Fraktion, die Hilfestellungen, ganz einfach Orientierung: „Das braucht man, und das bekommt man.“ Und ihr persönlicher Rollentausch? „Im Moment habe ich das Gefühl, dass mein altes Leben so ein bisschen abgewickelt wird.“ Kein abrupter Bruch. Als Freiberuflerin gehen die Mails, die Briefe, die Telefonate wie gewohnt bei ihr ein, müssen parallel zum Eingewöhnen ins neue Leben bearbeitet werden. „Es geht nicht, dass ich einfach irgendwo ,Tschüß’ sage.“
Mit Abschiednehmen ist auch Johann-Henrich Krummacher in diesen Tagen beschäftigt. Der evangelische Pfarrer ist für die CDU/CSU in den Bundestag eingezogen. Dienstwohnung aufgeben, den Direktorenschreibtisch der Evangelischen Akademie in Bad Boll räumen, ein neues Büro in Berlin aufbauen. Viel Organisatorisches bedeutet für ihn der Rollenwechsel. Umso mehr freute er sich, dass der Bundestag an den Anfang seiner Arbeit einen ökumenischen Gottesdienst stellte: „Das zeigte, dass die Politik nur in einem begrenzten Umfang tätig werden kann und wir auch mit einer gewissen Demut an das Geschäft herangehen sollen.“
Weil er zuvor schon viele Jahre in der Politikbegleitung tätig war, hatte er eine relativ klare Vorstellung von den Abläufen. Doch nun fällt ihm auf, dass die Prozesse, die man sonst nur von außen wahrnimmt, im Inneren doch sehr viel Zeit beanspruchen. Er hat für seine Partei in Oppositionszeiten kandidiert, nun wurde er in eine Regierungsfraktion gewählt – wie spürt er diesen doppelten Rollenwechsel? Ihm fallen die ersten Fraktionssitzungen ein, mit Themen, bei denen es um Leben und Tod ging, etwa um den Anti-Terror-Einsatz der Bundeswehr „Enduring Freedom“. Krummacher: „Ich denke, da ist das Gewissen eines Abgeordneten gefragt.“ Seine neue Aufgabe hätte er nicht angetreten, wenn seine Frau und seine Kinder dies nicht mitgetragen hätten. „Mittragen“ hört sich in Neudeutsch freilich viel krasser an: Den Rollentausch des Vaters fänden die Söhne einfach nur „affengeil“.
Wie er den Rollenwechsel erlebt hat? „Ich wechsele noch“, sagt Konrad Schily, der für die FDP in den Bundestag neu einzog und von seinem Bruder, dem langjährigen Innenminister Otto Schily als Alterspräsident in der Eröffnungsrede des Bundestages als „junges Nachwuchstalent“ persönlich begrüßt worden war. Und zwar als einer, „der im jugendlichen Alter von 67 Jahren eine hoffnungsvolle politische Karriere beginnt“. Das Sitzungsprotokoll vermerkt „Heiterkeit und Beifall“. Der Angesprochene im Nachhinein: „Ich wurde Gegenstand eines Gags – das war ja nicht ich, denn so rollengewechselt bin ich noch nicht, dass ich das verwechseln könnte.“
Schily fühlt sich derzeit an die Semestereröffnung in Basel erinnert, als er vor vielen Jahren sein Studium begann. Auch damals mit Gottesdienst, auch damals wusste man nicht so genau, wo es hingehen würde. Und wie damals hat Schily auch jetzt geschaut, wo die erfahrenen Kollegen hingehen. Vieles sei gewöhnungsbedürftig. Etwa herauszufinden, welche von den vielen Papieren wichtig sind. Der langjährige Universitätschef in Witten-Herdecke entdeckt „eine andere Art zu
denken“ in seiner neuen Rolle: Man versuche ständig, das Besondere ins Allgemeine zu bringen. Und wie empfindet er nun den Parlamentsbetrieb, den er bislang nur aus den Berichten seines Bruders kannte? Schily antwortet mit einem Erlebnis: „Ein Vetter hat mir mal einen Film so spannend erzählt, dass ich auch ins Kino gerannt bin, um ihn mir anzuschauen. Anschließend wusste ich: Schade, die Schilderung war viel besser.“
Er ist Autor, Liedermacher – und nun Abgeordneter. Aber Jörg-Diether Dehm-Desoi, der für die Die Linke. in den Bundestag einzog, hat noch einen weiteren Vergleich. Vor mehr als einem Jahrzehnt kam er schon einmal ins Parlament, als SPD-Abgeordneter. Der Rollenwechsel jetzt ist für ihn jedoch völlig anders: „Damals bin ich in fertige Strukturen nachgerückt, diesmal fange ich sozusagen freihändig an.“ Noch ist sich Dehm nicht sicher, ob der Rollenwechsel gelingt, ja, ob er ihn so radikal überhaupt will.
Die meisten Künstler vor ihm hätten es im Bundestag nicht so lange durchgehalten. Seine Vermutung: Die Politik verhunze die Sprache, lasse Künstlern nicht genügend Raum zur Entfaltung. Dehm nimmt sich deshalb vor, für sich selbst „energische Grenzlinien zu ziehen“. Dehm will „durchhalten“ und gleichzeitig künstlerisch tätig sein, etwa weiterhin gemeinsam mit „Tatort-Kommissar“ Peter Sodann und Liedermacher Konstantin Wecker an monatlichen Literaturproduktionen für Hörbücher und Radiostationen arbeiten. Und den Roman über die Innenansichten der Sozialdemokratie anhand einer Liebesgeschichte will er auch fertig bekommen. „Für mich ist das Schreiben auch eine gewisse therapeutische Schutzmaßnahme gegen bestimmte Formen des Parteichinesisch.“
Auch Karl Lauterbach, der für die SPD in den Bundestag eingezogen ist, möchte an seinem Beruf festhalten. Im Parlament gebe es sicher nicht zu wenig Exwissenschaftler, aber zu wenig aktive Wissenschaftler. Der Professor will weiter über Gesundheitsökonomie und Epidemiologie forschen. Ein gedämpfter Rollentausch also. Zumal er als Politikberater oft schon in Ausschusssälen bei Anhörungen gesessen hat – allerdings „auf der anderen Seite des Tisches“. Seine ersten Eindrücke? „Ich bin überrascht, wie viel Zeit Organisations- und Personaldiskussionen beanspruchen.“ Man müsse darauf achten, nicht in Stellungskriege hineingezogen zu werden und stattdessen mehr über Inhalte sprechen.
Aber das sei das Einzige, das ihm negativ aufgefallen sei. Die Prophezeiung, Seiteneinsteiger wie er hätten es schwerer, habe er nicht bestätigt gefunden. Kollegial und in guter Atmosphäre sei er aufgenommen worden. Als besondere Herausforderung sieht er seine Absicht, sich mehr in der Parteipolitik zu engagieren. Diese Freiräume könne er sich jedoch nur schaffen, „wenn ich mich nicht zu sehr verschleiße in Funktionen, die ich erst mal lernen müsste“. Bedeutet es eine Umstellung für einen Professor, einen Wahlkreis zu betreuen? Lauterbach beschreibt das „Glück“, einen Wahlkreis in unmittelbarer Nähe bekommen und diesen auch direkt gewonnen zu haben. Er „genieße“ ihn als ein „Stück Heimat“ und fühle sich als direkt gewählter Repräsentant besser, als wenn der den Einzug über die Liste geschafft hätte. Der Wahlkreis sei „Bereicherung und Verantwortung“.
Rollenwechsel – mal schneller, mal langsamer, mal radikal und mal begrenzt. Aber niemand bereut „die Rolle vorwärts“ ins Parlament. Alle freuen sich auf eine „spannende Zeit“.
Text: Gregor Mayntz
Fotos: Deutscher Bundestag, Picture-Alliance, Photothek
Erschienen am 01. Dezember 2005